Aus eingespielten Routinen und pastoralen Blickverengungen aussteigen

Wie wird Kirchenentwicklung möglich statt immer in den Spuren zu handeln, wie man es gelernt hat? Für Michael N. Ebertz und Janka Stürner-Höld ist sie nur dann aussichtsreich, wenn man den Habitus der kirchlichen Akteure mit in die Analyse einbezieht. Christoph Gellner stellt ihr Plädoyer für den notwendigen Wandel des pastoralen Habitus und die Transformation des pastoralen Feldes vor – beides gehört zusammen.

 

Im Rahmen von Kirchenentwicklungsprozessen scheint den im pastoralen Feld Tätigen zwar einiges möglich, vieles aber auch nicht. Bei der Auswertung von mehr als 200 Pastoralberichten aus der Diözese Rottenburg-Stuttgart stiessen Michael Ebertz und Janka Stürner-Höld auf Schranken im Denken und Handeln der beteiligten hauptamtlichen und freiwilligen Akteur:innen. Zur Erklärung dieser eigentümlichen Unbeweglichkeit griffen sie auf das Habitus-Konzept des französischen Soziologen Pierre Bordieu zurück, das von Angewohnheiten und eingeübten Lebensweisen ausgeht, die uns wie die Sprache «in Fleisch und Blut übergangen» sind und nicht weiter reflektiert werden.

 

Licht und Schatten

Der Habitus ist immer ein Sozialisationsprodukt, Ergebnis der Verinnerlichung des Sozialen, eine Art Einverleibung gesellschaftlicher Konventionen, ja, so etwas wie ein innerer Aufbewahrungsort von erlebter Geschichte und Erfahrung – mehr noch: ein bestimmter point of view, von dem aus die Welt betrachtet wird, gedacht wird, bezeichnet wird und bearbeitet wird. Dieser soziale Standort wirkt dann wie eine Art Filter des Denkens, Wahrnehmens und Verhaltens, des Geschmacks – Vorlieben für bestimmte Musikstile etwa oder Automarken, die alltagsästhetischen Präferenzen, die wir gelernt haben als Milieu-Indikatoren bestimmten religiösen und kirchlichen Orientierungen zuzuweisen.

Konkret geht es um feldspezifische Dispositionen eines bestimmten beruflichen Handlungsfelds: Akteur:innen, die die Regeln eines solchen Felds als erfahrene Praxis verinnerlicht haben, bestehen in erheblichem Masse aus diesen Vor-Erfahrungen. Im kirchlichen Raum lässt dieser pastorale Habitus eine ganz bestimmte Weise des Denkens, Wahrnehmens, Kommunizierens und Handelns entstehen. Damit ist die Neigung verbunden, andere Weisen des Denkens, Wahrnehmens, Kommunizierens und Handelns auszuschliessen – scheinbar ganz selbstverständlich, fraglos und absichtslos: «Ein Habitus rückt etwas ins Licht und wirft seinen Schatten – das im Dunkeln sieht man dann nicht.»

Paradox zugespitzt: Der Habitus ist eine ganz zentrale Voraussetzung, um sich auf einem spezifischen Praxisfeld erfolgreich bewegen zu können; zugleich ist er ein «System von Grenzen», welche den Spielraum des Verhaltens einengen. Das aber heisst: Gewohnheit bestimmt massgeblich die Ordnung eines bestimmten sozialen Feldes und befördert eine gewisse Trägheit des Habitus. Deshalb fällt es den Akteur:innen auch so schwer, umzudenken, umzulernen bzw. zu verlernen oder zu entlernen.

 

Kämpfe im pastoralen Feld

«Das pastorale Feld ist ein Feld in Feldern», verdeutlichen Ebertz und Stürner-Höld: innerhalb des religiösen, des christlichen und des katholisch-kirchlichen Feldes. Das religiöse bzw. das kirchlich-pastorale Feld sind nicht nur wandelbar, sondern dynamisch, sie resultieren aus Kämpfen und sind umkämpft: «Jedes Feld ist auch eine Arena der Auseinandersetzung, in der mehr oder weniger offensichtlich ‘darum gekämpft wird, was eine legitime Praxis des Feldes ist und wer überhaupt entscheiden darf, was legitime Praxis im Feld ist’», zitieren sie den Soziologen André Armbruster.

Diese Grenzziehungskämpfe berühren alle Bereiche der Praxis des pastoralen Felds: die Frauenfrage, die Zölibatsfrage, die Sakramentsspendungs- bzw. Weihefrage, die Segens-, die Machtfrage oder die ?-frage sind «nur die an die Oberfläche geratenen Themen der Herausforderungen dessen, was gern euphemistisch ‘Kirchenentwicklung’ genannt wird». Die Debatten darüber sind, erläutern Ebertz und Stürner-Höld die aktuelle Kirchensituation, «Zeugnisse des Kampfes, aber auch der Transformation des pastoralen Felds, bei der bestimmte, bislang geltende Regeln infrage gestellt werden».

In den gegenwärtigen Pastoral- bzw. Kirchenentwicklungsprozessen werden Spannungen ganz eigener Art sichtbar: Spannungen zwischen institutionellen Vorgaben und organisationalen Entscheidungen. «Kirchenentwicklungsprozesse verändern die pastorale Betriebsstrukturen (z.B. grössere pastorale Räume aus Priestermangel), ohne dass sich die kirchenrechtlich normierten und theologisch als unveränderlich, weil göttlich vorgegeben legitimierten institutionellen Strukturen (z.B. die Priesterweihe für Männer) verändern dürfen.» Aktuelle Kirchenentwicklungsprozesse sind daher «grundiert von dem fortwährenden Legitimitätskonflikt, ob und inwiefern die behauptete institutionelle Unverfügbarkeit der Definition und Verteilung der religiösen Autorität (z.B. dass diese nur zolibatären, geweihten Männern vorbehalten ist) nicht doch entscheidbar wäre, und zwar so entscheidbar, dass die kirchengemeindlichen pastoralen Organisationsstrukturen (z.B. die Grösse der pastoralen Räume) nicht – oder nur in einem begrenzten Ausmass – verändert werden müssten.»

 

Elemente des pastoralen Habitus

Für einen praktischen Selbsttest listet Kapitel 5 Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmuster auf, die idealtypisch der pastoralen Praxis latent zugrunde liegen und ihre Entwicklung leiten bzw. blockieren. Unter Orientierungsschemata verstehen Ebertz und Stürner-Höld ausdrücklich kommunizierte Glaubenssätze wie «Kirche für alle» (faktisch werden nur drei schrumpfende Milieus erreicht: Traditionsverwurzelte, Konservative, z. T. bürgerliche Mitte und Postmaterielle), «Familie als Keimzelle des Glaubens» (faktisch wird die Nachwuchskirche zum Auslaufmodell: Familien sind immer seltener (Re-) Produktionsorte des Religiösen), «Liturgie im Zentrum» (die Statistik weist einen deutlichen Rückgang der Gottesdienstbesuchszahlen und der Nachfrage nach Kasualien aus) oder «Kirche in Gemeinschaft» (faktisch schrumpft der Anteil derjenigen, die zur (inter-) aktiven Pfarrei zählen, das Wachstum(-spotential) anderer kirchlicher Angebote wird übersehen).

Es gibt aber auch stillschweigende Präferenzen, die gerade weil sie unter der Schwelle des von den Akteur:innen Wahrgenommenen bleiben, als implizite Gewissheiten bzw. beharrende Denkzwänge kaum über bereits adressierte Zielgruppen hinaus führen. Dazu zählen Ebertz und Stürner-Höld die Präferenz für «Normallebensläufe» und «Familialismus», für «Wiederholung» bzw. Dauerhaftes, für «Territorialität», «Wohnsitzorientierung» und überschaubar-personale «Gruppenorientierung», «Priester-« bzw. «Gemeindezentrierung» – und kritisieren daran primär das Gefangensein in der eingespurten Perspektive, was pastorale Blick- oder Richtungswechsel hin zur Diversität heutiger Lebenslagen, zu posttraditionalen neuen Vergemeinschaftsformen, Dienstleistungsvorstellungen rund um Kirche oder Gelegenheitsstrukturen für neue Freiwillige erschwert oder verunmöglicht.

 

Anregungen zur Modifikation des eingespielten Habitus

Man kann nicht behaupten, eine Organisation mit einem Lebensalter von fast 200 Jahren wie die Kirche besässe keine Lernfähigkeit. Doch heute steht der Erfolg des Lernens in der Vergangenheit paradoxerweise einem neuen und radikaleren Lernen im Wege, so der Soziologe Leo Laeyendecker. Wie kann das Veränderungs- und Innovationspotenzial erschlossen werden, aus dem eingespielten pastoralen Agieren mit seinen routinierten Blickverengungen auszusteigen?

  • Eine, wenn nicht die Voraussetzung zur Veränderung des pastoralen Habitus ist die Bereitschaft, die bisherige pastorale Praxis zu hinterfragen. Dabei sehen Ebertz und Stürner-Höld angesichts der Auflösung des bisher durch die Kirche dominierten religiösen Feldes hin zu anderen Feldern eine zunehmende Ratlosigkeit unter den Akteur:innen des pastoralen Feldes, wie die heutigen Grenzerfahrungen pastoraler Wirksamkeit zu überwinden sind – knapper werdende Ressourcen (Personal, Geld, Zeit, gesellschaftliche Anerkennung) sowie Erschöpfungs- und Krisensignale wie die immer geringere Nachfrage nach den überkommenen Heilsgütern (Krise der Liturgie, Krise der Sakramente, Krise der kirchlichen Sprache …).
  • Das grösste Hemmnis, Elemente des pastoralen Habitus kritisch zur Kenntnis zu nehmen, dürfte nach Ebertz und Stürner-Höld von einem Verständnis des Religiösen herrühren, das Religion als festes, traditionales Regelwerk Kaum zufällig dominieren unter freiwillig Engagierten in der Kirche Menschen, die den Milieus der «Traditionellen» bzw. der «Bürgerlichen Mitte» zugehören; eine solche Milieuverengung gibt es auch im hauptamtlichen kirchlichen Personal.
  • Sehen und Erleben: Zur Bewusstmachung der Prägungen des Habitus (=Milieu) empfiehlt sich die Aufstellung auf der Milieulandkare und eine Reflexion, mit welchen Milieus man/frau (nicht) in Kontakt kommt und/oder gerne in Beziehung treten würde. Zudem werben die beiden Autor:innen für pastorale Intervision, kollegiale Beobachtung, Selbstbeobachtung durch Fremdbeobachtung, etwa den Beizug von Vertreter:innen anderer (nicht-) religiöser Felder und Milieus, um sich von aussen anfragen zu lassen und attraktive Innovationen anderer Feldern in den Blick zu nehmen.
  • Handeln: Für eine Habitusveränderung braucht es kleine und grosse pastorale Laboratorien. Variationen des Feldes können im Kleinen beginnen, dann weiter ausgreifen und den gesamten pastoralen Raum neu strukturieren. Im Kleinen lassen sich z.B. Kontakte zu bestimmten Personen und Gruppen minimieren, die mit ihren Erwartungen auf Bestätigung des status quo aus sind. Beispielhaft führen Ebertz und Stürner-Höld Variationen in (Kirchen-) Gebäuden, im Territorium, Variationen der Feldgrenzen oder in ‘fremden’ Feldern sowie Variationen durch Vernetzung aus.

Deutlich wird auf diese Weise: Wenn, wie Bourdieu betont, eingespielte Haltung, inkorporierter Habitus und strukturiertes Feld in einem Wechselverhältnis stehen, ja, sich gegenseitig bedingen, müssen auch die Transformationen des pastoralen Habitus immer zusammen mit Transformationen des pastoralen Feldes gedacht werden.

 

Michael N. Ebertz/Janka Stürner-Höld: Eingespielt – Ausgespielt! Vom notwendigen Wandel des Pastoralen Habitus in der Kirche. Matthias Grünewald Verlag 2022, 167 Seiten.

Auf dem Weg zu einer interkulturellen Pastoral

 

Vor einem Jahr, am 14. Dezember 2020, haben die Schweizer Bischofskonferenz und die Römisch-katholische Zentralkonferenz mit der Broschüre «Auf dem Weg zu einer interkulturellen Pastoral» ein Gesamtkonzept für die Migrationspastoral vorgelegt. Dorothee Foitzik gibt einen Einblick in die Grundsätze.

Die Grundsätze der Handreichung geben die Richtung an, im Folgenden werden Leitsätze, Massnahmen und Empfehlungen für die verschiedenen Ebenen und beteiligten Gruppen entfaltet.

Zuwanderung, kulturelle und religiöse Vielfalt werden in Teilen der Gesellschaft als bedrohlich und als nachteilig für das Zusammenleben und den Wohlstand in der Schweiz erachtet. Die damit verbundenen Fragen können in Gesellschaft und Kirche zu Konflikten führen. Eine glaubwürdige Migrationspastoral setzt voraus, dass die katholische Kirche sich für konstruktive Suche nach Konfliktlösungen einsetzt und dabei auf die Chancen und die Bereicherung der Zuwanderung aufmerksam macht – auch mit Blick auf die Wirtschaft, das Gesundheitswesen und andere Lebensbereiche.

 

Kirche in einer postmigrantischen Gesellschaft

Angesichts der Tatsache, dass Mobilität, Migration, kultureller und religiöser Pluralismus die Gesellschaft und die katholische Kirche in der Schweiz dauerhaft prägen, gewinnt das Verständnis der Einheit der Kirche als «Gemeinschaft in Vielfalt» neue Bedeutung. Jedwede Pastoral ist herausgefordert, den unterschiedlichen Voraussetzungen und Bedürfnissen von einzelnen Menschen, Gemeinschaften und Zielgruppen gerecht zu werden. Mit ihren kulturellen, sprachlichen, religiösen und spirituellen Prägungen sollen sie ihre eigene Identität als glaubende, hoffende und liebende Menschen pflegen und entwickeln und sich auch in die Gemeinschaften und das kirchliche Leben einbringen und es bereichern.

 

Lernchancen für alle

Im verstärkten Miteinander und bewussten und wertschätzenden Nebeneinander hat die Begegnung auf Augen- höhe und das gegenseitige «Voneinander-Lernen» einen hohen Stellenwert. Menschen, die ihre gewohnte Umgebung verlassen haben oder verlassen mussten, sind damit ein hohes Wagnis eingegangen. Sie bezeugen, dass das Leben wertvoll, aber auch verletzlich ist und dass es notwendig sein kann, etwas aufs Spiel zu setzen, zu riskieren, Grenzen zu überwinden. Gleichzeitig können Menschen, die in ihrer Lebenswelt verwurzelt sind, für Stabilität und Zusammenhalt sorgen, Voraussetzungen für eine gleichzeitig offene und solidarische Gemeinschaft schaffen. Sie bezeugen, dass Zusammenleben nur gelingen kann, wo Menschen aufeinander Rücksicht nehmen, mit dem Gewachsenen respektvoll umgehen und bereit sind, sich in ein grösseres Ganzes einzufügen.

Ob Zugezogene oder Ortsansässige – alle bilden durch die eine und gemeinsame Taufe die katholische Kirche in der Schweiz und begegnen sich gegenseitig mit Achtung und Respekt. Unterschiede bereichern und beleben. Wo sie zu Spannungen führen, werden diese ernst genommen. Begegnungen und Zusammenarbeit sind von gegenseitigem Interesse und einer positiven und lösungsorientierten Kritik- und Streitkultur geprägt.

 

Die sprachliche und kulturelle Vielfalt zu berücksichtigen ist eine Querschnittsaufgabe

Die Unterscheidung zwischen herkömmlicher Pfarreiseelsorge und Seelsorge für Migrantinnen und Migranten wird den heutigen Realitäten nur teilweise gerecht, die Grenzen und Übergänge sind mancherorts fliessender geworden. Auch in den herkömmlichen Pastoralstrukturen arbeiten Seelsorgende mit einer Migrationsgeschichte – und manche Seelsorgende arbeiten gleichzeitig in einer Sprachgemeinschaft und in einer Pfarrei oder einem Pastoralraum. Die Migrationspastoral ist damit Thema aller, die in der Kirche Mitverantwortung tragen, ob sie nun in herkömmlichen Pastoralstrukturen, in Sprachgemeinschaften oder in weiteren kirchlichen Kontexten tätig sind.

 

Teilhabe, Wertschätzung und Lösungsorientierung

Die sprachliche und kulturelle Vielfalt sowie die unterschiedlichen religiösen und spirituellen Prägungen sind bei allen pastoralen, organisatorischen und finanziellen Planungen und Entscheidungen sowie im pastoralen Alltag angemessen zu berücksichtigen. Migrationsbezogene Bedürfnisse werden wahrgenommen und berücksichtigt, bestehende Angebote migrationssensibel gestaltet. Die Gläubigen werden von Anfang an aktiv miteinbezogen, die Zusammenarbeit ist von Teilhabe, Wertschätzung und Lösungsorientierung geprägt.

Alle Kirchenmitglieder leisten ihren materiellen Beitrag zur Finanzierung des kirchlichen Lebens. Dementsprechend ist auch den pastoralen Bedürfnissen der Kirchenmitglieder mit Migrationshintergrund angemessen Rechnung zu tragen. Der Einsatz der finanziellen Mittel erfolgt gerecht, trägt dem verstärkten Miteinander Rechnung und berücksichtigt, dass die Grenzen zwischen der Finanzierung der Migrationspastoral und jener der übrigen pastoralen Aufgaben fliessender werden. Zudem braucht es Mittel für übergreifende Vorhaben, die das Miteinander fördern, sei es für Aus- und Weiterbildung, Sensibilisierung oder mehrsprachige pastorale Vorhaben. Dabei ist den unterschiedlichen finanziellen Rahmenbedingungen je nach Kanton und den Gemeinde Rechnung zu tragen.

 

Spezifische Angebote der Migrationspastoral

Spezifische Angebote der Migrationspastoral sollen dem Subsidiaritätsprinzip folgend auf der Ebene angesiedelt werden, auf der sie sinnvoll umgesetzt werden können; dies unter Berücksichtigung der notwendigen Einbindung in ein grösseres Ganzes. Die Situation vor Ort soll für die Wahl von Modellen für die Organisation der Pastoral ausschlaggebend sein. Die auf den verschiedenen Ebenen für pastorale Strukturen, Finanzen und Organisation zuständigen Verantwortungsträger arbeiten transparent und pragmatisch zusammen.

 

Pastorale und diakonische Angebote für besonders verletzliche Gruppen

Der Bereitstellung pastoraler und diakonischer Angebote für besonders verletzliche Gruppen unter den Migrant- innen und Migranten wird besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Dazu gehören jene, für die es besonders schwierig ist, in der Schweiz Fuss zu fassen: Angehörige von Sprachgemeinschaften, die neu ankommen und keine seelsorgerlichen Angebote in ihrer Sprache und Kultur vorfinden, Geflüchtete, Vertriebene und Migrant/innen in der Nothilfe und ohne geregelten Aufenthalt oder in Aufnahme- und Rückkehrzentren. Die vorrangige Orientierung an den Bedürfnissen der besonders Verletzlichen ist auch beim Einsatz der für die Migrationspastoral bestimmten Ressourcen zu beachten.

 

Im Rahmen der Weiterbildung «Pastoral in einer Kirche der Vielfalt» des TBI werden einzelne Aspekte der Handreichung von SBK und RKZ wissenschaftsbasiert und praxisorientiertausgeleuchtet und konkrete Aufgaben  bearbeitet, die sich für Pastoral, Katechese, Diakonie und Bildungsarbeit daraus ergeben.

Auf Weihnachten zu 2021

 

Vier inspirierende Texte aus dem neuen Band mit geistlicher Lyrik des Priesterpoeten Andreas Knapp (*1958) «Mit Pauke und Salböl. Gedichte zu Frauen der Bibel» (Echter: Würzburg 2021) mögen Sie begleiten durch die Tage und Nächte bis zum Christfest und darüber hinaus:

 

des engels botschaft

 

vorgeburtlich schon

ist furcht uns eingewoben

bis unter die herzhaut

 

in unsern stärksten stunden

ein zittern bleibt

im binnenraum

 

die bergendsten arme

bewahren uns nicht

vor der kälte der angst

 

wir können nicht leben

ohne den wärmenden hauch

fürchte dich nicht

 

 

unterwegs zum kind

 

eine junge frau

traut dem geflügelten wort

wird empfänglich für das unbegreifliche

mit den augen eines kindes

 

ein mann voller pläne

die im traum schon zerbrechen

verzichtet auf begreifen

vertrauensselig wie ein kind

 

hirten in nachtbereitschaft

melodie liegt in der luft

noch ergreifender

als ein lied aus kindertagen

 

himmelsgelehrte aus dem orient

tausend und eine nacht lang

greifen sie schon nach den sternen

knien ergriffen vor einem kind

 

 

magnificat

 

meine seele preist die grösse dessen

der sich ganz klein machen kann

und mein körper bebt vor freude

über meinen so umwerfenden gott

 

denn für den himmlischen ball

hat er nicht die reichen und schönen

sondern die unscheinbaren und

vergessenen erwählt

 

den aufgeblasenen aber

lässt er die heisse luft ab

die grössenwahnsinnigen

werden des todes fette beute

 

die niedergetrampelten

wärmt er mit seinem atemhauch

und das knurren der mägen

wandelt sich in wohliges glucksen

 

wer gross rauskommen will

geht verschrumpelt ein

wer andere klein macht

erniedrigt gott

 

wer ihn indessen gross sein lässt

darf dankbar staunen über

der andern und

die eigne grösse

 

 

Geistesgegenwart

 

Windhauch Windhauch

alles wär Windhauch

ohne den Geist

der von innen belebt

 

Über den stillen Urwassern

wie mit Vogelschwingen

die Schöpfung erbrütend

ewig weibliche Gottesgespielin

 

Wie ein Weberschiffchen flinken Flugs

die Fäden hin und her verbindet,

so knüpfst du heimlich das grosse Netz

zwischen allen Gotteshungrigen

 

Sprachengenie der Liebe

Wortschöpferin für das Unaussprechliche

feuertrunken von dir wird jede Zunge bewegt

und das WORT selbst eingefleischt

 

«Die Spuren zu meinen spirituellen Quellen führen nach Nazaret»: Davon erzählt Andreas Knapp in: Wer alles gibt, hat die Hände frei. Mit Charles de Foucauld einfach leben lernen (München: bene! 2021, 173 S.)

Unterwegs zu einer zeitgenössischen Liturgiesprache

 

Statt einen Fremdsprachenkurs in «Kirchisch» macht Stephan Schmid-Keiser Poesie und Lyrik als Königsweg zu einer zeitsensiblen, menschennahen Liturgie stark. Christoph Gellner stellt sein neues Buch vor, das gerade Kolleginnen und Kollegen in der Seelsorge ansprechen will.

 

Eine rein binnenkirchliche Sprache ist auch innerhalb der Kirche nur einem immer kleiner werdenden Kreis verständlich, betont Birgit Jeggle-Merz in ihrem Vorwort zum neuen Buch von Stephan Schmid-Keiser. Liturgische Sprache auf die Menschen von heute hin zu formulieren, damit sie einen Zugang finden zu den Feierformen des Glaubens, sei kein einfaches Unternehmen. Neben dem Respekt vor dem hier gefeierten Geheimnis bedarf es grosser theologischer Kompetenz, sprachliches Vermögen und eine konsequenten Zeitgenossenschaft mit Männern und Frauen der Gegenwart.

 

Zeit- und gottesdienstgemässe Sprache, die das Mitfeiern heutiger Menschen ermöglicht

Neben dem vom Zweiten Vatikanischen Konzil geforderten Heutig-Werden des christlichen Glaubens muss das Sprachkleid der Feiern dieses Glaubens zeit- und gottesdienstgemäss angepasst werden, umschreibt der Luzerner Theologe Stephan Schmid-Keiser (*1949) seine doppelte Zielsetzung.

Der langjährige Seelsorger und Gemeindeleiter zitiert den grossen Brückenbauer zwischen Kunst und Theologie, Alex Stock, der eine innovative «Poetische Dogmatik vorlegte und pointiert das Dilemma der «halbierten» Liturgiereform beschrieb: «Die neue muttersprachliche Liturgie wurde nicht originär aus dem literarischen Potential der jeweiligen zeitgenössischen Sprachkultur geschaffen, sondern als Übersetzung einer vorab in lateinischer Sprache und römischem Geist verfassten Liturgie.»

 

Der Poesie im liturgischen Sprachspiel Raum geben

Um sich auf die Suche nach einer angemessenen Liturgie-Sprache für unsere Zeit zu machen, empfiehlt Schmid-Keiser die Beschäftigung mit Dichtung, Lyrik und Poesie als Königsweg zu einer sprach- und zeitsensiblen Liturgiesprache. «Programmatisch lässt sich sagen, dass die Sprache in Gottesdiensten sowohl geisterfüllt wie authentisch, sowohl kontemplativ Schweigen einbeziehend und zulassend wie auch bildhaft gestaltet werden will.»

Stephan Schmid-Keiser bietet denn auch eine Fülle von lyrisch-spirituellen Texten als Inspiration für christliche Gottesdienstgestaltung. Neben Verweisen auf einschlägige Reflexionen von Paul Ricoeur oder Mirja Kutzer über die Logik literarischer und religiöser Sprache erschliesst ein Grossteil seiner anregenden Ausführungen die lyrisch-meditative Ausdruckswelt von Rose Ausländer, Hilde Domin und insbesondere von Silja Walter. Die Theopoesie Dorothee Sölles und Christa Peikert-Flaspöhlers zieht er ebenso als Sprachschule für Seelsorgerinnen und Seelsorger heran wie neuere liturgische Sprechversuche und Texte. Auch die Musik im Gottesdient bezieht er in seine Überlegungen mit ein.

Wichtige Inspirationen zum Aufbrechen verkrusteter Liturgiesprache heute findet Schmid-Keiser bei literarischen Grenzgängern wie Philippe Jaccottet und Peter Handke, beim US-amerikanischen Lyriker Robert Lax, der periodisch Gast im Luzerner Priesterseminar und in seinen Gedichten der Stille und dem Schweigen auf der Spur war, oder beim Exiliraner SAID, der mit seinen renitenten Gebeten Bibelpoesie und moderne Psalmdichtung aus muslimischem Geist fortschreibt. Besonders eingehend beschäftigt sich Schmid-Keiser mit dem evangelischen Pfarrerdichter Christian Lehnert, der das Liturgiewissenschaftliche Institut der VELKD an der Universität Leipzig leitet.

Mit Martin Walser ermuntert das Schlusskapitel «Kein Abgesang» zu fragen, was fehlt, wenn Gott fehlt, ja, das abgründige Geheimnis von Welt und Mensch keinen Ausdruck und keine Sprache findet.

 

Stephan Schmid-Keiser: Und wenn sie doch mehr von Gott erzählten … Auf der Suche nach einer angemessenen Liturgiesprache. Pustet: Regensburg 2021, 253 S.

Gross und weit von Gott denken

 

In „Gottlos beten“ wirbt Niklaus Brantschen für eine weltoffene interreligiöse Spiritualität. Christoph Gellner über das neue Buch des Schweizer Pioniers des christlich-buddhistischen Dialogs auf der Ebene der spirituellen Praxis und Erfahrung.

 

„Kann ein Atheist meditieren? Kann ein Mensch, der nicht glaubt, ein spiritueller Mensch sein? Und wie ist es mit Agnostikern, die die Frage nach Gott nicht mit ‚Ja‘ oder ‚Nein‘ beantworten?“ Diese Fragen hat sich der bekannte Schweizer Jesuit und Zen-Meister in seiner für eine breite Leserschaft geschriebenen „Handreichung für eine weltoffene, interreligiöse Spiritualität“ vorgenommen.

 

Als Christ Buddhist

Damit begibt sich der Gründer des Lassalle-Hauses, der sich selber religiös doppelt verwurzelt sieht in der Zen-Meditation wie in der Christus-Nachfolge – programmatisch lautet einer seiner Buchtitel „Als Christ Buddhist“ (2002), Hugo Makibi Enomiya-Lassalle, Yamada Koun Roshi und Bernard Tetsugen Glassman sind seine Lehrer – nicht nur ins Gespräch mit zeitgenössischer atheistischer Spiritualität.

Zugleich greift Brantschen die viele spirituell Suchende bewegende Frage auf: „Taugt die geläufige Formel ‚Beten heisst Sprechen mit Gott‘ in einer Zeit, in der Gott zu schweigen scheint? Und wie ist es mit Buddhisten, denen oft gesagt wird, sie könnten nicht beten, da sie nicht an Gott glaubten?“

Inspiriert von west-östlichen Quellen und Gewährsleuten wie Thich Nhat Hahn oder Oliver Sacks entfaltet Brantschen sein Plädoyer für eine „spirituelle Praxis, die den Weg weist vom Vielen zum Einen, vom Haben zum Sein, vom Machen zum Geschehen-Lassen“. Eigens kommt der 84-Jährige auf das Meistern der Herausforderungen von Alter und im Sterben zu sprechen.

Gerade weil Beten mit Worten für viele im Westen heute schwierig geworden ist, ist Mystik für den weltoffenen Walliser Katholiken „ein Gebot der Stunde“. In Brantschens spiritueller Sicht ist Beten viel weiter zu fassen – als radikale Bewegung des Herzens auf das unsagbare Geheimnis des Lebens hin, das uns umfängt.

 

Östliche Weisheit und christliche Mystik

„Es ist gut, nicht genau zu wissen, wo Gott hockt“: Von zentraler Bedeutung ist für Brantschen der im christlich-buddhistischen Dialog am häufigsten angeführte christliche Mystiker, Meister Eckhart, und seine negativ-apophatische Theologie. Spitzenaussagen dieses grossen Dominikanertheologen zur Einheit von Gott, Welt und Mensch – wie etwa die Unangemessenheit des «Betens um etwas“ – wurden vom Papst in Avignon als häresieverdächtig inkrimiert, in Japan dagegen fasziniert rezipiert.

„Was meint der Mystiker Meister Eckhart“, fragt Brantschen, „mit dem Wort: ‚Das Höchste und das Äußerste, was ein Mensch lassen kann, das ist, dass er Gott um Gottes willen lasse?‘ Darf ich, oder muss ich gar – um auf die rechte Weise beten zu können – Gott loswerden, gottlos werden?“

Eckhart wird nicht müde, Gelassenheit zu predigen, vom individuell begrenzten Ich abzulassen als Voraussetzung für die Einswerdung mit Gott – Gelassenheit bedeutet nichts anderes als das Ich im göttlichen Selbst zerfliessen zu lassen.

Shinzuteru Ueda, ein Philosoph der zenbuddhistisch geprägten Kyoto-Schule, der sich intensiv mit Meister Eckhart beschäftigte, unterschied zwischen dem „kleinen Ich“, das zu lassen ist, und dem „grossen Ich“ als dem wahren, allumfassenden Selbst, das der radikal gelassene Mensch erfährt. „Das im Sinne Eckharts vom Ego befreite wahre Selbst“, so Brantschen, „entzieht sich dem schnellen Zugriff und stellt mich in eine Welt mit Unendlichkeits-Charakter.“

„Gott ist inwendig in uns. Er ist überall – und nirgends“, verdeutlicht Niklaus Brantschen, dass für Meister Eckhart Gott „nicht räumlich oder zeitlich festzulegen, sondern ort- und zeitlos ist. Ähnlich ist nach buddhistischer Auffassung die ‚Leere-Unendlichkeit‘, die dem entspricht, was wir ‚Gott‘ nennen, nicht zu verorten. Was ‚leer‘ ist, ohne Form und Gestalt, kann man nicht fassen, nicht festlegen, nicht besitzen – und nicht verlieren […] Es ist gerade diese Offenheit, dieses nicht fixierende Denken, dieses In-der-Schwebe-Bleiben (was mit Beliebigkeit nichts zu tun hat)“, betont Brantschen, „was Zen-Meditierende, welcher religiöser Herkunft sie auch sind, fasziniert und nicht mehr loslässt.“

 

Gott – östlich-westlich verstanden

Aus der Perspektive religiös-theologischer Bildungsarbeit wird man bedauern, dass Brantschen die im Buchtitel aufgeworfene Gottesfrage nicht weiter vertieft, insbesondere im Blick auf die kritische zenbuddhistische Auseinandersetzung mit Meister Eckhart, die positiv anerkannte, dass sich dieser mittelalterliche Lese- und Lebemeister näher als jeder andere westliche Denker zu Zen hin dachte.

In der Kyoto-Schule war es neben Shizuteru Ueda vor allem Shin-ichi Hisamatsu, der Eckharts personalistisch-theistische Gottesvorstellung als einen Rest abendländischen Dualitätsdenkens kritisierte: „Gott habe ihm nie ganz aufgehört, Du zu sein, also Begegnung, also Gegenstand, und sei nur ausnahms- und erleuchtungsweise in das erweckte Selbst eingegangen“, referiert Adolf Muschg in einer seiner drei „Japanischen Silhouetten“ in der NZZ 1963 sachkundig Hisamatsus pointiert a-theistischen Buddhismus. Bekundungen wie Roland Barthes‘ Japanbuch „Das Reich der Zeichen“, „im Zen gibt es keinen Gott“, dürften viel zur Faszination des Zen im Westen beigetragen haben.

Ohne auf solche Differenzen zwischen Christentum und Buddhismus näher einzugehen beschwört Brantschen am Ende von der schwarzen Madonna von Einsiedeln her die tiefe spirituelle Verbindung von Maria und Kanzeon. Beide verkörpern sie die grenzenlose Barmherzigkeit und Liebe, die sich „nicht in vager Unbestimmtheit verflüchtigt, sondern sich im ganz konkreten und alltäglichen Leben bewährt. Diese Liebe hat einen Ort, an dem sie wohnt, an dem sie ‚residiert‘. Der Ort heisst ‚Herz‘.“

Christoph Gellner

 

Niklaus Brantschen: Gottlos beten. Eine spirituelle Wegsuche. Patmos: Ostfildern 2021, 127 S.

Good vibrations

 

Von Resonanzen und gelingenden Beziehungen

 

Michael Hartlieb bespricht die Bücher: Cebulj, Christian; Schlag, Thomas (Hg.): Zwischen Kreuzfahrt und Klosterküche. Formen kirchlicher Präsenz im Tourismus. Reihe Forum Pastoral 8. Zürich 2021; Halbfas, Hubertus: Säkulare Frömmigkeit. Gespräch über ein aufgeklärtes Christentum. Mannheim 2021; Kerres, Michael: Mediendidaktik. Konzeption und Entwicklung digitaler Lernangebote. Berlin 52018.  

 

Eines der grossen Leitworte der vergangenen Jahre ist das der «Resonanz». Es begegnet einem in den unterschiedlichsten Kontexten: Musikfestivals werben damit ebenso wie Restaurants oder Veranstalter aus dem Bildungsbereich. Ein Mitauslöser dieser Begriffskarriere war Hartmut Rosa, ein deutscher Soziologe und Politikwissenschaftler, der in seinem 2016 erschienen gleichnamigen Buch mit «Resonanz» eine neue «Soziologie der Weltbeziehung» betitelte. Und wie es nun bei manchen Büchern so kommt, treffen sie perfekt das Suchen und Sehnen einer Zeit nach einem passenden Begriff für das, was fehlt oder anscheinend zu wenig vorhanden ist.

Resonanzen kannte man vorher im privaten Lebensumfeld vor allem vom Mitschwingen der Gläser in der Vitrine, wenn vor dem Haus junge Herren mit aufgedrehten Subwoofern in ihren Autos vorbeifuhren oder wenn über den Teller quietschendes Besteck die Nackenhaare aufstellte. Nun aber: Resonanzen werden von Rosa für ein aktualisiertes Verständnis von Beziehung herangezogen, insofern sie sinnbildlich einen ‘Dreiklang von Leib, Geist und Welt’ verkörpern und die an der Beziehung Beteiligten in einen transformativen Prozess bringen, der sie anders werden lässt.

Das Stichwort ‘Transformation’ steht an dieser Stelle zentral, denn es geht Rosa nicht um eine letztliche belanglose Wellness-Theorie und eine Aufforderung zu neuer Achtsamkeit. Vielmehr will er darauf aufmerksam machen, dass wir Menschen zutiefst auf die identitätskonstituierenden Erfahrungen des Berührt- oder Ergriffenseins von Anderen oder Anderem angewiesen sind, die in unserer beschleunigten Spätmoderne jedoch immer seltener und gerade deshalb immer gesuchter werden.

Theologisch-spirituell sensible Mitmenschen dürften an dieser Stelle hellhörig werden. Transformierende Beziehungen, davon erzählt die Bibel in nicht geringem Ausmass, ja letztlich bauen das Christentum und seine Geschwisterreligionen Judentum und Islam auf den Glauben an einen Gott, der uns eine resonante Beziehung zu ihm anbietet. Und jetzt, in der Zeit des Advent, warten Christ:innen auf der ganzen Welt darauf, dass sich dieses Beziehungsangebot wieder erneuert, dass Gott seine Heilszusage neu schenkt – und sie sich davon erneuern lassen können.

Resonierende Beziehungen oder zumindest die Hoffnung, dass sie entstehen können – das ist auch eines der grossen Themen des Sammelbandes «Zwischen Kreuzfahrt und Klosterküche. Formen kirchlicher Präsenz im Tourismus». Als Nachlese einer Tagung aus dem Jahr 2016 in Chur und herausgegeben von Christian Cebulj und Thomas Schlag untersucht dieses Buch, welche transformativ-synergetischen Prozess sich für Kirche im Zusammenspiel mit der Welt des Tourismus ergeben können. Der Zusammenhang mag auf den ersten Blick weit hergeholt wirken und in der Tat beklagen die Herausgeber, dass es erstaunlicherweise in der Schweiz, dem Touristikland par excellence, seit Jahrzehnten kaum nennenswerten Forschung oder kirchliches Engagement zu einer stärkeren Sichtbarkeit der Kirchen im Tourismus gegeben hat. Das erstaunt die Autoren auch deshalb, weil – im Einklang mit der Resonanz-Theorie von Rosa – in den vergangenen Jahrzehnten ein regelrechter Touristik-Boom um zentral gelegene Kirchen, Klöster oder spirituelle Kraftorte entstanden ist, wie im Buch gut erläuterte Studien eindrucksvoll belegen: Menschen suchen – auch heute noch oder wieder! – aus ganz unterschiedlichen Motivationslagen Orte und Räume auf, an denen sie eine für sich wichtige Erfahrung oder lebensverändernde Perspektive erwarten. Auch der anhaltende Pilger-Boom erklärt sich in dieser Perspektive: er dient der persönlichen Sinn-Findung (S. 37).

Nun wäre es zu kurz gegriffen und würde diesem wirklich sehr gelungenen und assoziationsanregenden Buch auch nicht gerecht werden, wenn man daraus schlösse, dass sich Kirche einfach als Dienstleisterin verstehen solle, die im Anschluss jene gewünschten Resonanzräume eröffnet, pflegt und durch Eintrittsgebühren monetarisiert. Nein, die eigentlich Stärke gewinnt dieses Buch daraus, dass es die Herausforderung der Kirche durch den Tourismus als glückliche Chance für eine substanzielle und fruchtbringende Kirchenentwicklung begreift.

Verschiedene Themenschwerpunkte können dies nachvollziehbar machen: allen voran die Fokussierung auf die bereits in der Bibel bestens bezeugte Gastfreundschaft, die ein für die Gäste einladendes Umfeld schafft, mehr noch aber den Gastgeber selbst überaus positiv verändert (S. 130). Für Gemeinden, die an dieser Aufgabe wachsen wollen, hält das Buch eine Fülle von «Beziehungsratschlägen» bereit, die auch durchaus prägnant formuliert sind, wie zum Beispiel in diesem Beispiel: «Drei Qualitäten zeichnen Kirchen als gastfreundliche Räume aus: Präsenz, Resonanz, Transzendenz.» (S. 75). Deutlich macht das Buch in seinen Ausführungen: Kirche vergibt eine grosse Chance, wenn sie aus einem fehlleitenden Selbstverständnis als «societas perfecta» nur «die Anderen» als diejenigen auffasste, die Resonanzräume suchen und erleben wollen. Nein, nach der weitgehend übereinstimmenden Meinung der Autoren ist es die Kirche selbst, die aktiv auf die Suche nach transformierenden Beziehungen für sich, nach Resonanz in der Welt von heute gehen muss.  Das fördert Vernetzung mit anderen Akteuren und Aufmerksamkeit für die Menschen (S.55) und ist überhaupt erst die Voraussetzung, «die kulturelle, religiöse oder konfessionelle Geschichte eines Kirchenraums [oder anderen religiösen Ortes, M.H.] mit der religiösen Suchbewegung jeder einzelnen Besucherin, jedes Besuchers ins Gespräch»(S.72) zu bringen.

So ist insgesamt ein sehr lohnens- und lesenswertes Buch entstanden, das viele mit grossem Interesse studieren können: Mit Fragen der Pastoral Beschäftige ebenso wie Engagierte aus Gemeinden, die ihrer Kirche oder dem kirchlichen Umfeld ihrer Region zu mehr Gastfreundschaft oder allgemeiner zu einer einladenden Atmosphäre verhelfen wollen.

 

Eine weitere Neuveröffentlichung beschäftigt sich ebenfalls mit Fragen des Beziehungsgeschehens, aber mit einem etwas anderen Fokus. Der bekannte Religionspädagoge Hubertus Halbfas führt in dem kleinen Büchlein «Säkulare Frömmigkeit» mit sich selbst (!) ein «Gespräch über ein aufgeklärtes Christentum». Das Besondere an diesem Dialog ist die formale Struktur, die Halbfas für den Durchgang durch seine Themen wählt. Es ist nämlich nicht so, dass sozusagen ein Dialogpartner kontinuierlich die Rolle des Fragestellers innehat, während der andere Dialogpartner möglichst unangreifbare Lehrbuchweisheiten von sich gibt. Nein, der Dialog ist zwar artifiziell und als solcher durchaus erkennbar, aber er vermittelt doch immer auch den Anschein eines echten Dialogs. Die Partner fragen beim jeweils anderen zu Erörterungen oder Argumentationen interessiert nach oder bohren gelegentlich auch kritisch – vielleicht mit einem kleinen Abstrich: Die beiden Gesprächspartner verstehen sich an mancher Stelle ein wenig zu gut, auch dort, wo man selbst durchaus einen kritischen Kommentar in petto hätte. Das kann natürlich wiederum doch nicht zu sehr erstaunen, denn beide befinden sich ja im Kopf von Halbfas! – aber übliche Nebenerscheinungen der Kommunikation, das Nicht-, Halb- oder Falschverstehen, das für oft unerwartete Gesprächswendungen sorgt, spielt in diesem Streitgespräch leider keine grosse Rolle.

Aber: Worüber reden und streiten die beiden eigentlich?

Halbfas geht es kurz gesagt darum, einen säkularen Verstehenszugang zum Christentum zu eröffnen, der als «fromm» in der klassischen Bedeutung des Wortes, nämlich «rechtschaffen», verstanden werden kann. Dieses schwierige Vorhaben geht Halbfas so an, dass er einzelne Glaubensüberzeugungen oder Fragestellungen zum Christentum an sich (beispielsweise: Wer war Jesus und wie ist seine Botschaft zu verstehen) auf die möglichen existenziellen Bedeutungen herunterbricht und/oder sie von der religionsgeschichtlichen Entwicklung oder kirchlichen Tradition her beleuchtet. Damit gelingt es ihm sehr gut, gleichzeitig aktuelle Problemfelder der Glaubenspraxis zu beleuchten, die kirchliche Tradition ernst zu nehmen und dennoch eine Atmosphäre grosser denkerischer Freiheit und Autonomie zu gewährleisten.

Eine Beziehung zu Gott oder zu einer bestimmten religiösen Tradition haben zu können in all den Abstufungen, die das heutige Leben mit sich bringt – dafür ein so schönes Plädoyer geschrieben zu haben ist eine beachtenswerte Leistung in einem schmalen Band, das uneingeschränkt zur Lektüre empfohlen werden kann.

 

Ein abschliessender Blick gilt nun noch einem Buch, der hinsichtlich der bislang genannten aus der Reihe fällt: Es handelt sich um das in mittlerweile fünfter Auflage erschienene Buch «Mediendidaktik. Konzeption und Entwicklung digitaler Lernangebote» von Michael Kerres, der an der Universität Duisburg-Essen das «Learning Lab anleitet. Im übertragenen Sinne widmet sich auch dieses Buch Fragestellungen der Resonanz, untersucht es doch die Chancen digitaler Lehr-/Lernsettings für fruchtbar werdende Bildungsprozesse im Dreieck von Lehrenden, Lernenden und den eingesetzten Medien. Das Wort «Untersuchen» ist hier ganz wörtlich zu nehmen, denn das Buch hat einen klar wissenschaftlichen Auftrag und trägt zu allen mediendidaktischen Fragestellungen Studien und Argumentationszusammenhänge für oder gegen den Einsatz bestimmter Methoden (z. B. Gameification, Exploratives Lernen usw.) zusammen und bezieht anschliessend Stellung dazu. In kompakter Form erhält man damit einen sehr guten Überblick über den Stand der mediendidaktischen Forschung und wird dazu befähigt, Lehr- und Lernparadigmen besser in ihren Folgen einzuordnen oder eben auch unterschiedliche Methoden in ihren potenziellen Vor- und Nachteilen besser einzuschätzen.

Das Buch ist damit eher nicht für Lehrende ausgelegt, die konkrete Umsetzungstipps für ihre Lehrpraxis suchen. Es richtet sich eher an Personen, die konzeptionell mit der strukturierten Planung von Bildungsveranstaltungen beschäftigt sind und dabei die neuesten Erkenntnisse der Bildungsforschung zu digitalen Medien einbeziehen wollen.

Kirche zwischen Verlust und Neuschöpfung von Macht

 

Die Kirchen sind «entmachtet», Handeln und Bewusstsein zu kontrollieren, diagnostiziert Michael Ebertz. Darin liege die Chance, dass Kirchen zu Quellen wertgeleiteter, lebensdienlicher Inspiration werden, um so neue Attraktivität zu gewinnen. Für Christoph Gellner ein hochaktuelles Buch.

 

«Macht ist nicht alles, aber ohne Macht ist alles nichts», setzt das neue Buch des Freiburger Religionssoziologen und Theologen Michael N. Ebertz ein. Macht ist eine Struktureigentümlichkeit menschlicher Beziehungen, und zwar aller menschlichen Beziehungen, zitiert er Norbert Elias. SoziologInnen betonen die «Reziprozität», d.h. die Gegenseitigkeit und Wechselbezüglichkeit der Machtchancen und rechnen daher mit der Macht von Untergeordneten über Übergeordnete.

Das gilt insbesondere in der katholischen Kirche: Sie erlebt einen Wandel der Angewiesenheits- und Abhängigkeitsverhältnisse, eine Verschiebung der Machtgewichte zwischen Klerus und Laien, die «in vielerlei Hinsicht noch gar nicht begriffen zu sein scheint», betont Ebertz – am massivsten habe die «Kollaboration der Regierten» (Pierre Bourdieu) gegenüber dem Angebot der Beichte ausgesetzt.

Mehr noch: Es lasse sich ein tiefgreifender Wandel im Ritenverständnis beobachten, wodurch die hergebrachte «Heilssorge» in eine Legitimationskrise gerate. Priestermangel und langfristig gesehen Finanzmangel seien letztlich nur Symptome einer viel tiefer liegenden Problematik, nämlich Folge von Machtverlagerungen im Verhältnis der Kirche und anderer gesellschaftlicher Institutionen.

Entmachtung der Kirche in Familie, Ehe, Geschlechterordnung und Sozialisation

Von seinen «4 Thesen zu Gegenwart und Zukunft der Kirche» treffen drei auch für die Kirche der Deutschschweiz zu und bieten weiterführende Perspektiven zu neuer Attraktivität der Kirche:

  • Die Familie ist heute aus der überkommenen «Verschachtelung mit der Kirche weitgehend herausgelöst»: Selbst wenn Eltern ihren Kindern die Taufe nicht «vorenthalten», ist eine christlich-religiöse Erziehung und Sozialisation in die kirchliche Praxis wie die sonntägliche Gottesdienstteilnahme nicht mehr selbstverständlich. Die Koalition zwischen Kirche und Familie wird zunehmend aufgekündigt, ja, aufgrund dieses kirchenreligiösen Sozialisationsversagens kollabiere das lange selbstverständliche Muster der Nachwuchskirche, so Ebertz.

Wie lautet Ebertz’ Alternative? «Eine zukunftsfähige Kirche muss deshalb von der ehedem verlässlichen ‘Nachwuchs-Strategie’ Abschied nehmen und neue Tradierungswege suchen, die dem ‘Wachstum der Kirche’ dienen. Statt auf vergebliche familiale Sozialisation für die Kirche sollte sie auf die Inspiration der Kirche zur religiösen Sinngebung setzen – nicht zuletzt in ausseralltäglichen (normativen und kritischen) Lebensereignissen, auch und gerade im Erwachsenenalter.» (28) Nicht integrieren, sondern Impulse setzen, lautet etwa der pastorale Neuansatz zeitgemässer Gemeindekatechese, Eltern- und Familienbildung .

  • Angesichts des Wandels der Ehe und der Geschlechterchoreographie sehen sich die offiziellen Repräsentanten des kirchlichen Felds seit Jahrzehnten herausgefordert, ihre bislang vertretenen gesellschaftlichen Ordnungsmuster zu behaupten und dabei wahrnehmen zu müssen, dass diese im Kampf gegen konkurrierende Ordnungsvorstellungen immer weniger durchsetzungsfähig sind.

Zugleich dokumentiert die innerkirchliche Verweigerung der Folgsamkeit und das offensive Zuwiderhandeln gegen das römische Segnungsverbot mit öffentlichen Einladungen, Gottes Segen für alle Liebenden zu erbitten, eine Verschiebung der kircheninternen Machtfiguration, so Ebertz.

Die Alternative? «Für die Kirche steht ein kultureller Paradigmenwechsel an, ihr vorwiegend rechtliches Verständnis legitimer Liebe und Sexualität, aber auch von Sünde und Heil zu verlassen. Eine zukunftsfähige Kirche steigert (auch ausserkirchlich) ihr Machtgewicht, wenn es ihren Repräsentanten im Blick auf Intimbeziehungen und andere Lebensformen gelingt, ihre normgeleiteten Erwartungen in wertgeleitete Erwartungen an ihre Mitglieder zu verwandeln.» (45)

  • Die kirchenrechtlich verfestigte Geschlechterhierarchie, die weibliche Laien im kirchlichen Feld generell vom Diakonat und Priesteramt ausschliesst, wird heute als frauenverachtend und frauenfeindlich erlebt. Solche Ordnungsvorstellungen stehen für die Beharrungskraft von Denkstilen vergangener Welten, die in der Gegenwartsgesellschaft als fremd erscheinen und selbst im binnenkirchlichen Feld nicht mehr zu überzeugen vermögen, so Ebertz.

Welche Alternative macht Ebertz stark? «Für die Kirche steht ein Paradigmenwechsel ihres offiziellen ‘Denkstils’ an. Er zielt auf den Abbau von bislang praktizierten Abwehr- und Ausschliessungsmechanismen und auf den Einbau von offensiven Lernmechanismen in Arenen der Multiperspektivität im kirchlichen Feld. Sie können derzeitigen, ehemaligen und zukünftigen Mitgliedern als Adresse für Erfahrungen, Enttäuschungen und Widerstände und als Orte dienen, wo sie wahr- und ernst genommen und lösungsorientiert bearbeitet werden.» (62)

Anstoss zu praktischen Denkstilumwandlungen

Wie also kann und soll die Kirche neue Attraktivität gewinnen? Statt mit den knapper werdenden Ressourcen an Zeit, Geld und haupt- wie ehrenamtlichem Personal «das Gemeinschaftsleben weitgehend geschlossener und schrumpfender sozialer Milieus zu intensivieren, das derzeit kaum mehr als zehn Prozent der Kirchenmitglieder erfasst, müsste es im kirchlichen Feld», so Ebertz pointiert, «um einen Perspektivenwechsel gehen, um neue Macht zu gewinnen: bevormundungsfrei, vereinnahmungsfrei, ermöglichungsstark.» (94)

Religionssoziologisch ist unbestritten: Lebenssinn wird heute privatisiert, nicht säkularisiert. Eine nicht familiennachwuchs-, sondern eine wachstumsorientierte Kirche würde sich, führt Michael Ebertz überzeugend aus, «neue Machtquellen erschliessen», indem sie den strategischen Fokus auf die Individuen in ihren jeweils ganz unterschiedlichen Beziehungsgeflechten und Lebensphasen, nicht zuletzt in ihren kritischen Lebensereignissen und -übergängen verlagerte.

Ebertz’ Vision ist klar: «Es gälte, dadurch attraktiv zu werden, dass jenseits von Bedürfnissen wie Geld, Gesundung, Status, Karriere und Abwechslung Erwartungen gepflegt und erfüllt werden, etwas zu ermöglichen, anzuregen und zu schützen, was andere definitiv nicht zu bieten haben: Gelegenheiten für Erfahrungen und Ereignisse, für Symbole, Riten und Projekte, durch die Interesse an Gott geweckt und in den Brüchen des Lebens ‘Grund zur Hoffnung gefunden’ werden kann.»

Dieser Perspektivenwechsel, sich neue Quellen der Macht zu erschliessen, um Menschen zu bewegen, nimmt vorzugsweise Erwachsene in den Blick: «Kirche schöpft Macht, weil sie für die Einzelpersonen in deren jeweiligen Beziehungsgeflechten mit ihren subjektiven Relevanzstrukturen und biografischen Bedeutungshorizonten zur Quelle der Inspiration wird.» (94f.)

Wertorientierung statt Normorientierung

Was macht Ebertz dabei Hoffnung? Im Gefolge von «Amoris laetitia» vollziehe sich eine Verschiebung von Inklusions- und Exklusionsgrenzen, von Mitgliedschafts- und Teilhaberegeln. Wertorientierung statt Normorientierung ist ihre Leitidee, um neue, lebensdienliche Macht für die Kirche zu schöpfen.

Ja, unter dem Leitbild des Wertes der Liebe schwebe Papst Franziskus ein Paradigmenwechsel vor, den Michael Ebertz durch die Abkehr von einer Exklusionspastoral hin zu einer pädagogisch getönten Inklusionspastoral charakterisiert sieht, wie sie «Amoris laetitia 297» programmatisch zum Ausdruck bringt: «Es geht darum, alle einzugliedern; man muss jedem Einzelnen helfen, seinen eigenen Weg zu finden, an der kirchlichen Gemeinschaft teilzuhaben, damit er [bzw. sie, CG] sich als Empfänger einer ‘unverdienten, bedingungslosen und gegenleistungsfreien’ Barmherzigkeit empfindet».

In dieser lebensdienlichen Perspektive kann und soll Kirche für ihre Werte werben. Das Buch endet denn auch mit einem Verweis auf die Vision von Papst Franziskus von der Kirche als einem Lernfeld, ja, einer lernenden Organisation: «In der Perspektive der göttlichen Pädagogik wendet sich die Kirche liebevoll denen zu, die auf unvollkommene Weise an ihrem Leben teilhaben: Sie bittet gemeinsam mit ihnen um die Gnade der Umkehr, ermutigt sie, Gutes zu tun, liebevoll füreinander zu sorgen und sich in den Dienst für die Gemeinschaft, in der sie leben und arbeiten, zu stellen» (AL 78).

 

Michael N. Ebertz: Entmachtung. 4 Thesen zu Gegenwart und Zukunft der Kirche. Patmos: Ostfildern 2021, 160 S.

Every Day for Future

 

Ortstermin in Zürich an einem warmen Tag im Mai 2021. Anlässlich der Besichtigung neuer Bildungsräume in einem grundwassergekühlten Gebäude bemerkt der junge Mann, der einen Saal ohne Klimaanlage vorführt, mit einem Augenzwinkern: «Naja, im Sommer kann es hier schon heiss werden. Aber es gibt eben keine Klimagerechtigkeit ohne Leiden».

Nicht für das Leiden aber für «Suffizienz», also das Genug-Haben mit weniger Konsumobjekten, plädiert Katrin Bederna, Leiterin der Abteilung Katholische Theologie/Religionspädagogik an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg (D), in ihrer Monographie «Everday for future. Theologie und religiöse Bildung für nachhaltige Entwicklung».

 

Theologisieren muss nachhaltigkeitsrelevant sein

Bederna greift Inhalte und Voraussetzungen religiöser Bildung für nachhaltige Entwicklung aus dem Blickwinkel der systematischen Theologie auf, exemplarisch unter den drei Aspekten Schöpfung, Mensch und Armut. Sie erläutert verschiedene Schöpfungstheologien und grenzt sich von herkömmlicher Schöpfungstheologie sowie von sogenannter «Umweltbildung» ab. Ähnlich wie Andreas Benk[1] betont sie, dass die Schöpfungserzählungen nicht «rückwärts», also begründend, sondern «vorwärts», also vorausweisend, als Geschichten der Hoffnung, gelesen werden müssen.  Des Weiteren setzt sie sich mit den anthropologischen Grundannahmen auseinander, vor allem mit dem Freiheitsverständnis. Freiheit und Gerechtigkeit dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden, sondern der Gegensatz ist zu überwinden im Hinblick auf die Freiheit aller. Es muss die Handlungsfreiheit aller gegeben sein. Bildung muss dem geforderten globalen Gemeinwohl dienen.

Eine positive Sichtweise des Reduzierens geht einher mit der Haltung, die nachhaltige Entwicklung befördert. Leitend könnte die theologisch begründete «Armut» sein, wie sie in monastischen Traditionen zu finden ist. Auch die neuere europäische mystische Theologie biete Orientierung, da sie das «frei von» anstelle des «genug an» lebt.

Bederna hebt die sozialethische Perspektive des Klimawandels hervor und stellt das Prinzip «Nachhaltigkeit» neben die anderen sozialethischen Prinzipien der Personalität, Solidarität und Subsidiarität. Nur zusammen zielten sie auf umfassende Gerechtigkeit. In der Tradition des Theologen und Erziehungswissenschaftlers Helmut Peukert[2] spricht sie sich aus für eine «Transformationsbildung in messianischer Perspektive».

 

BNE – kein Bildungsinhalt, sondern Basis einer Bildungsreform

Bildung für nachhaltige Entwicklung, wie sie von den Vereinten Nationen gefordert wird,  unterscheidet sich gemäss Bederna von «Nachhaltigkeit» als Bildungsinhalt im (Religions-)Unterricht, denn es gehe hier nicht um ein bildungsrelevantes Thema neben anderen, sondern um nicht weniger als die Basis einer Bildungsreform, die ein enges Zusammenspiel aller Unterrichtsfächer sowie der verschiedenen schulischen und gesellschaftlichen Ebenen benötigt. Diesen zehn didaktischen Prinzipen sollen nicht nur im schulischen Kontext für (religiöse) Bildung für nachhaltige Entwicklung leitend sein: emanzipatorisch, partizipationsorientiert, handlungsorientiert, zukunftsorientiert, schöpfungsorientiert, vernetzt und vernetzend, ethisch orientiert, politisch dimensioniert, korrelativ, ästhetisch und spirituell.

Durch religiöse Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) sollen Schüler und Schülerinnen nicht (nur) zu einer Haltung der Nachhaltigkeit geführt werden, sondern sie sollen sich selbst bilden, indem sie sich selbst in Beziehung setzen zu Freiheit und Nachhaltigkeit. Um vom Wahrnehmen ins Handeln zu kommen, bedürfe es zusätzlich des Willens und der Entschlossenheit zur Neuorientierung, dies sei auch eine Frage der Spiritualität. Bederna schlägt zusätzlich ein BNE Service Learning vor, ein Weg ausserschulischen Lernens mittels (freiwilligen) Engagements für das Gemeinwohl. Bei der Organisation des Lernens ist davon auszugehen, dass Probleme und Lösungen von den Lernenden selbst gefunden und nicht von den Lehrpersonen vorgegeben werden. Die Sichtweisen der Schülerinnen und Schüler sind wichtig, sie sollen in die Aufbereitung der Themen von Anfang an eingebunden werden. Nur so können die Interessen der Lernenden umgesetzt und die daraus resultierenden Ziele erreicht werden. Every Day for Future.

Dorothee Foitzik Eschmann

 

 

[1] Andreas Benk, Schöpfung – eine Vision von Gerechtigkeit. Was niemals war und doch möglich ist, Ostfildern 2016

[2] Helmut Peukert, Die Logik transformatorischer Lernprozesse und die Zukunft von Bildung, in: Edmund Arens (G.) geistesgegenwärtig. Zur Zukunft universitärer Bildung, Luzern 2003, 9-30

 

 

Katrin Bederna. Every Day for Future. Theologie und religiöse Bildung für nachhaltige Entwicklung, 292 S., Ostfildern: Matthias Grünewald Verlag 2020

Frauen stören. Und ohne sie hat Kirche keine Zukunft

 

Schwester Katharina Ganz beleuchtet in ihrem Buch den realen Beitrag von Frauen zum Leben und Wirken der Kirche, zur Verkündigung, zur Diakonie, in der Seelsorge allgemein. Es ist weltweit ein unverzichtbarer Beitrag, entsprechend ist die volle Partizipation der Frauen ein Thema nicht nur im deutschsprachigen Raum.

In ihrem jetzigen Amt als Generaloberin der Oberzeller Franziskanerinnen kann sie wie viele andere Ordensfrauen vielfältig seelsorglich und auch priesterlich wirken. Ordensobere leiten die Gemeinschaften in geistlicher und geschäftsführender Hinsicht, sie tragen Sorgen für die einzelnen Mitglieder und Konvente, haben Verantwortung für Häuser und Einrichtungen, für Finanzen und Personal. In den Leitungsämtern orientieren sie sich am Evangelium Jesu, an der Spiritualität der Menschwerdung sowie im Fall der Generaloberin Katharina Ganz am Geist von Franziskus und Klara von Assisi. Diese Aufgaben haben viel mit den klassischen „Hirten“-Tätigkeiten zu tun: „Lehren, verkündigen, heilen und leiten.“ Umso mehr und immer häufiger auch öffentlich und laut bedauern es viele, dass sie als Ordensfrauen nicht auch ohne Priester miteinander Eucharistie feiern, im Namen der Kirche Vergebung zusprechen oder sterbenden Mitgliedern die Krankensalbung spenden können.

 

Antonia Werr, ein Vorbild in ihrer Beharrlichkeit

Im zweiten Teil des Buches erzählt Katharina Ganz die Geschichte der Ordensgründerin der Oberzeller Franziskanerinnen, Antonia Werr, als Beispiel einer Frau, die bereits in ihrer Zeit den üblichen Lauf der Dinge, vor allem in pastoralen Fragen, gestört hat – zum Wohle marginalisierter Menschen, insbesondere Frauen. Werr gründete, gegen zahlreiche Widerstände aus Kirche und Gesellschaft, eine Gemeinschaft, die sich der Unterstützung von aus dem Gefängnis entlassenen Frauen widmete. Schon im 19. Jahrhundert war Antonia Werr in ihrer Beharrlichkeit ein Vorbild für zeitgenössische Frauen. Denn sie zog, in aller Demut, auch im kirchlichen Bereich Kompetenzen an sich, die eigentlich dem Klerus vorbehalten waren. Dazu gehörte etwa die Vorbereitung der Frauen auf die Beichte.

Aus sozialpädagogischer Perspektive fällt Werrs, heute würde man sagen, systemischer Ansatz in der Unterstützung der marginaliserten, haftentlassenen Frauen auf, z. B. im Fördern und Fordern. Aus pastoraler Perspektive war Antonia Werr mit ihrem Verständnis von Seelsorge als Dienst an der Menschwerdung von Frauen ihrer Zeit weit voraus. Denn erst das Zweite Vatikanische Konzil habe mit der Abkehr von der seit der frühen Neuzeit geltenden Lehre von der Kirche als «societas perfecta» hin zum pilgernden Volk Gottes einen Paradigmenwechsel vollzogen. Pastoral wird nun nicht mehr auf Basis der Hirt-und-Herde-Metaphorik in einer hierarchisch-doktrinären Haltung verstanden als das ausschliessliche Handeln von Klerikern an den Laien und Laiinnen, sondern als Auftrag des gesamten Volkes Gottes.

 

Luft nach oben

Katharina Ganz ist überzeugt: Bei Führungspositionen, die nicht an die Weihe gebunden sind, gibt es in der katholischen Kirche noch viel Luft nach oben. Es braucht noch mehr Frauen, die an entscheidenden Stellen verantwortlich tätig sind.

Schwester Katharina ist überzeugt: Wenn die katholische Kirche an ihren Frauen diskriminierenden Strukturen festhält, marginalisiert sie sich selbst und manövriert sich immer mehr ins gesellschaftliche Abseits. Man wird sie – zumindest in europäischen Kulturkreis – nicht mehr ernst nehmen. Schon heute will man die Botschaft der Kirche auch zu Themen nicht mehr hören, zu denen sie wirklich etwas zu sagen hätte.

Geschlechtergerechtigkeit ist ein Zeichen der Zeit. Die Kirche tue gut daran, dies endlich ernst zu nehmen und in den eigenen Reihen und Strukturen zu verwirklichen. Evangelisierung kann nur gelingen, wenn die Institution vorlebt und sichtbar macht, dass alle Menschen gleich würdig und gleich berechtigt sind. Es sei nicht länger hinnehmbar, sich auf Gott, Jesus Christus oder eine lange Tradition und kirchliche Lehre zu berufen, um Menschen klein zu halten, auf bestimmte Eigenschaften festzulegen oder von manchen Ämtern auszuschliessen.

 

Es wird Zeit, dass Frauen stören

Das Credo der Ordensfrau lautet: Weniger Paternalismus und Bevormundung. Hier fordert sie auch den Papst heraus. Wenn Franziskus etwa eine „Theologie der Frau“ fordere, sei doch der Umkehrschluss, dass es bisher nur eine „Theologie des Mannes“ gebe. Und warum dürften Frauen nicht selbst ihrer Berufung nachspüren und dann frei entscheiden, fragt sie. Ohne Frauen habe die Kirche keine Zukunft, die Evangelisierung bleibe auf halber Strecke stecken. „Es wird also Zeit, dass Frauen stören.“ Stören meint nicht (nur) lästig fallen, sondern erstarrtes neu in Gang bringen, die wertvollen Traditionen im Lichte des Evangeliums neu buchstabieren.

In der gleichzeitigen Verwurzelung im Evangelium und in der Tradition, die allerdings in die Zukunft geführt werden müsse, ist Ganz’ Position ein Mutmacher für Menschen, nicht ausschliesslich Frauen, die die Kirche noch nicht aufgegeben haben und sie trotz aller Ungerechtigkeiten und Vergehen in den eigenen Reihen als Anwältin der Menschwerdung sehen.

Dorothee Foitzik Eschmann

 

Katharina Ganz. Frauen stören. Und ohne sie hat Kirche keine Zukunft, 200 S., Würzburg: Echter 2021

Erkundungen in der Gegenwartsliteratur

 

Jedes Jahr erscheinen mehrere Tausend Bücher mit religiösen und theologischen Inhalten. Aber auch Romane beschäftigen sich mit spirituellen, ethischen und religiösen Themen.

Die Vereinigung des katholischen Buchhandels in der Schweiz hilft interessierten Personen, sich im Dschungel der Neuerscheinungen zurecht zu finden.

 

Beim Buchbesprechungstag am 25. Oktober 2021 in Zürich werden Fachliteratur und Praxisbücher sowie belletristische Literatur vorgestellt.

 

Im ersten Teil stellt Gallus Weidele etwa 50 neue Bücher vor. Menschen in der kirchlichen Praxis sowie Mitarbeitenden von katechetischen/religionspädagogischen Fachstellen als auch interessierten Laien werden mit dieser Auswahl einige Tipps und Empfehlungen für ihre Arbeit und ihre persönliche Lektüre gegeben.

Im zweiten Teil berichtet Dr. Christoph Gellner über die neue Aufmerksamkeit für Gott, Religion und Spiritualität in der aktuellen belletristischen Literatur. Er gibt wertvolle Hinweise, die in der Predigt und der Verkündigung allgemein aufgenommen werden können.

 

Die Veranstaltung  findet statt am Montag, 25. Oktober 2021, 9.15 – 16 Uhr, Veranstaltungszentrum Paulusakademie Pfingstweidstrasse 28, 8005 Zürich.

Anmeldung bis 1. Oktober 2021.

 

 
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