Stille Nacht – Heilige Nacht?

     

 

Ob im Jahr 2020 an Weihnachten gesungen werden darf, ist zum Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen geworden. Insbesondere das Lied „Stille Nacht, Heilige Nacht“ wird häufig zitiert, erhält der Titel doch angesichts der Corona-Pandemie eine traurige Doppelbedeutung.

Ja, dieses Bild von einer stillen Heiligen Nacht ist wohl weltbekannt. Auch nicht am Christentum interessierte Menschen feiern häufig die damit gemeinte Weihnacht, also die Nacht zum 25. Dezember, als ein Fest der Familie, der Freude, des Friedens, der Liebe und der Hoffnung.

Viele Assoziationen sind dem Bild und Gedanken verbunden: Das Lied von der stillen, der Heiligen Nacht ist in viele Sprachen übersetzt, wurde von berühmten Interpreten und Interpretinnen eingesungen, ist in viele Bläser-Ensemble-Noten gesetzt oder ist als Streichorchesterwerk spielbar, es wird begleitet beispielsweise von Orff-Instrumenten etc. Den Text haben Menschen oft auswendig parat oder sie kennen mindestens die erste Strophe. Menschen sind von der Szene berührt: Eltern wachen einsam über ihr neugeborenes Kind und dessen Schlaf und Sicherheit. Es ist ein hübscher Junge, also „holder Knabe“, der da schläft in himmlischer Ruh´.

Allerdings wird das Fest selbst nicht überall auf der Welt mit Stille verbunden: In manchen Kulturen, und zumal im dritten Jahrtausend, wird das Fest der Geburt Jesu eher fröhlich, laut und bunt, mit Party, am Strand, mit oder ohne Krippe gefeiert. Es ist ein weltumspannendes Fest, das auf Sommer- oder Wintersonnenwende gleichermaßen verteilt ist.

 

Warum spielt die Musik gerade in der Weihnacht eine so große Rolle?

Eine kleine Betrachtung aus musiktherapeutischer Sicht: Alle Menschen sind musikalisch, denn sie haben eine Melodie, die Atmung, und einen Beat, den Herzschlag. Auch eine Beatmungsmaschine und ein Herzschrittmacher ändern nichts an diesen beiden musikalischen Parametern, solange wir am Leben sind.

Die Trennung von Bewegung und Musik ist historisch und soziologisch als Kulturentwicklung einzuordnen. Ebenso muss die Selbsteinschätzung mancher Menschen, „unmusikalisch“ zu sein, als Lernerfahrung gewertet werden. Mutmasslich ist Gesang aus Sprache und dem Nachahmen von Tierrufen entstanden, das Stampfen als frühe Tanzform zu sehen und Klatschen als erste Instrumentennutzung. Ähnlich darf das Zusammenführen der Handflächen zur inneren Sammlung oder Meditation als gemeinsame menschliche spirituelle Haltung gesehen werden.

In verschiedenen kulturellen Kontexten nutzt und nutzte man die Musik und ihre Wirkung z. B. zur Meditation, für Feste, zum Trauern oder zur Heilung erkrankter Menschen, aber auch zur Steigerung der Kampfbereitschaft im Krieg.

Abraham Maslow (1908 – 1970), ein amerikanischer Psychologe, hat die Bedürfnisse des Menschen in eine fünfstufige hierarchische Pyramide eingeteilt. Sie besagt, dass ein Individuum zunächst die Grundbedürfnisse, wie Schlaf Hunger und Durst, befriedigen muss, dann für seine Sicherheit sorgt, zu der auch Kleidung und Unabhängigkeit zählen. Danach ist der Mensch mit seinen sozialen Bedarfen, wie Lob, Vertrauen sowie der Wertschätzung beschäftigt, zu der auch Kompetenzerwerb und Geldverdienen gehören und schließlich mit dem Bedürfnis nach Selbstentfaltung, zu der auch die Religion zählt. Die Bedürfnisstufen können nicht dauerhaft übersprungen werden.

Musiziert hat der Mensch also offensichtlich bereits in dem Moment, als er sich niederließ und nicht mehr nur von der Jagd lebte. Zunächst war Musik für spirituelle Zwecke bestimmt, in einigen Kulturen gilt das bis heute. Und Tanz, spiritueller Gesang und Body-Percussion sind manchmal eine Einheit geblieben, z. B. in Bali oder Kamerun.

Weihnachten verbindet musikalisch gesehen das Bedürfnis, innere emotionale und kognitive Vorgänge, wie Glaube, Hoffnung, Liebe, Freude, Frieden auszudrücken, und gleichzeitig kommt Bewegtheit über Rituale auf, wie z. B. das als schön empfundene Weihnachtslieder singen. Die Erinnerungen bahnen sich gerade in der Musik ihren Weg zur Wahrnehmung, und der Trost in der Botschaft der Geburt eines kleinen Kindes erreicht den Menschen gleichsam einem Wiegenlied.

 

Musik wirkt immer.

Musik ist von Anfang an sowohl ein Mittel, um innere Vorgänge auszudrücken, als auch eine Quelle für das persönliche Wohlbefinden. Es gibt allerdings keine richtige oder falsche Musik und auch keine bestimmte Musik, die für alle Menschen die gleiche Wirkung hat. Ob sie uns guttut oder ob sie dem Individuum angenehm ist, hängt jeweils von der passenden Musik im passenden Moment ab.

Der französische HNO-Arzt Dr. Alfred Tomatis (1920 – 2001) beschäftige sich vor allem mit der Verbindung von Stimme, Gehirn und Ohr. Mitte des letzten Jahrhunderts fand er heraus, dass Menschen schon vor der Geburt im Mutterleib hören können, Töne müssen in etwa klingen wie Gesänge der Wale. Eine besondere Bedeutung hat dabei die hohe Stimme, aber auch die tiefere Stimme (des Vaters) ist dem Baby ggf. bereits nach der Geburt bekannt.

Und der Mensch kann hören bis zum Tod, ja, er muss es sogar. Denn das Ohr kann man nicht wie die Augen schließen. Auch Hörgeschädigte hören in der letzten Lebensphase wieder mehr. Manche Menschen hören die Sprechstimme schon lange nicht mehr, können aber noch Töne in bestimmten, eingeschränkten Frequenzbereichen vernehmen. Verschiedene Gehörerkrankungen bewirken ein verzerrtes oder schemenhaftes Hören. Laute Musik, starke Rhythmen oder Höhenextreme erklingen bei Höreinschränkungen besonders verändert.

 

Musik bewegt uns.

Im wahren Wortsinn schwingen wir mit und emotional kommt die Bewegtheit deshalb zum Tragen. In neurologischen Forschungen wurden Hirnreaktionen auf Musik registriert. Die Schwingungen können schmerzlindernd sein, aber auch schmerzhaft oder unvorteilhaft. In jedem Fall wirkt Musik.

Sie können dazu selbst einen kleinen Test machen: Füllen Sie eine Klangschale mit etwas Wasser und lassen Sie die Klangschale durch festes Kreisen des Schlegels am oberen Rand dauerhaft ertönen: Das Wasser zeigt die Schwingungen als Kräuselung und schließlich mit Spritzen deutlich an. Im menschlichen Körper, besonders in der Gehirnmasse, ist recht viel Wasser enthalten, so schwingen auch wir Menschen.

 

Musik ist sehr intim.

Da sie uns immer erreicht (organisch) und Emotionen auslöst (physikalisch) sind wir mit Musik sehr nahe am Gegenüber. Deshalb muss besonders beim Musizieren der Ausgleich zwischen Nähe und Distanz beachtet werden. Dies gilt auch für Differenzen bezüglich Musik-Vorlieben. Es kann eben sehr schön sein, in einer Gruppe Weihnachtslieder zu singen und ein „Wir-Gefühl“ zu erleben. Ein Gegenbeispiel für die negative Auswirkung des Hörens von Musik in der Gruppe wäre das Gefühl der Einsamkeit, das sich bei guter Partymusik mitten unter fröhlichen Menschen auf der Tanzfläche einstellen kann, weil man sich persönlich gerade nicht in Partystimmung befindet. In der therapeutischen Einzelarbeit mit Musik müssen die Signale des Gegenübers sehr deutlich und aufmerksam beobachtet werden und das weitere Vorgehen entsprechend angepasst werden.

 

Musik weckt Emotionen und unterstützt den Ausdruck von Emotionen

Auch Emotionen sind bereits vorgeburtlicher Natur. Erinnerungen reichen im Unterbewusstsein ebenso in die pränatale Phase zurück. Ausser unseren fünf Sinnen haben wir noch die Emotionen und die Erfahrungen, die zusammen mit der Gedankenleistung des Gehirnes unsere Wahrnehmung und Verarbeitung der immer neuen Einflüsse prägen. Emotionen und Erinnerungen bleiben auch bei erworbener Hirnschädigung durch Schädeltraumata, bei Stürzen und Unfällen, oder durch Erkrankungen, wie Demenz, erhalten, auch wenn sie nicht verbalisiert werden können. In der Regel wird die emotionale Wahrnehmung bei Ausfall der Sinne oder der Kognition, wie beim Apallischen Syndrom (früher Wachkoma) oder bei einer Immobilität durch schwere körperliche und funktionale Störungen und damit verbundenen Behinderungen besonders geschärft.

Vier Grundgefühle differenziert ein Mensch im Laufe seines Lebens aus: Wut, Angst, Trauer und Freude. Während Wut den Angriff antreibt und Angst die Flucht, sind Freude und Trauer körperliche Entspannungszustände, die ihre Ausdrucksform benötigen. Die sogenannte „emotionale Abfuhr“ ist folglich nicht nur zur Erhöhung der Lebensqualität unabdingbar, sondern existenziell menschlich notwendig, um an Leib und Seele (Vitalität und Psyche) gesund, weil integer zu bleiben.

 

Vitalität und Psyche des Menschen werden also durch Musik positiv beeinflusst?

Gerade beim Singen wird die Atemmuskulatur präventiv gestärkt, das Gehirn durch oben genannte Schwingungen bewegt, die Erinnerung an Liedtexte erhält besonders bei älteren Menschen die Ressourcen. Dies führt in „Corona-Zeiten“ zu einer paradoxen Situation: Singen ist nicht angezeigt, weil die Aerosole beim Singen eine größere Reichweite haben als beim Sprechen.

 

Kehren wir zurück zur Heiligen Nacht 2020. In unserem Umfeld wird die stille Nacht in diesem Jahr stiller als üblich sein, verursacht durch eine Pandemie, die die Menschheit zwar weltumspannend sozusagen „schicksalshaft“ verbindet, aber zugleich im Einzelfall sehr einsam machen kann?

Ja, unser Bewegt-Sein vom Geschehen kann zwar nicht im Gesang Ausdruck finden und keine Bachtrompete kann die Emotion herausspielen, die festliche Stimmung beim klassischen Weihnachtskonzert wird nicht live erlebbar sein.

Wir Menschen müssen uns also ohne Gesang annähern. Wir sollten neue Rituale erfinden, um die Botschaft des Festes der Hoffnung, des Friedens und der Liebe gerade unter „Corona“-Bedingungen erfahren und teilen zu können. Oder lassen Sie andere für sich singen. Und Bewegung ist auch in der Stille möglich.

Vielen Dank für die heilsamen Gedanken und Anregungen!

 

Literaturtipps:

Michels, Ulrich: DTV Atlas zur Musik, Band 1 und 2, 4. Auflage 2008: Erscheint aktualisiert in immer neuen Auflagen. Band 1: Systematischer Teil (u.a. Entstehung von Musik, kultische Zwecke, Wellen und Schwingungen von Tönen), Musikgeschichte von den Anfängen bis zur Renaissance; Band 2: Musikgeschichte vom Barock bis zur Gegenwart (u.a. auch Improvisation).

Gruhn, Winfried: Kinder brauchen Musik – Musikalität bei kleinen Kindern entfalten und fördern, Beltz-Verlag Weinheim, Basel, Berlin 2003. Das Buch soll Angehörige wie Professionelle unterstützen, die musikalische Entwicklung von Kindern zu sehen und individuell passend zu fördern. Besonders: Kapitel „Musik und ihre Wirkung“.

Hess, Peter, Zurek, Petra Emily: Klangschalen – Mit allen Sinnen spielen und lernen; Kösel-Verlag München; 2. Auflage 2011

Kreusch-Jacob, Dorothee: Musikerziehung; Don Bosco Verlag München 1995; „Elementare Musik ist nie allein, sie ist mit Bewegung, Tanz und Sprache verbunden, sie ist eine Musik, die man selbst tun muss, in die man nicht als Hörer, sondern als Mitspieler einbezogen ist… Carl Orff“

Theilen, Ulrike: Mach Musik! Rhythmische und musikalische Angebote für Menschen mit schweren Behinderungen; Ernst Reinhard Verlag München Basel 2004

Zimmermann, Jürgen: JUBA – Die Welt der Körperpercussion; Techniken, Rhythmen, Spiele; 2. Auflage 2000; Fidula-Verlag, Boppard am Rhein

 

Verena Foitzik, Musiktherapeutin und Dipl. Sozialdäagogin (FH), lebt und arbeitet in Aachen (D).