Ringen um letzte Fragen

     

Ein Krimi rund um die Frage: Wieweit darf ein Seelsorger auf den Sterbewunsch eines Menschen eingehen? Ueli Gremingers «Der letzte Zug. Pfarrer Bodmer unter Verdacht» ist ein spannendes «Stück narrativer Theologie» und hochaktuell im Blick auf die Kirchen, meint Christoph Gellner.

 

Seit Chestertons Father Brown gibt es eine enge Beziehung zwischen Religion und Kriminalliteratur. In jüngerer Zeit entwickelten Ulrich Knellwolf, Alfred Bodenheimer und Georg Langenhorst das Genre des Theologenkrimis zu fortsetzungsreichen Serien. Nun fügt Ueli Greminger (*1956), bis Ende 2020 reformierter Pfarrer am St. Peter in Zürich, dem sehr produktiven neueren Schweizer Kriminalroman eine interessante Variante hinzu: Der letzte Zug. Pfarrer Bodmer unter Verdacht, im Untertitel vom Autor ausgewiesen als «Ein Stück narrative Theologie im Rhythmus von drei Bob-Dylan-Songs».

 

Ein Pfarrer als Todesengel?

Peter Bodmer wird wegen dringendem Verdacht auf vorsätzliche Tötung bzw. Tötung auf Verlangen in Untersuchungshaft gesetzt und schreibt nun einen Bericht: Adressat ist der befreundete Arzt Daniel Gehring, der verstehen soll, wie es zu dem «Missverständnis» gekommen ist, er, der Pfarrer, habe ihm aus Mitleid, ja, als Freundschaftsdienst geholfen, seinem Leben ein Ende zu setzen.

«Du ein Zug, ich ein Zug»: Die kriminalistische Aufklärung erhellt Zug um Zug die Vorgeschichte und wir erfahren, wie sich die regelmässigen monatlichen Gespräche zwischen Arzt und Pfarrer, die über die Jahre immer mehr einem Schachspiel glichen, zu einem regelrechten Ringen um letzte Fragen entwickelten. «Was ihr predigt, wie kraftlos ist es geworden, dogmatisch, bieder, belanglos», lautet einer der provokativen Anwürfe des religionsscheuen Mediziners, der die Kirche immer kleiner und älter werden sieht, da sie den Draht zu den Menschen von heute verloren habe. «Ihr von der Kirche wollt immer das letzte Wort haben, auch beim Sterben. Dabei ist euer Zug längst abgefahren!»

 

Eine fatale Wendung nehmen die Gespräche, als das Thema Sterbehilfe aufkommt: Als der Arzt eine Krebsdiagnose mit maximal 6 Monaten Überlebensdauer erhält, will er sich nicht in die Hände der Kollegen und all ihren Therapien ausliefern. Genau das, was er seinen Patienten immer auszureden versuchte, hat Dr. Gehring jetzt im Sinn: «Ich entscheide. Ich will sterben, aufrecht sterben», wie er in Anlehnung an sein Lieblingslied von Bob Dylan formuliert: «lasst mich aufrecht sterben, bevor ich unter die Erde in den Bunker gehe». Im Hintergrund stehen intensive Gespräche Ueli Gremingers mit dem Winterhurer Therapeuten Peter Angst, der 2011 ein Plädoyer für selbstbestimmtes Sterben publizierte, wie Greminger im Interview mit Stephan Jütte erzählt, ihm ist das Buch gewidmet.

 

Keine Figur sein auf dem Schachbrett der anderen

«War es die Scham des Pfarrers auf der Verliererseite? Du der Arzt, der jeden Morgen auf ein volles Wartezimmer zählen kann, ich der Pfarrer, der jeden Sonntagmorgen bangen muss, ob seine Schäflein noch in die Kirche kommen», führt Bodmer die Ermittlung gegen sich selbst. «War es eine Retourkutsche? Meldete sich der verletzte Stolz? Es ist ja schon ärgerlich, immer in der Defensive zu sein, im Beruf, im Gespräch, permanentes Rückzugsgefecht, immer drei Schritte hinter dem Bedeutungsverlust der Religion», sodass es zum Rollentausch kam, er die Führung übernahm?

Angesichts des Skandals fordert der Kirchenratsschreiber von Pfarrer Bodmer, der seinen Beruf weiter ausüben will, einen Bericht zuhanden der Kirchenleitung: «Uns interessiert Ihr Gewissen, Ihr Berufsethos. Schreiben Sie über das Mitleid, über die Grenzen des seelsorgerlichen Handelns.»

«Wir beide wollten nicht konform sein, keine Figuren sein auf dem Spielbrett der anderen»: Im Zeichen von Bob Dylans Widerstandsgeist thematisiert Bodmers zweiter Bericht sein Berufs- und Theologieverständnis, das wesentlich von Sebastian Castellio inspiriert wird, der gegen Calvin, ja, jede Obrigkeit die Freiheit und Wahrheit verfocht. Wieder im Pfarramt outet er sich, was ihm den Zugang zu vielen Menschen öffnet, «die sich von der Kirche stillschweigend verabschiedet hatten, die aber doch auf der Suche nach dem Religiösen waren». Diese Kontakte verschärfen noch seine kritische Sicht auf den «durchorganisierten Leerlauf» des «kirchlichen Betriebs».

 

Jeder gute Krimi enthält eine Kryptoanthropologie

«Du ein Zug, ich ein Zug. Du als Arzt, der den Zugang zur eigenen Seele sucht, ich als Pfarrer auf dem Weg durch den Dschungel seiner Religion»: Bis zu seinen beiden Geständnissen gegenüber Gehrings Ehefrau und einem Pfarrkollegen, der ihn um eine Aushilfe angeht, bleibt Bodmers Aufklärungsarbeit bis am Ende spannend, dringt sie doch in die seelischen Zonen beider Hauptfiguren vor und lotet in einem weiten Bogen unterschiedliche Grundeinstellungen und -haltungen zum Leben aus.

Der letzte Zug von Ueli Greminger, mit dem er Daniel im letzten Perspektivenwechsel des Epilogs in eine ungeahnte Nähe zu Peter bringt – der als Winzer ein neues Leben begonnen hat und von Dylans Protestliedern zur Poesie und Spiritualität von «Every grain of sand» fand –, sei hier nicht verraten.

 

«Der letzte Zug» belegt damit eindrücklich, was den Krimi zur populärsten aller Literaturgattungen macht: die lebens- und erfahrungsnahe, ungeschminkte Erforschung, was es mit dem Menschen auf sich hat, was uns Leser im besten Sinne zum Nachdenken und zur Stellungnahme herausfordert. Gerade darin liegt der Mehrwert spannender literarischer Geschichten gegenüber jedem noch so guten Sachbuch – für Ueli Greminger der Grund, warum man Theologie erzählen muss.

 

Christoph Gellner

 

Ueli Greminger: Der letzte Zug. Pfarrer Bodmer unter Verdacht, 120 S., Theologischer Verlag Zürich 22021.

Zur Vertiefung: Andreas Mauz/Adrian Portmann (Hrsg.): Unerlöste Fälle. Religion und zeitgenössische Kriminalliteratur, Königshausen & Neumann: Würzburg 2012.