Flexible Kursformate für die theologische Bildung

 

Die neuen Online-Kurse:

  • Bibel verstehen/Modul M3 in ForModula: ab 13.10.2021 bis 15.6.20222 jeweils Mittwochvormittag mit 2 Vormittagen Präsenz (9-12.30) in ZH und 5 Online-Vormittagen (9.00 – 11.45) pro Trimester

 

 

Der neue Wochenendkurs:

Theo-poetisches ABC

Von A bis Z, von Angst bis Zynismusprophylaxe: Der Pastoraltheologe Erich Garhammer lädt ein zu einer sprachsensiblen Entdeckungsreise, die elementare Grunderfahrungen des Lebens literarisch-theologisch deutet. Christoph Gellner wirft einen Blick in sein neues Buch «Meridiane aus Wörtern».

 

«Ich wollte eine Theologie entwerfen, die den Sehnsüchten der Menschen in einer Sprache von heute eine Heimat bietet unter dem Dach der Theologie. Freude und Hoffnung, Trauer und Angst sind die ersten Wörter der Pastoralkonstitution. Es gibt nichts wahrhaft Menschliches, was nicht in den Christen seinen Widerhall finden könnte», resümiert der 70-jährige emeritierte Würzburger Pastoraltheologe die für ihn wichtig gewordene Verbindung von Theologie und Literatur. «Die Qualität des Christseins nach der Magna Charta des 2. Vatikanums heißt: Resonanzfähigkeit.»

 

Pastorale Resonanzfähigkeit

«Resonanz ist eine zutiefst pastorale Kompetenz. ‘Gaudium et spes’ schreibt der Kirche ins Stammbuch, dass sie resonant sein soll auf die Grundgefühle der Menschen», betont Garhammer. Von Haus aus auch Germanist und Ausrichter zahlreicher Begegnungen mit Autorinnen und Autoren ist er resonant für religiös-spirituelle und existentielle Dimensionen der zeitgenössischen Literatur.

«Eine religiöse Frage ist nur entweder Lebensfrage oder sie ist leeres Geschwätz», zitiert er Ludwig Wittgenstein. Dass die floskelhaft-klischierte Kirchensprache viel zu selten resonanzfähig ist für die existentiellen Erfahrungen und die religiös-spirituelle Suche heutiger Menschen, ist gar nicht neu.

«Ich fühle mich als Katholik fast in einer verzweifelten Stellung», führt Garhammer einen Brief Romano Guardinis vom 13. Juli 1924 an. «Immer aufs Neue kommt mir zu Bewusstsein, wieviel Grösse, Reinheit und schaffende Kraft draussen ist». «Drinnen» in der Kirche nahm er nur «abgelegte Gedanken, Kompromisstechniken», ja, «Epigonentum» wahr. «In Welt und Leben zu Hause sein und die Kraft zur Gestaltung haben: das ist eine Kurzformel seiner Theologie. Die Kraft zur Gestaltung dieser Theologie auf der Höhe der Zeit entnahm Guardini der Literatur! Literatur muss nicht immer zitiert werden und dennoch kann ihre Potenz einer Theologie inhärent sein», folgert Garhammer.

 

Poesie als Lebensstoff

Die Grundidee des gut lesbaren neuen Buchs ist so einfach wie originell: In 26 kurzen Stücken wird das Alphabet durchbuchstabiert, um sowohl elementare menschliche Erfahrungen als auch wichtige Erkenntnisse, Personen und Orte der eigenen theologisch-literarischen Biografie zu erschliessen – mit Paul Celan spricht Garhammer von «lebensspendenden Wörtern» und nennt sie «Meridiane».

So hält er im zweiten Lesestück «Bekehrung oder wie mir Literatur zur Heimat wurde» fest: «Nicht über irgendein bla, bla, sondern über das, was einen an der Gurgel packt», sollen nach Arno Geiger Schriftsteller schreiben. Reiner Kunze fasziniert Garhammer, weil für ihn «Poesie das ist, was durch mich hindurch gegangen ist und Sprache wird». «Sie haben Morbus Kitahara», erfuhr Christoph Ransmayr. «Das sind Menschen, die sich ein Loch ins eigene Auge starren, weil sie nur auf ein Problem fixiert sind. ‘Muss ich mich operieren lassen?’ Nein, Sie müssen nur Ihren Blick ändern.’»

Eine Frucht dieser Perspektivenerweiterung ist Ransmayrs Erkenntnis, «dass bei aller Kostbarkeit und allem Glanz des Zaubers der Verwandlung von etwas in Sprache, in Schrift, der ungeheuerliche und unfassbare, in den Abgründen eines grenzenlosen Raumes verlorene Rest doch – Schweigen» ist. In dieser «Sehnsucht nach Stille, nach wort-loser Präsenz» sieht Garhammer einen Hinweis, «dass Sprache in das Schweigen hinabreichen muss, um aus ihm gefüllt aufsteigen zu können».

 

Theologische Sprach- und Erzählschule

«Glauben oder wir sind Poeten, wenn wir beten», erinnert Erich Garhammer an Dorothee Sölle. «Am Grund religiöser Rede liegt nicht die Gewissheit von Aussagen, nicht die Sicherheit von Dogmen oder Bekenntnissen – nein, am Grund religiöser Rede liegt eine Ungewissheit. Ihr kommt man nur bei im Gebet», betont Garhammer mit Christian Lehnert. «Der Grundgestus religiöser Rede ist die betende, liturgische Anrufung. Darin ist das Gedicht dem Gebet ähnlich, auch das Gedicht ist in einem bestimmten Sinne immer ein staunendes Anrufen der ungewissen Welt und Wirklichkeit».

«Übersetzen oder mit Gott im Clinch» führt die Einsicht Fridolin Stiers an, «dass die Wirklichkeit Gottes sich letztlich aller Sprache entzieht und dennoch in der Gestalt des Nazareners konkrete sinnliche Gestalt angenommen hat; dies alles mündet in die von ihm als paradox begriffene Aufgabe des Theologen, dass er von dem reden muss, was sich aller Sprache entzieht, dass Gott durch seine Sprache Subjekt bleiben muss, obwohl die Sprache Gott ständig zum Objekt macht.»

«Himmel oder ein franziskanischer Sonnengesang» widmet sich Peter Handke, bei dem Garhammer «eine Sehnsucht nach dem Göttlichen mitten im Alltag» am Werk sieht. Als Theologe stimmt er ihm bei, dass es wichtig ist, «die Wirklichkeit nicht positivistisch sakral aufzuladen, sondern das Heilige als das unausgesprochen Beseelende der Wirklichkeit wahrzunehmen, nicht als pure Eindeutigkeit».

 

Garhammers Buch möchte eine «Wünschelrute» sein, selber theo-poetische Entdeckungen zu machen. Daher spielt der literaturaffine Priester und Pastoraltheologe am Ende seinen Leserinnen und Lesern die seelsorgerlich-praktische Frage zu: «Wie müsste eine Sprache aussehen, in der Achtsamkeit für das Unscheinbare, Wertschätzung für Alltägliches und die Biografien der Menschen, die Meridiane des Schmerzes und des Trostes und damit ihr Leben aufgehoben wären?»

Christoph Gellner

 

Erich Garhammer: Meridiane aus Wörtern. Theo-poetisches ABC, 174 S., Würzburg: Echter 2021.

Ringen um letzte Fragen

Ein Krimi rund um die Frage: Wieweit darf ein Seelsorger auf den Sterbewunsch eines Menschen eingehen? Ueli Gremingers «Der letzte Zug. Pfarrer Bodmer unter Verdacht» ist ein spannendes «Stück narrativer Theologie» und hochaktuell im Blick auf die Kirchen, meint Christoph Gellner.

 

Seit Chestertons Father Brown gibt es eine enge Beziehung zwischen Religion und Kriminalliteratur. In jüngerer Zeit entwickelten Ulrich Knellwolf, Alfred Bodenheimer und Georg Langenhorst das Genre des Theologenkrimis zu fortsetzungsreichen Serien. Nun fügt Ueli Greminger (*1956), bis Ende 2020 reformierter Pfarrer am St. Peter in Zürich, dem sehr produktiven neueren Schweizer Kriminalroman eine interessante Variante hinzu: Der letzte Zug. Pfarrer Bodmer unter Verdacht, im Untertitel vom Autor ausgewiesen als «Ein Stück narrative Theologie im Rhythmus von drei Bob-Dylan-Songs».

 

Ein Pfarrer als Todesengel?

Peter Bodmer wird wegen dringendem Verdacht auf vorsätzliche Tötung bzw. Tötung auf Verlangen in Untersuchungshaft gesetzt und schreibt nun einen Bericht: Adressat ist der befreundete Arzt Daniel Gehring, der verstehen soll, wie es zu dem «Missverständnis» gekommen ist, er, der Pfarrer, habe ihm aus Mitleid, ja, als Freundschaftsdienst geholfen, seinem Leben ein Ende zu setzen.

«Du ein Zug, ich ein Zug»: Die kriminalistische Aufklärung erhellt Zug um Zug die Vorgeschichte und wir erfahren, wie sich die regelmässigen monatlichen Gespräche zwischen Arzt und Pfarrer, die über die Jahre immer mehr einem Schachspiel glichen, zu einem regelrechten Ringen um letzte Fragen entwickelten. «Was ihr predigt, wie kraftlos ist es geworden, dogmatisch, bieder, belanglos», lautet einer der provokativen Anwürfe des religionsscheuen Mediziners, der die Kirche immer kleiner und älter werden sieht, da sie den Draht zu den Menschen von heute verloren habe. «Ihr von der Kirche wollt immer das letzte Wort haben, auch beim Sterben. Dabei ist euer Zug längst abgefahren!»

 

Eine fatale Wendung nehmen die Gespräche, als das Thema Sterbehilfe aufkommt: Als der Arzt eine Krebsdiagnose mit maximal 6 Monaten Überlebensdauer erhält, will er sich nicht in die Hände der Kollegen und all ihren Therapien ausliefern. Genau das, was er seinen Patienten immer auszureden versuchte, hat Dr. Gehring jetzt im Sinn: «Ich entscheide. Ich will sterben, aufrecht sterben», wie er in Anlehnung an sein Lieblingslied von Bob Dylan formuliert: «lasst mich aufrecht sterben, bevor ich unter die Erde in den Bunker gehe». Im Hintergrund stehen intensive Gespräche Ueli Gremingers mit dem Winterhurer Therapeuten Peter Angst, der 2011 ein Plädoyer für selbstbestimmtes Sterben publizierte, wie Greminger im Interview mit Stephan Jütte erzählt, ihm ist das Buch gewidmet.

 

Keine Figur sein auf dem Schachbrett der anderen

«War es die Scham des Pfarrers auf der Verliererseite? Du der Arzt, der jeden Morgen auf ein volles Wartezimmer zählen kann, ich der Pfarrer, der jeden Sonntagmorgen bangen muss, ob seine Schäflein noch in die Kirche kommen», führt Bodmer die Ermittlung gegen sich selbst. «War es eine Retourkutsche? Meldete sich der verletzte Stolz? Es ist ja schon ärgerlich, immer in der Defensive zu sein, im Beruf, im Gespräch, permanentes Rückzugsgefecht, immer drei Schritte hinter dem Bedeutungsverlust der Religion», sodass es zum Rollentausch kam, er die Führung übernahm?

Angesichts des Skandals fordert der Kirchenratsschreiber von Pfarrer Bodmer, der seinen Beruf weiter ausüben will, einen Bericht zuhanden der Kirchenleitung: «Uns interessiert Ihr Gewissen, Ihr Berufsethos. Schreiben Sie über das Mitleid, über die Grenzen des seelsorgerlichen Handelns.»

«Wir beide wollten nicht konform sein, keine Figuren sein auf dem Spielbrett der anderen»: Im Zeichen von Bob Dylans Widerstandsgeist thematisiert Bodmers zweiter Bericht sein Berufs- und Theologieverständnis, das wesentlich von Sebastian Castellio inspiriert wird, der gegen Calvin, ja, jede Obrigkeit die Freiheit und Wahrheit verfocht. Wieder im Pfarramt outet er sich, was ihm den Zugang zu vielen Menschen öffnet, «die sich von der Kirche stillschweigend verabschiedet hatten, die aber doch auf der Suche nach dem Religiösen waren». Diese Kontakte verschärfen noch seine kritische Sicht auf den «durchorganisierten Leerlauf» des «kirchlichen Betriebs».

 

Jeder gute Krimi enthält eine Kryptoanthropologie

«Du ein Zug, ich ein Zug. Du als Arzt, der den Zugang zur eigenen Seele sucht, ich als Pfarrer auf dem Weg durch den Dschungel seiner Religion»: Bis zu seinen beiden Geständnissen gegenüber Gehrings Ehefrau und einem Pfarrkollegen, der ihn um eine Aushilfe angeht, bleibt Bodmers Aufklärungsarbeit bis am Ende spannend, dringt sie doch in die seelischen Zonen beider Hauptfiguren vor und lotet in einem weiten Bogen unterschiedliche Grundeinstellungen und -haltungen zum Leben aus.

Der letzte Zug von Ueli Greminger, mit dem er Daniel im letzten Perspektivenwechsel des Epilogs in eine ungeahnte Nähe zu Peter bringt – der als Winzer ein neues Leben begonnen hat und von Dylans Protestliedern zur Poesie und Spiritualität von «Every grain of sand» fand –, sei hier nicht verraten.

 

«Der letzte Zug» belegt damit eindrücklich, was den Krimi zur populärsten aller Literaturgattungen macht: die lebens- und erfahrungsnahe, ungeschminkte Erforschung, was es mit dem Menschen auf sich hat, was uns Leser im besten Sinne zum Nachdenken und zur Stellungnahme herausfordert. Gerade darin liegt der Mehrwert spannender literarischer Geschichten gegenüber jedem noch so guten Sachbuch – für Ueli Greminger der Grund, warum man Theologie erzählen muss.

 

Christoph Gellner

 

Ueli Greminger: Der letzte Zug. Pfarrer Bodmer unter Verdacht, 120 S., Theologischer Verlag Zürich 22021.

Zur Vertiefung: Andreas Mauz/Adrian Portmann (Hrsg.): Unerlöste Fälle. Religion und zeitgenössische Kriminalliteratur, Königshausen & Neumann: Würzburg 2012.

Streifzüge durch die Grenzbereiche von Mensch und Natur in Zeiten des Klimawandels

 

Wohin der menschliche Hang zur schuldhaften Verstrickung und zur Selbstermächtigung über die Natur führt, steht immerhin schon in der Genesis mehr als deutlich beschrieben: Vom falschen Baum genascht? Folge: Vertreibung aus dem Paradies, Arbeit, Geburtsschmerz. Allgemeiner menschlicher Hang zur Sündhaftigkeit (= «strukturelle Sünde»)? Folge: Überflutung der ganzen Erde, Auslöschung fast allen Lebens. Der Bau eines Wolkenkratzers in Babel? Folge: Einsturz aller Pläne, Notwendigkeit von Fremdsprachenkenntnissen.

 

Gut, das ist schlaglichtartig und theologisch stark verkürzt, aber ganz zweifellos kennen die Christinnen und Christen aus ihrem biblischen Erbe und aus ihrer Tradition zahllose Stimmen, die Gottes Schöpfung in ihrem paradiesischen Reichtum als höchst sinnvoll, erstrebenswert und einfach schön erscheinen lassen – und die umgekehrt den Menschen als ein Wesen charakterisieren, das zu gerne seine eigenen Pläne schmiedet, mit oft katastrophischen Folgen für seine Umwelt, die Natur und in der Folge sich selbst.

 

Gott in der Klimakrise

So mag es denn durchaus erstaunen, und damit kommen wir zu einer der in der Einführung herausgestellten Motivationen des Sammelbandes «Gott in der Klimakrise. Herausforderungen für Theologie und Kirche», hg. von David Plüss und Sabine Scheuter, Zürich 2021, dass diese religiösen Ressourcen und damit in Verbindung stehenden Begrifflichkeiten wie «Gott», «Schöpfung», «Paradies» in den aktuellen Debatten um die Klimakrise ausserhalb religiöser Kernkompetenzzirkel kaum noch Verwendung finden. Fehlt dadurch nicht eine wirkmächtige Stimme mit wichtigen Aussagen – und wenn ja: welche wären das? Aber bleiben wir realistisch wie die Herausgeber: dass sich heutige urbane, ökologisch interessierte Menschen der Verwendung religiös-theologischer Ressourcen befleissigen, dürfte in der entchristlichten Gegenwart doch eher ziemlich unwahrscheinlich sein!

 

Das Ziel der Herausgeber ist denn auch ein realistisches, abgeschwächtes: «[D]arstellende, analysierende und abwägende Texte» (S. 10), immerhin sechzehn an der Zahl, beschäftigen sich zunächst im ersten Teil damit, wie sich heute ökologische Sensibilität mit Handlungsoptionen verbinden lässt. Im zweiten Teil des Buches werden drei historische Schlaglichter geworfen: von biblischen Klimakrisen spannt sich dort ein Bogen bis zur kirchlichen ökumenisch-ökologischen Arbeit der letzten 50 Jahre. Der dritte Teil versammelt orientierende theologische Positionen aus einem dezidiert interreligiösen Spektrum, während im abschliessenden Teil ökologische Initiativen von Kirchengemeinden vorgestellt werden.

 

Grüne Spiritualität

Ohne auf die Beiträge im Einzelnen einzugehen, scheinen mir einzelne Anmerkungen doch ganz sinnvoll zu sein, um die Perspektiven des Sammelbandes besser einschätzen zu können. Den Reigen zum ersten Teil des Buches eröffnet Claudia Kohli Reichenbach mit einigen sehr interessanten Beobachtungen zur «Grünen Spiritualität», deren Aspekte «Beschränkung, Teilen, Verzicht, Frugalität, Demut, Gemeinschaft» (S. 24) ein übergreifendes Kennzeichen gerade für die grossen religiösen Traditionen sind. Nicht zuletzt für die protestantischen Kirchen, deren Gläubige, wie die Autorin festhält, aus ihrer eher pessimistische Weltsicht eine umso stärkere ethische Option für das eigene Handeln ableiten. Dass der religiöse Überbau für die heutigen «jungen Ökobewegten» (S. 26) keine Sinnressource und Bezugsgrösse (mehr) ist, stellt für die Autorin aber keinen sonderlichen Schmerz dar: Es ist die Liebe – hier zur Natur -, die zum Handeln bewegt, und nicht das rationale Argument oder der moralische Appell.

 

Es ist die Liebe, die zum Handeln bewegt

Daran schliesst sich natürlich die interessante Frage an, wie denn diese Liebe entstehen kann, welcher Lern- und Schutzraum dafür notwendig wäre. Antworten dazu liefern indirekt die folgenden Beiträge. Für Detlef Lienau wird ein entsprechender Raum durch das Pilgern eröffnet, indem dieses die Menschen mit sich und der Natur in ein neues Zwiegespräch bringt, wie er auch mit interessanten, vielleicht ein wenig zu glatt ausgewählten Statements nachweist. Einen Raum ähnlicher, vielleicht sogar noch wirkmächtigerer Art eröffnet Christoph Gellner durch den der Literatur. Sie ist es, die dem Menschen durch ihre Sprache, durch ihre Bilder und ihre Erzählungen einen Zugang zur Natur aus literarischen Gegenwelten eröffnet – ohne Verzweckung und Nützlichkeitserwägungen. Religion fundiert letztlich diesen «Stachel» der Literatur, wenn sie das Bewusstsein wachhält, dass Dinge einen «Eigen-Sinn» (S.45) innehaben, der sie vom Menschen unabhängig sein lässt.

 

Klima – Krise

Nicht zur Sprache gekommen ist bislang ein interessanter Begriff im Titel des Sammelbandes, nämlich «Klimakrise». Krise hat die gleiche Wortherkunft wie «Kritik» im Sinne von Urteilen und bedeutet auch genau das: im Angesicht einer Situation zu einem Urteil herausgefordert sein. Unter diesem Schwerpunkt untersucht Baldassare Scolari zwei Filme und ihre Fähigkeit, diesen Entscheidungsmoment der Klimakrise intelligent zu drehen und den Zuschauern zur Aufgabe zu geben: «Wie wollt Ihr entscheiden?»

 

Spannende Einsichten zum Mit- und Gegeneinander (!) von Gott, Schöpfung und Natur vermittelt Sara Kipfer im historischen Teil des Buches, bevor Kurt Zaugg-Ott die windungsreiche Entwicklung der kirchlichen Umweltarbeit in der Schweiz nachzeichnet. Sein Fazit, das sich teilweise auch in den Schlüssen anderer Autor:innen nachvollziehen lässt: Freiwillige Selbstverpflichtungen funktionieren nur selten, theologisch ist – zumindest für ihn – schon länger klar, dass nur radikale Umkehr hilft. Ihren persönlichen theologischen Bildungsprozess durch ökofeministische Theorien beschreibt daraufhin hochspannend und mitreissend Tania Oldenhage, denn dieser eröffnete ihr neue Zugänge, um über Gott nachzudenken – und die ökologische Katastrophe nicht als ein Thema unter vielen zu begreifen, sondern als «allgegenwärtige[n], lebensbedrohliche[n] Kontext, in dem die verschiedenen sozialen Probleme unserer Zeit verstrickt sind» (S. 98).

 

Das Christentum – eine «post-apokalyptische Religion

Im dritten Teil stechen vor diesem eher pessimistischen Hintergrund besonders diejenigen Überlegungen hervor, die mit der Theologie eine ausgewiesene Hoffnungsperspektive gegen die dystopischen Erzählungen aus Fantasy-Literatur und Science-Fiction-Filmen (Ralph Kunz) oder gegen die Furcht vor apokalyptischen Katastrophen entwerfen. Nein, da das Christentum eine «post-apokalyptische Religion» (S.122) ist, sollten sich Christen laut Georg Pleiderer entlastet sehen von der «letzten Bedrohung» (S. 124) und aus der daraus entspriessenden Freiheit neue Formen der «Verzichts- und Verantwortungsbereitschaft» (ebd.) füreinander entstehen lassen. Diese Positionen spiegeln sich wieder in den darauffolgenden Stimmen aus der Ökumene, sie finden sich aber auch wieder in durchaus vergleichbarer Form in einem interreligiösen Gespräch, das Geneva Moser mit vier Expertinnen aus Buddhismus, Christentum, Islam und Judentum führt.

 

Von der grauen Theorie in die bunte Praxis

Zum Abschluss des Bandes werden Beiträge präsentiert, die sich mit dem Übersprung von der grauen Theorie in die bunte Praxis beschäftigen. Hier kommen die unterschiedlichen Ebenen, auf denen Kirche heute ökologisches Handeln bilden, fördern und subventionieren kann (Esther Straubs Beitrag zu den Legislaturzielen des Zürcher Kirchenrats) ebenso zur Sprache wie Andreas Nufers Idee eines modernen Erntedankfestes an einer gemeinsamen Tafel mit Speisen, die ansonsten in den Müll gewandert wären («Foodsave-Bankett»). Fünf Best-Practices, wie die Kirche in ihrer Arbeit mit Kindern und Jugendlichen ökologische Themen platzieren kann, beschreibt Jessica Stürmer-Terdenge, während Stephan Jütte danach fragt, wie die Kirchen in sozialen Netzwerken wie Instagramm oder Facebook auf ihre ökologische Arbeit und ihre Positionen aufmerksam machen müssten, um gehört zu werden – und woran es heute noch hapert. Das Schlusswort des Sammelbandes gehört Jürg Liechti, der im Beitrag «Wake up: Es brennt! Ca chauffe!» beschreibt, wie der Aufruf zum Klimaschutz zu einem wahrhaft pfingstlichen Ereignis in der Kirche und darüber hinaus werden kann.

 

Theologie in Klausur

Insgesamt gesehen ist so in den Händen der Herausgeber ein Sammelband entstanden, der thematisch sehr unterschiedliche und qualitätsvolle Beiträge versammelt. Das Vorhaben der Herausgeber, das Buch als «Klausur» zu konzipieren, in der sich die Theologie Zeit nimmt, mit ihrer eigenen Sprache und im Rahmen ihres eigenen Denkens auf die Klimakatastrophe zu antworten, ist letztlich gut eingelöst worden. Eher kritisch zu sehen ist allein die Tatsache – und das verbindet dieses Buch allerdings mit so gut wie allen Veröffentlichungen zum Klimawandel –, dass eine gebündelte Überlegung dazu fehlt, aufgrund welcher Ursachen und Auswirkungen jener als negativ zu bewerten ist. In einzelnen Beiträgen blitzen immer wieder valide Schlaglichter auf (Zerstörung menschlicher Lebensgrundlage, aus der Balance geworfene Ökosysteme …) aber ein starker Anthropozentrismus bleibt weitgehender Grundtenor der Beiträge, auch wenn er interessanterweise an einigen Stellen explizit kritisiert wird. Die «Klimakatastrophe» wird deshalb im Buch insgesamt zu einem eher undifferenzierten, «gefühlten» Gegenüber, obwohl sie doch eigentlich in jeglicher Hinsicht durch den Menschen gemacht ist: Hervorgerufen durch sein Handeln an und mit den natürlichen «Ressourcen», konstruiert aufgrund der Beobachtung seiner für ihn relevanten (!) Umwelt, auf den Begriff gebracht für vorrangig seine eigenen Zwecke und Hoffnungen. Theologisch wäre aber mit Georg Pleiderers Beitrag einiges zu kritisieren am Grundtenor vieler Klimaaktivismen: Wenn wir schon nicht in der Besten aller möglichen Welten leben, wäre es um Gottes Willen schön, wenn es zumindest bliebe, wie es ist.

 

Der grosse Garten

Dass in der Natur nichts so bleibt, wie es war, und dass es zudem immer anders kommt, als erhofft, das zeigt auf charmant-amüsant-lehrreiche Weise die Schriftstellerin Lola Randl in ihrem Buch «Der grosse Garten», erschienen bei Matthes und Seitz, Berlin 2019. Vor den Augen der Lesenden entfaltet sie hier ein prächtiges Dorfpanorama im Umland von Berlin, in dem die Protagonistin (die möglicherweise autobiographische Züge der Autorin trägt) mit ihrer Familie wohnt. Der Umzug war wohl getragen vom Wunsch, durch den Umzug aufs Land irgendwie näher an der Natur «dran» zu sein, ein «natürliches Leben» führen zu können. Doch durch die dörfliche Versuchsanordnung Randls werden schnell die Grenzen des alten Slogans «Zurück zur Natur!» deutlich. Den «Ureinwohnern» des Dorfes, die ein eher handfestes Verhältnis zur Natur pflegen, sind die ehemaligen Städter suspekt, zudem kommen diese von der nahen Stadt auch nicht los – häufige Rückfahrten in die dortige Kultursphäre und zu den dortigen Liebschaften bleiben überlebensnotwendig. Umgekehrt sind es aber erst die neuzugezogenen Städter, die das eigentliche Auge für die Naturschönheit haben und für ihren Schutz einstehen.

 

Mensch zwischen Natur und Kultur

Symbolhaften Charakter bekommt der Roman schliesslich durch den sehr gut umgesetzten Kniff, den wichtigsten handelnden Personen keine Eigennamen zu geben, sondern sie nur ihrer Funktion nach zu nennen: So lesen wir vom «Liebhaber», «der Mutter», «dem Therapeuten». Dieser Verfremdungseffekt akzentuiert noch die oft zynische Komik des Buches, und er unterstreicht vor allem auch durch die damit einhergehende Unpersönlichkeit die zweite Ebene des Buches: Dieses taugt nämlich hervorragend durch seine in die Handlung eingeflochtenen zahlreichen Gartenweisheiten und Naturbeschreibungen als Handbuch für angehende Gärtner:innen. Interessanterweise gibt es auch noch eine mehr oder weniger versteckte religiöse Tiefenschicht in den dörflichen Verwicklungen, deren Entdeckung überlasse ich aber den geneigten Leser:innen.

Mein Eindruck: Selten war es vergnüglicher und lehrreicher, etwas zum heutigen Spannungsverhältnis des Menschen zwischen Natur und Kultur zu lesen – und zu den überzeitlichen Problemen, die sich daraus für die conditio humana ergeben.

Michael Hartlieb

 

David Plüss und Sabine Scheuter (Hg.) Gott in der Klimakrise. Herausforderungen für Theologie und Kirche, Zürich: TVZ 2021

Lola Randl. Der grosse Garten, Berlin: Matthes und Seitz 2019

Schöpfungsspiritualität, Theologie und Biografie

Anlässlich des 100. Geburtstags des grossen Theopoeten Kurt Marti sind aus dem Nachlass letzte Liebesgedichte erschienen, die eine enge Verbindung von Theologie und Biografie belegen. Martis erotische Theologie ist hochaktuell für eine zeitgemässe Ökospiritualität, findet Christoph Gellner.

 

Gerade rechtzeitig zu Beginn des ersten Lockdowns erhielt ich die Einladung, für den neuen Denkmal-Band Gott in der Klimakrise einen Literaturbeitrag zur Ökospiritualität beizusteuern. Was mir selber durch Gerhard Meier, Peter Handke, Marion Poschmann, Hans-Magnus Enzensberger, Silvio Blatter, Hansjörg Schertenleib, Ilija Trojanow, Andreas Maier und Christine Büchner wichtig wurde, verdichten David Plüss und Sabine Scheuter in ihrer Einleitung anhand eines Schlüsseltexts des Berner Pfarrerdichters Kurt Marti (1921–2017) aus dem Tschernobyl-Jahr 1986, „Gottes Eros“:

 

„Ist’s nicht ein Übermass, woran wir

Unsern Gott erkennen? Denn etwas tun, das not ist,

Liegt rein in der Natur, ist animalisch, mineralisch: aber

Perlmuttbrücken über den Regen schlagen

Und Märchenglanz über den Mond, heimliche Regenbögen

In den Schulp der Tiefeseemuscheln legen

Und den notwendigen Beischlaf zur Fortpflanzung

Zu Feuerschönheit anfachen,

Dass selbst das Unkraut sich nicht ohne Blüte mehrt“

– DAS, ja allerdings, ist heilige Verschwendung,

ist das Eros Gottes,

der weit über Zweck und Bedarf hinausgeht

und unsere geizigen Ichs ebenso beschämt

wie multinationale Gewinngier!

 

Und nun, du Liebender,

sollen Deine zarten Erfindungen, wilden Verschwendungen

bis zum bittern Ende vermarktet, vergiftet werden

und soll der Hinrichtung Deines Sohnes

auch die unserer Schwester, der Mutter Erde, folgen?

Nicht doch, nicht doch!

Zwing uns zur Umkehr,

führ uns zur Einsicht

durch die schöne Frau Weisheit,

die vor Dir spielte seit Anbeginn schon,

zu Deinem Entzücken.

 

Am Beginn zitiert Marti aus dem Gedicht „Gottes Exzesse“ von Robinson Jeffers (1887–1962), am Ende spielt er auf Sprüche 8,22-31 an, verbindet das Lob eines überschwänglich-verschwenderisch liebenden, ja, erotischen Gottes mit hellsichtig-scharfer Kritik ökologischer Missstände. Im Wissen, dass weniger apokalyptische Katastrophenangst uns zur Umkehr zu bewegen vermag als vielmehr die Wahrnehmung der Schönheit der Schöpfung, die sinnlich-spirituelle Tiefenerfahrung ihrer Weisheit, die die Erde zum einzigen Planeten des Lebens erwählte – das heisst: die Bibel ins Heute schreiben.

 

Glaube, Religion und Eros

In seinen Essays und Meditationen O Gott! aus dem Jahr 1986 bezeichnet Marti Glaube und Eros als Geschwister. Angesichts der Gefahr, die Schöpfung könne zurückgenommen, die Genesis widerrufen werden, sei ein „Aufstand der Biophilie (Lebensliebe) gegen die Nekrophilie (Todesliebe)“ erwacht, ein „Erdmatriotismus“, der auf der Lust zum Leben und der Lust des Lebens fusst.

Für den reformierten Pfarrerdichter ist Eros „ein elementarer Grundtrieb, in dem sich, wer weiss, der Triebgrund allen Lebens individuell manifestiert. Eros, der – so scheint es – nicht den Sinn des Lebens sucht, sondern in den Sinnen lebt und vielleicht gerade dadurch dem Sinn des Lebens am nächsten kommt.“ Ja, den Vernichtern der „Mutter Erde“ in den Arm zu fallen, um sie zu retten, „kann nur gelingen, wenn in unserem persönlichen Leben die Erotik gläubiger und der Glaube erotischer wird.“

 

[…] dass Pflanzen, Tiere, Menschen

dass alles, was lebt,

dazu ausersehen ist,

auf diesem Planeten

eine Vergänglichkeit lang

atmen, lieben, sich tummeln zu dürfen.

[…]

Ich stelle mir vor: auch

der Erdmatriot aus Nazareth

hätte das Wort Erwählung

nicht anders brauchen mögen.

                (Kurt Marti, Die gesellige Gottheit. 1989)

 

Späte Trouvaillen

Hannis Äpfel ist für mich die wichtigste Publikation zum 100. Geburtstag von Kurt Marti. Er hat diese Gedichte 2007 nach dem Tod seiner Frau Hanni Marti-Morgenthaler geschrieben, ihre grosse Bedeutung wie ihren einschneidenden Verlust verdeutlichen seine zu Lebzeiten veröffentlichten „Spätsätze“ (2010), das Motiv der Heiligen Vergänglichkeit begegnet auch im neuen Lyrikband:

Seitdem die täglich und nächtlich vertraute Zwiesprache aufgehört hat, schwinden mein Wortschatz und mein Ausdrucksvermögen.

Hoffentlich weiss sie nicht, wie unglücklich ich ohne sie bin.

Gibt es taugliche Witwer? Ich jedenfalls bin keiner.

Gott ist nie Ersatz, erst recht nicht für die lebenslang Geliebte.

In den Armen der Geliebten glaubte ich oft, dem grossen Geheimnis nahe zu sein.

Warum gibt’s keine erotische Theologie? Weil wissenschaftliche Denkweise und Sprache dem Thema nicht gewachsen sind? Allein, sind sie etwa dem Thema Gott gewachsen?

 

ach liebe ach lust – passé und verschütt!

Die von Guy Krneta, selbst Bühnenautor und Spoken Word Poet, aus dem Nachlass herausgegebenen Gedichte Hannis Äpfel sind ein berührendes Zeugnis einer alt gewordenen Liebe, voller „Zärtlichkeit und Schmerz“, so der Titel seiner berühmten Notizen aus dem Jahr 1979. Das gilt insbesondere für das Langgedicht „Hanni“, das er als kopiertes Typoskript seinen Kindern und Nächsten verteilt hat: „In kaum einem anderen Gedicht ist Kurt Marti so offen persönlich und zärtlich und zugänglich.“

 

Und nach wie vor erwache ich

selbst an dunkelsten Wintertagen

morgens um sieben,

zur Zeit, da ich jeweils

aus dem Pyjama und zu dir,

die flugs ebenfalls blutt war,

ins Nebenbett schlüpfte

zur Morgenstund

Mund an Mund,

zum Schlafvertreib

Leib an Leib –

bis zum schwarzen Tag,

da dich beim Morgenessen plötzlich

ein Hirnschlag halbseitig lähmte

und die Notambulanz kam

und mit dir

– für immer für immer –

vom Kuhnweg wegfuhr.

Seitdem ist dein Bett leer

und dein Stuhl am Esstisch

und dein Zimmer

und das ganze Haus.

 

„Es sind Betrachtungen eines Witwers, eines alleine zurückgebliebenen Orpheus im Alterslabyrinth von köstlichen Erinnerungen umsorgt und gleichzeitig von ihnen bedrängt, denn der Mangel, den er fühlt, ist unendlich“, charakterisiert Nora Gomringer treffend die Zeilen „des lebensmüd-hoffenden, sehnsuchtsvollen Mannes, der wie keiner Liebe und Lust im Alter beschreibt“. Der ein Leben evoziert, „das einmal aus Zweien bestand, eben aus Zweien im Alltag, im Miteinander und durch die Jahre“. Diese Zweisamkeit war die Erfahrungsbasis, der „Sitz im Leben“ von Kurt Martis erotischer Theologie:

 

Dein Grab, ach.

Die letzte Ruhestätte

(sagt man).

Zwischen Gesträuch und Gräbern

huschen Eichhörnchen

lautlos hin und her.

Mir fallen Rilkes

beiläufige Zeilen ein:

„Pour trouver Dieu

il faut être heureux.“

 

Christoph Gellner

 

 

Christoph Gellner, Dr. theol., ist Experte für Literatur und (Welt-) Religion(en) und Mitglied der Gesellschaft zur Erforschung der Deutschschweizer Literatur G.E.D.L.

Kurt Marti: Hannis Äpfel. Gedichte aus dem Nachlass. Hrsg. v. Guy Krneta, Nachwort von Nora Gomringer, Göttingen: Wallstein 2021.

Ders., Heilige Vergänglichkeit. Spätsätze. Stuttgart: Radius 2010.

Gott in der Klimakrise. Herausforderungen für Theologie und Kirche, hrsg. v. David Plüss u. Sabine Scheuter, Zürich: TVZ 2021 (darin: Christoph Gellner, „…es reicht nicht aus, ‚Gott‘ durch ‚Gaia‘ zu ersetzen“. Ökospirituelle Diskurse in der Gegenwartsliteratur, 35–46).

 

Jesus Christus im Spiegel der Weltreligionen

Intensivkurs

Lassen Sie sich bewegen

 

Weihnachten angesichts der Pandemie: Allein zu Hause sein, in Solidarität mit vulnerablen Personen, auf der Suche nach alternativen Ritualen zur Besinnung, wissend um die heilsame Wirkung von Musik und Bewegung für Leib und Seele…

 

Das Lied von der Stillen Nacht, der Heiligen Nacht

An Weihnachten 1818 in Oberndorf im Salzburger Land zum ersten Mal von Xaver Gruber (Melodie) und Joseph Mohr (Text) aufgeführt, damals mit sechs Strophen, wurde das Lied in 320 Sprachen übersetzt und 2011 von der UNESCO als immaterielles Weltkulturerbe Österreichs anerkannt. Das Lied mit den tröstenden Worten und der eingängigen Melodie verbindet Menschen unabhängig von Herkunft, Alter und Religion.

Dazu noch eine Anregung aus einem Altenheim: An Heiligabend um 16.00 Uhr wurde Jahr für Jahr ein Wortgottesdienst gefeiert, vorbereitet vom „Liturgiekreis“, also von Bewohnerinnen des Hauses, unterstützt von der Abteilung der Beschäftigungsangebote. Das Singen des Liedes „Stille Nacht, heilige Nacht“ wurde wegen seiner grossen emotionalen Wirkung nach draussen verlegt, in den Hof, in den Übergang zwischen Gottesdienst und festliches Abendessen in den Wohnbereichen. In der U-Form des Hauses konnten nun noch viele weitere Menschen aus den Fenstern zuhören und -schauen. Manchmal kamen Nachbarskinder dazu, um von den Wunderkerzen, die hierbei entzündet wurden, auch einige zu bekommen.

Wenn Sie in diesem Jahr besser andere für sich singen lassen, beispielsweise auf CD, so können Sie sich doch mit der Musik vom Wunder der Nacht bewegen lassen. In geschlossenen Räumen können Sie auch fluoreszierende Party-Armbänder nutzen, im langsamen Walzertakt als Stäbchen in der Hand oder am Handgelenk befestigt.

 

Lassen Sie sich bewegen

Manchmal haben die bekannten Advents- und Weihnachtslieder eine bewegende Geschichte… Hören Sie Weihnachtslieder aus aller Welt: Welcher kulturelle Hintergrund vollzieht sich da hörbar, welche Bräuche machen die Advents- und Weihnachtszeit aus?

Als Beispiel sei das bekannte italienische Lied „Santa Lucia“ genannt, 1849 veröffentlicht von Teodore Cottrau. Text und Melodie stammen aus Napoli. Nicht Nikolaus bringt gute Gaben am 6. Dezember, sondern die Kinder erhalten die Süßigkeiten am 13. Dezember, dem Lichterfest der Heiligen Luzia, das auch im weit entfernten Schweden gefeiert wird. Die Heilige lebte in Sizilien und brachte nachts Lebensmittel zu den Armen, den Lichterkranz trug sie zur Beleuchtung auf dem Kopf, um die Hände zum Transport der Gaben frei zu haben.

Eine sizilianische Folkloremusik, den dortigen Fischern zugeschrieben, wurde in Italien zur Marienverehrung genutzt „O sanctissima“. Den deutschen Text „Oh Du fröhliche“ widmete Johannes Falk 1815 den Zöglingen in seinem „Rettungshaus für verwahrloste Kinder“ in Weimar. Die heute bekannten Strophen zwei und drei wurden von seinem Gehilfen Heinrich Holzschuher bereits für das Weihnachtsfest 1817 hinzugedichtet. Falk gründete sein Rettungsheim, nachdem er von seinen sieben Kindern vier durch eine Typhusseuche verloren hatte.

 

Viele Kinder singen Lieder mit Bewegungen. Die Erwachsenen machen die Bewegungen zur Kinder-Weihnachtsmusik mit, lassen sich die Gestik der Lieder beibringen oder denken sich neue Choreographien aus. Je weniger kleine Bewegungswechsel und Bilder genutzt werden, desto mehr Meditation und spiritueller Ausdruck ist den meisten Menschen dann möglich.

Besitzen Sie die CDs der Jugendseelsorge Thurgau mit den Volkstänzen? Nicht alle Vorschläge sind wild, z. B. der ruhige „Sonnentanz“ oder das „rumänische Wiegenlied“, – und vieles ist auch ohne Paarübung tanzbar. Wir tanzen!

 

Das englische Weihnachtslied „Hark The Herald Angels Sing“ ist Ihnen vielleicht bekannt in der gesungenen Version von Mahalia Jackson. Diese Musik wurde von Felix Mendelssohn-Bartholdy (1809 – 1847) zur Ehrung der Buchdruckerkunst geschrieben, eine Verwendung für geistliches Liedgut lehnte der Komponist explizit ab. Der englische Text geht auf Charles Wesley und George Whitefield zurück und wurde 1739 zuerst veröffentlicht. Eine vom Aachener Domprobst Rolf-Peter Cremer vorgestellte deutsche Text-Version von Johannes Jourdan (1923 – 2020) stellt die Erwartungen auf den in den Mittelpunkt, der alle Erwartungen übertrifft und nichts von den Menschen erwartet.

  1. In das Warten dieser Welt fällt ein strahlend helles Licht. Weit entfernt von dem Gedränge klingt die Stimme, die da spricht:

Refrain: Sehet auf, der Retter kommt. Wachet auf und seid bereit, denn der Herr erlöst sein Volk wunderbar zu seiner Zeit. Denn der Herr erlöst sein Volk wunderbar zu seiner Zeit.

  1. In die Trauer greift Gott ein, er ist nahe dem, der weint. Dass auch in der tiefsten Not uns das Licht der Hoffnung scheint. Sehet auf, der Retter kommt…
  2. Neues Leben zieht dort ein, wo die Herzen müde sind. Gottes Geist weht durch das Land wie ein frischer Morgenwind. Sehet auf, der Retter kommt….

 

Verena Foitzik, Musiktherapeutin und Dipl. Sozialpädagogin, Aachen (D)

 

Stille Nacht – Heilige Nacht?

 

Ob im Jahr 2020 an Weihnachten gesungen werden darf, ist zum Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen geworden. Insbesondere das Lied „Stille Nacht, Heilige Nacht“ wird häufig zitiert, erhält der Titel doch angesichts der Corona-Pandemie eine traurige Doppelbedeutung.

Ja, dieses Bild von einer stillen Heiligen Nacht ist wohl weltbekannt. Auch nicht am Christentum interessierte Menschen feiern häufig die damit gemeinte Weihnacht, also die Nacht zum 25. Dezember, als ein Fest der Familie, der Freude, des Friedens, der Liebe und der Hoffnung.

Viele Assoziationen sind dem Bild und Gedanken verbunden: Das Lied von der stillen, der Heiligen Nacht ist in viele Sprachen übersetzt, wurde von berühmten Interpreten und Interpretinnen eingesungen, ist in viele Bläser-Ensemble-Noten gesetzt oder ist als Streichorchesterwerk spielbar, es wird begleitet beispielsweise von Orff-Instrumenten etc. Den Text haben Menschen oft auswendig parat oder sie kennen mindestens die erste Strophe. Menschen sind von der Szene berührt: Eltern wachen einsam über ihr neugeborenes Kind und dessen Schlaf und Sicherheit. Es ist ein hübscher Junge, also „holder Knabe“, der da schläft in himmlischer Ruh´.

Allerdings wird das Fest selbst nicht überall auf der Welt mit Stille verbunden: In manchen Kulturen, und zumal im dritten Jahrtausend, wird das Fest der Geburt Jesu eher fröhlich, laut und bunt, mit Party, am Strand, mit oder ohne Krippe gefeiert. Es ist ein weltumspannendes Fest, das auf Sommer- oder Wintersonnenwende gleichermaßen verteilt ist.

 

Warum spielt die Musik gerade in der Weihnacht eine so große Rolle?

Eine kleine Betrachtung aus musiktherapeutischer Sicht: Alle Menschen sind musikalisch, denn sie haben eine Melodie, die Atmung, und einen Beat, den Herzschlag. Auch eine Beatmungsmaschine und ein Herzschrittmacher ändern nichts an diesen beiden musikalischen Parametern, solange wir am Leben sind.

Die Trennung von Bewegung und Musik ist historisch und soziologisch als Kulturentwicklung einzuordnen. Ebenso muss die Selbsteinschätzung mancher Menschen, „unmusikalisch“ zu sein, als Lernerfahrung gewertet werden. Mutmasslich ist Gesang aus Sprache und dem Nachahmen von Tierrufen entstanden, das Stampfen als frühe Tanzform zu sehen und Klatschen als erste Instrumentennutzung. Ähnlich darf das Zusammenführen der Handflächen zur inneren Sammlung oder Meditation als gemeinsame menschliche spirituelle Haltung gesehen werden.

In verschiedenen kulturellen Kontexten nutzt und nutzte man die Musik und ihre Wirkung z. B. zur Meditation, für Feste, zum Trauern oder zur Heilung erkrankter Menschen, aber auch zur Steigerung der Kampfbereitschaft im Krieg.

Abraham Maslow (1908 – 1970), ein amerikanischer Psychologe, hat die Bedürfnisse des Menschen in eine fünfstufige hierarchische Pyramide eingeteilt. Sie besagt, dass ein Individuum zunächst die Grundbedürfnisse, wie Schlaf Hunger und Durst, befriedigen muss, dann für seine Sicherheit sorgt, zu der auch Kleidung und Unabhängigkeit zählen. Danach ist der Mensch mit seinen sozialen Bedarfen, wie Lob, Vertrauen sowie der Wertschätzung beschäftigt, zu der auch Kompetenzerwerb und Geldverdienen gehören und schließlich mit dem Bedürfnis nach Selbstentfaltung, zu der auch die Religion zählt. Die Bedürfnisstufen können nicht dauerhaft übersprungen werden.

Musiziert hat der Mensch also offensichtlich bereits in dem Moment, als er sich niederließ und nicht mehr nur von der Jagd lebte. Zunächst war Musik für spirituelle Zwecke bestimmt, in einigen Kulturen gilt das bis heute. Und Tanz, spiritueller Gesang und Body-Percussion sind manchmal eine Einheit geblieben, z. B. in Bali oder Kamerun.

Weihnachten verbindet musikalisch gesehen das Bedürfnis, innere emotionale und kognitive Vorgänge, wie Glaube, Hoffnung, Liebe, Freude, Frieden auszudrücken, und gleichzeitig kommt Bewegtheit über Rituale auf, wie z. B. das als schön empfundene Weihnachtslieder singen. Die Erinnerungen bahnen sich gerade in der Musik ihren Weg zur Wahrnehmung, und der Trost in der Botschaft der Geburt eines kleinen Kindes erreicht den Menschen gleichsam einem Wiegenlied.

 

Musik wirkt immer.

Musik ist von Anfang an sowohl ein Mittel, um innere Vorgänge auszudrücken, als auch eine Quelle für das persönliche Wohlbefinden. Es gibt allerdings keine richtige oder falsche Musik und auch keine bestimmte Musik, die für alle Menschen die gleiche Wirkung hat. Ob sie uns guttut oder ob sie dem Individuum angenehm ist, hängt jeweils von der passenden Musik im passenden Moment ab.

Der französische HNO-Arzt Dr. Alfred Tomatis (1920 – 2001) beschäftige sich vor allem mit der Verbindung von Stimme, Gehirn und Ohr. Mitte des letzten Jahrhunderts fand er heraus, dass Menschen schon vor der Geburt im Mutterleib hören können, Töne müssen in etwa klingen wie Gesänge der Wale. Eine besondere Bedeutung hat dabei die hohe Stimme, aber auch die tiefere Stimme (des Vaters) ist dem Baby ggf. bereits nach der Geburt bekannt.

Und der Mensch kann hören bis zum Tod, ja, er muss es sogar. Denn das Ohr kann man nicht wie die Augen schließen. Auch Hörgeschädigte hören in der letzten Lebensphase wieder mehr. Manche Menschen hören die Sprechstimme schon lange nicht mehr, können aber noch Töne in bestimmten, eingeschränkten Frequenzbereichen vernehmen. Verschiedene Gehörerkrankungen bewirken ein verzerrtes oder schemenhaftes Hören. Laute Musik, starke Rhythmen oder Höhenextreme erklingen bei Höreinschränkungen besonders verändert.

 

Musik bewegt uns.

Im wahren Wortsinn schwingen wir mit und emotional kommt die Bewegtheit deshalb zum Tragen. In neurologischen Forschungen wurden Hirnreaktionen auf Musik registriert. Die Schwingungen können schmerzlindernd sein, aber auch schmerzhaft oder unvorteilhaft. In jedem Fall wirkt Musik.

Sie können dazu selbst einen kleinen Test machen: Füllen Sie eine Klangschale mit etwas Wasser und lassen Sie die Klangschale durch festes Kreisen des Schlegels am oberen Rand dauerhaft ertönen: Das Wasser zeigt die Schwingungen als Kräuselung und schließlich mit Spritzen deutlich an. Im menschlichen Körper, besonders in der Gehirnmasse, ist recht viel Wasser enthalten, so schwingen auch wir Menschen.

 

Musik ist sehr intim.

Da sie uns immer erreicht (organisch) und Emotionen auslöst (physikalisch) sind wir mit Musik sehr nahe am Gegenüber. Deshalb muss besonders beim Musizieren der Ausgleich zwischen Nähe und Distanz beachtet werden. Dies gilt auch für Differenzen bezüglich Musik-Vorlieben. Es kann eben sehr schön sein, in einer Gruppe Weihnachtslieder zu singen und ein „Wir-Gefühl“ zu erleben. Ein Gegenbeispiel für die negative Auswirkung des Hörens von Musik in der Gruppe wäre das Gefühl der Einsamkeit, das sich bei guter Partymusik mitten unter fröhlichen Menschen auf der Tanzfläche einstellen kann, weil man sich persönlich gerade nicht in Partystimmung befindet. In der therapeutischen Einzelarbeit mit Musik müssen die Signale des Gegenübers sehr deutlich und aufmerksam beobachtet werden und das weitere Vorgehen entsprechend angepasst werden.

 

Musik weckt Emotionen und unterstützt den Ausdruck von Emotionen

Auch Emotionen sind bereits vorgeburtlicher Natur. Erinnerungen reichen im Unterbewusstsein ebenso in die pränatale Phase zurück. Ausser unseren fünf Sinnen haben wir noch die Emotionen und die Erfahrungen, die zusammen mit der Gedankenleistung des Gehirnes unsere Wahrnehmung und Verarbeitung der immer neuen Einflüsse prägen. Emotionen und Erinnerungen bleiben auch bei erworbener Hirnschädigung durch Schädeltraumata, bei Stürzen und Unfällen, oder durch Erkrankungen, wie Demenz, erhalten, auch wenn sie nicht verbalisiert werden können. In der Regel wird die emotionale Wahrnehmung bei Ausfall der Sinne oder der Kognition, wie beim Apallischen Syndrom (früher Wachkoma) oder bei einer Immobilität durch schwere körperliche und funktionale Störungen und damit verbundenen Behinderungen besonders geschärft.

Vier Grundgefühle differenziert ein Mensch im Laufe seines Lebens aus: Wut, Angst, Trauer und Freude. Während Wut den Angriff antreibt und Angst die Flucht, sind Freude und Trauer körperliche Entspannungszustände, die ihre Ausdrucksform benötigen. Die sogenannte „emotionale Abfuhr“ ist folglich nicht nur zur Erhöhung der Lebensqualität unabdingbar, sondern existenziell menschlich notwendig, um an Leib und Seele (Vitalität und Psyche) gesund, weil integer zu bleiben.

 

Vitalität und Psyche des Menschen werden also durch Musik positiv beeinflusst?

Gerade beim Singen wird die Atemmuskulatur präventiv gestärkt, das Gehirn durch oben genannte Schwingungen bewegt, die Erinnerung an Liedtexte erhält besonders bei älteren Menschen die Ressourcen. Dies führt in „Corona-Zeiten“ zu einer paradoxen Situation: Singen ist nicht angezeigt, weil die Aerosole beim Singen eine größere Reichweite haben als beim Sprechen.

 

Kehren wir zurück zur Heiligen Nacht 2020. In unserem Umfeld wird die stille Nacht in diesem Jahr stiller als üblich sein, verursacht durch eine Pandemie, die die Menschheit zwar weltumspannend sozusagen „schicksalshaft“ verbindet, aber zugleich im Einzelfall sehr einsam machen kann?

Ja, unser Bewegt-Sein vom Geschehen kann zwar nicht im Gesang Ausdruck finden und keine Bachtrompete kann die Emotion herausspielen, die festliche Stimmung beim klassischen Weihnachtskonzert wird nicht live erlebbar sein.

Wir Menschen müssen uns also ohne Gesang annähern. Wir sollten neue Rituale erfinden, um die Botschaft des Festes der Hoffnung, des Friedens und der Liebe gerade unter „Corona“-Bedingungen erfahren und teilen zu können. Oder lassen Sie andere für sich singen. Und Bewegung ist auch in der Stille möglich.

Vielen Dank für die heilsamen Gedanken und Anregungen!

 

Literaturtipps:

Michels, Ulrich: DTV Atlas zur Musik, Band 1 und 2, 4. Auflage 2008: Erscheint aktualisiert in immer neuen Auflagen. Band 1: Systematischer Teil (u.a. Entstehung von Musik, kultische Zwecke, Wellen und Schwingungen von Tönen), Musikgeschichte von den Anfängen bis zur Renaissance; Band 2: Musikgeschichte vom Barock bis zur Gegenwart (u.a. auch Improvisation).

Gruhn, Winfried: Kinder brauchen Musik – Musikalität bei kleinen Kindern entfalten und fördern, Beltz-Verlag Weinheim, Basel, Berlin 2003. Das Buch soll Angehörige wie Professionelle unterstützen, die musikalische Entwicklung von Kindern zu sehen und individuell passend zu fördern. Besonders: Kapitel „Musik und ihre Wirkung“.

Hess, Peter, Zurek, Petra Emily: Klangschalen – Mit allen Sinnen spielen und lernen; Kösel-Verlag München; 2. Auflage 2011

Kreusch-Jacob, Dorothee: Musikerziehung; Don Bosco Verlag München 1995; „Elementare Musik ist nie allein, sie ist mit Bewegung, Tanz und Sprache verbunden, sie ist eine Musik, die man selbst tun muss, in die man nicht als Hörer, sondern als Mitspieler einbezogen ist… Carl Orff“

Theilen, Ulrike: Mach Musik! Rhythmische und musikalische Angebote für Menschen mit schweren Behinderungen; Ernst Reinhard Verlag München Basel 2004

Zimmermann, Jürgen: JUBA – Die Welt der Körperpercussion; Techniken, Rhythmen, Spiele; 2. Auflage 2000; Fidula-Verlag, Boppard am Rhein

 

Verena Foitzik, Musiktherapeutin und Dipl. Sozialdäagogin (FH), lebt und arbeitet in Aachen (D).

Auf Weihnachten zu

 

göttlicher seitenwechsel

vom himmlischen thron

in einen futtertrog

 

statt in kultisch weisser weste

unrein bei den ausgesetzten

 

raus aus dem männerclub der patriarchen

der frauenfreund lässt sich berühren

 

der könig aus der andern welt

gekreuzigt wie ein sklave

 

aus der kalten gruft der toten

transit in ein grenzenloses land[1]

 

 

sind so kleine füsse

das kind von betlehem

im winzigen das wunder

 

nicht auf grossem fuss

im kleinsten ein glanz

 

jedes menschenkind

ein fussweg zu gott[2]

 

 

geht mir nach

schuhgrösse unbekannt

er ging barfuss

 

du musst dich nicht

in fremde stiefel zwängen

 

in seinen fussstapfen aber

leuchten göttliche spurenelemente

 

nur wenn du ihn von innen spürst

folgst du wirklich seinen spuren[3]

 

 

[1]Andreas Knapp: ganz knapp. Gedichte an der Schwelle zu Gott, Echter: Würzburg 2020, 88.

[2]Ebd., 84.

[3]Ebd., 89.

Der Unfehlbare

 

Dieser Beitrag ist in gewisser Weise das Antidot zu meiner anderen Besprechung in dieser Ausgabe von «Prisma». Hubert Wolf, der wohl kenntnis- und einflussreichste Spezialist für die kirchengeschichtliche Epoche seit der französischen Revolution, zeichnet nämlich in seinem aktuellen Buch «Der Unfehlbare» nach, wie das Papsttum in seiner heute gültigen Form und Gestalt erst im Laufe des 19. Jahrhunderts geschaffen worden ist.

 

Wenn wir heute eine Sozialenzyklika wie «Fratelli tutti» lesen und dabei gar nicht mehr hinterfragen, warum und wieso der Papst überhaupt auf die Idee kommt, etwas zum angemessenen Zusammenleben nicht nur der Christinnen und Christen weltweit, sondern sogar letztlich aller Menschen zu sagen – dann ist das auch ein Ergebnis einer völligen Neukonzeption des Papsttums im vorletzten Jahrhundert.

Den Weg dorthin erläutert Wolf entlang der Vita des Mannes, der später als Papst Pius IX. sowohl den berüchtigten «Syllabus Errorum» (eine Verdammung von 80 Irrtümern der zeitgenössischen modernen Welt) verfassen als auch beim 1. Vatikanischen Konzil mit der Hilfe einflussreicher Fürsprecher dafür sorgen wird, dass das päpstliche Lehramt fürderhin unter bestimmten Umständen als unfehlbar zu gelten hat: Giovanni Maria Mastai Ferretti (1792 – 1878). In der italienischen Provinz in eine Adelsfamilie hineingeboren, ist er zunächst ein glühender Verehrer Napoleons und lebt ein seiner adeligen Herkunft angemessenes Leben. Wolf stellt anschaulich und informativ dar, welche schwierigen Auswirkungen die Jahrzehnte nach der Französischen Revolution für die Kirche, ihre Vertreter und ihre Güter haben. Durchaus kann man Verständnis dafür aufbringen, dass der schliesslich Priester gewordene Mastai Ferretti seine jugendlichen Idealisierungen gegen eine gewisse Distanz gegenüber der neuen Zeit eintauscht, zumal der Kirchenstaat, der damals weite Teile Italiens umfasst, in seiner Existenz immer stärker bedroht wird – mit potenziell weitreichenden Auswirkungen auf seine weitgehend agrarisch lebende Bevölkerung. Dass sich diese Distanz aber schliesslich zu einem geradezu übersteigerten Hass auf die Moderne mit ihren Freiheitsrechten und zu einer vollständigen Ablehnung der neuen Gesellschaftsordnung ausweitet – das hat auch viel mit dem leicht beeinflussbaren Charakter des Papstes und seinen mächtigen Einflüsterern zu tun, wie Wolf hier ausführlich und mit feiner Ironie nachzeichnet.

 

Dass die Kirche nach seinem Pontifikat, übrigens das längste (1846-1878) in der ganzen Geschichte des Papsttums, erscheint wie ein bis an die Zähne bewaffnetes Bollwerk gegen die Moderne, dass Pius IX. und seine Mannen dafür sorgen, dass der Katholizismus vereinheitlicht wird und viele Traditionen neu erfunden werden – das gibt uns heute den Schlüssel, um den Reformstau auf vielen Ebenen in der katholischen Kirche richtig zu deuten.

Denn auch wenn das 2. Vatikanische Konzil den Schlussstein hinter die Ära Pius IX. gelegt hat und die Türen der Kirche für die wirkliche, nicht nur kirchliche Wirklichkeit weit geöffnet hat: Viele erfundene Traditionen und scheinbar kirchliche Ewigkeiten prägen die Kirche bis heute, werden ganz normal zu dem Bestand gezählt, von dem es heisst, er sei «gut katholisch».

 

Um zum Anfang dieses Beitrags zurückzukommen: In einem beeindruckenden Schlusskapitel stellt Wolf dar, wie fundamental Pius IX. mit seinem Pontifikat das allgemeine Verständnis davon, was zur Rolle, mithin zu den Aufgaben und Pflichten des Papsts gehört, geprägt hat. Als erster «Medienpapst» der Geschichte war er nämlich nun als Person sichtbar für alle, seine Auftritte konnten medial verfolgt werden, seine Aussagen hinterfragt und gedeutet – es begann dadurch insgesamt eine Zentrierung auf den Papst, der zunehmend als alleiniger Repräsentant der ganzen Kirche wahrgenommen wurde. Auch wenn sich seine Nachfolger bis zu den Päpsten unserer Tage in Gestus, Theologie und Botschaft radikal von ihm unterscheiden: Dass die Ortskirchen bei allen schwierigen theologischen Streitfällen immer zuerst nach Rom schauen, dass der Papst weltweit und über alle Religionsgemeinschaften hinweg eine so tonangebende Rolle spielt, dass Sozialenzykliken auch von Menschen gelesen werden, die religiös völlig unmusikalisch sind – das ist auch das Ergebnis des Pontifikats eines kleinen italienischen Landadligen vor über 150 Jahren.

Michael Hartlieb

 

Hubert Wolf, Der Unfehlbare. Pius IX. und die Erfindung des Katholizismus im 19. Jahrhundert. München: C.H. Beck 2020.

 

 
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