Kirche zwischen Verlust und Neuschöpfung von Macht

     

 

Die Kirchen sind «entmachtet», Handeln und Bewusstsein zu kontrollieren, diagnostiziert Michael Ebertz. Darin liege die Chance, dass Kirchen zu Quellen wertgeleiteter, lebensdienlicher Inspiration werden, um so neue Attraktivität zu gewinnen. Für Christoph Gellner ein hochaktuelles Buch.

 

«Macht ist nicht alles, aber ohne Macht ist alles nichts», setzt das neue Buch des Freiburger Religionssoziologen und Theologen Michael N. Ebertz ein. Macht ist eine Struktureigentümlichkeit menschlicher Beziehungen, und zwar aller menschlichen Beziehungen, zitiert er Norbert Elias. SoziologInnen betonen die «Reziprozität», d.h. die Gegenseitigkeit und Wechselbezüglichkeit der Machtchancen und rechnen daher mit der Macht von Untergeordneten über Übergeordnete.

Das gilt insbesondere in der katholischen Kirche: Sie erlebt einen Wandel der Angewiesenheits- und Abhängigkeitsverhältnisse, eine Verschiebung der Machtgewichte zwischen Klerus und Laien, die «in vielerlei Hinsicht noch gar nicht begriffen zu sein scheint», betont Ebertz – am massivsten habe die «Kollaboration der Regierten» (Pierre Bourdieu) gegenüber dem Angebot der Beichte ausgesetzt.

Mehr noch: Es lasse sich ein tiefgreifender Wandel im Ritenverständnis beobachten, wodurch die hergebrachte «Heilssorge» in eine Legitimationskrise gerate. Priestermangel und langfristig gesehen Finanzmangel seien letztlich nur Symptome einer viel tiefer liegenden Problematik, nämlich Folge von Machtverlagerungen im Verhältnis der Kirche und anderer gesellschaftlicher Institutionen.

Entmachtung der Kirche in Familie, Ehe, Geschlechterordnung und Sozialisation

Von seinen «4 Thesen zu Gegenwart und Zukunft der Kirche» treffen drei auch für die Kirche der Deutschschweiz zu und bieten weiterführende Perspektiven zu neuer Attraktivität der Kirche:

  • Die Familie ist heute aus der überkommenen «Verschachtelung mit der Kirche weitgehend herausgelöst»: Selbst wenn Eltern ihren Kindern die Taufe nicht «vorenthalten», ist eine christlich-religiöse Erziehung und Sozialisation in die kirchliche Praxis wie die sonntägliche Gottesdienstteilnahme nicht mehr selbstverständlich. Die Koalition zwischen Kirche und Familie wird zunehmend aufgekündigt, ja, aufgrund dieses kirchenreligiösen Sozialisationsversagens kollabiere das lange selbstverständliche Muster der Nachwuchskirche, so Ebertz.

Wie lautet Ebertz’ Alternative? «Eine zukunftsfähige Kirche muss deshalb von der ehedem verlässlichen ‘Nachwuchs-Strategie’ Abschied nehmen und neue Tradierungswege suchen, die dem ‘Wachstum der Kirche’ dienen. Statt auf vergebliche familiale Sozialisation für die Kirche sollte sie auf die Inspiration der Kirche zur religiösen Sinngebung setzen – nicht zuletzt in ausseralltäglichen (normativen und kritischen) Lebensereignissen, auch und gerade im Erwachsenenalter.» (28) Nicht integrieren, sondern Impulse setzen, lautet etwa der pastorale Neuansatz zeitgemässer Gemeindekatechese, Eltern- und Familienbildung .

  • Angesichts des Wandels der Ehe und der Geschlechterchoreographie sehen sich die offiziellen Repräsentanten des kirchlichen Felds seit Jahrzehnten herausgefordert, ihre bislang vertretenen gesellschaftlichen Ordnungsmuster zu behaupten und dabei wahrnehmen zu müssen, dass diese im Kampf gegen konkurrierende Ordnungsvorstellungen immer weniger durchsetzungsfähig sind.

Zugleich dokumentiert die innerkirchliche Verweigerung der Folgsamkeit und das offensive Zuwiderhandeln gegen das römische Segnungsverbot mit öffentlichen Einladungen, Gottes Segen für alle Liebenden zu erbitten, eine Verschiebung der kircheninternen Machtfiguration, so Ebertz.

Die Alternative? «Für die Kirche steht ein kultureller Paradigmenwechsel an, ihr vorwiegend rechtliches Verständnis legitimer Liebe und Sexualität, aber auch von Sünde und Heil zu verlassen. Eine zukunftsfähige Kirche steigert (auch ausserkirchlich) ihr Machtgewicht, wenn es ihren Repräsentanten im Blick auf Intimbeziehungen und andere Lebensformen gelingt, ihre normgeleiteten Erwartungen in wertgeleitete Erwartungen an ihre Mitglieder zu verwandeln.» (45)

  • Die kirchenrechtlich verfestigte Geschlechterhierarchie, die weibliche Laien im kirchlichen Feld generell vom Diakonat und Priesteramt ausschliesst, wird heute als frauenverachtend und frauenfeindlich erlebt. Solche Ordnungsvorstellungen stehen für die Beharrungskraft von Denkstilen vergangener Welten, die in der Gegenwartsgesellschaft als fremd erscheinen und selbst im binnenkirchlichen Feld nicht mehr zu überzeugen vermögen, so Ebertz.

Welche Alternative macht Ebertz stark? «Für die Kirche steht ein Paradigmenwechsel ihres offiziellen ‘Denkstils’ an. Er zielt auf den Abbau von bislang praktizierten Abwehr- und Ausschliessungsmechanismen und auf den Einbau von offensiven Lernmechanismen in Arenen der Multiperspektivität im kirchlichen Feld. Sie können derzeitigen, ehemaligen und zukünftigen Mitgliedern als Adresse für Erfahrungen, Enttäuschungen und Widerstände und als Orte dienen, wo sie wahr- und ernst genommen und lösungsorientiert bearbeitet werden.» (62)

Anstoss zu praktischen Denkstilumwandlungen

Wie also kann und soll die Kirche neue Attraktivität gewinnen? Statt mit den knapper werdenden Ressourcen an Zeit, Geld und haupt- wie ehrenamtlichem Personal «das Gemeinschaftsleben weitgehend geschlossener und schrumpfender sozialer Milieus zu intensivieren, das derzeit kaum mehr als zehn Prozent der Kirchenmitglieder erfasst, müsste es im kirchlichen Feld», so Ebertz pointiert, «um einen Perspektivenwechsel gehen, um neue Macht zu gewinnen: bevormundungsfrei, vereinnahmungsfrei, ermöglichungsstark.» (94)

Religionssoziologisch ist unbestritten: Lebenssinn wird heute privatisiert, nicht säkularisiert. Eine nicht familiennachwuchs-, sondern eine wachstumsorientierte Kirche würde sich, führt Michael Ebertz überzeugend aus, «neue Machtquellen erschliessen», indem sie den strategischen Fokus auf die Individuen in ihren jeweils ganz unterschiedlichen Beziehungsgeflechten und Lebensphasen, nicht zuletzt in ihren kritischen Lebensereignissen und -übergängen verlagerte.

Ebertz’ Vision ist klar: «Es gälte, dadurch attraktiv zu werden, dass jenseits von Bedürfnissen wie Geld, Gesundung, Status, Karriere und Abwechslung Erwartungen gepflegt und erfüllt werden, etwas zu ermöglichen, anzuregen und zu schützen, was andere definitiv nicht zu bieten haben: Gelegenheiten für Erfahrungen und Ereignisse, für Symbole, Riten und Projekte, durch die Interesse an Gott geweckt und in den Brüchen des Lebens ‘Grund zur Hoffnung gefunden’ werden kann.»

Dieser Perspektivenwechsel, sich neue Quellen der Macht zu erschliessen, um Menschen zu bewegen, nimmt vorzugsweise Erwachsene in den Blick: «Kirche schöpft Macht, weil sie für die Einzelpersonen in deren jeweiligen Beziehungsgeflechten mit ihren subjektiven Relevanzstrukturen und biografischen Bedeutungshorizonten zur Quelle der Inspiration wird.» (94f.)

Wertorientierung statt Normorientierung

Was macht Ebertz dabei Hoffnung? Im Gefolge von «Amoris laetitia» vollziehe sich eine Verschiebung von Inklusions- und Exklusionsgrenzen, von Mitgliedschafts- und Teilhaberegeln. Wertorientierung statt Normorientierung ist ihre Leitidee, um neue, lebensdienliche Macht für die Kirche zu schöpfen.

Ja, unter dem Leitbild des Wertes der Liebe schwebe Papst Franziskus ein Paradigmenwechsel vor, den Michael Ebertz durch die Abkehr von einer Exklusionspastoral hin zu einer pädagogisch getönten Inklusionspastoral charakterisiert sieht, wie sie «Amoris laetitia 297» programmatisch zum Ausdruck bringt: «Es geht darum, alle einzugliedern; man muss jedem Einzelnen helfen, seinen eigenen Weg zu finden, an der kirchlichen Gemeinschaft teilzuhaben, damit er [bzw. sie, CG] sich als Empfänger einer ‘unverdienten, bedingungslosen und gegenleistungsfreien’ Barmherzigkeit empfindet».

In dieser lebensdienlichen Perspektive kann und soll Kirche für ihre Werte werben. Das Buch endet denn auch mit einem Verweis auf die Vision von Papst Franziskus von der Kirche als einem Lernfeld, ja, einer lernenden Organisation: «In der Perspektive der göttlichen Pädagogik wendet sich die Kirche liebevoll denen zu, die auf unvollkommene Weise an ihrem Leben teilhaben: Sie bittet gemeinsam mit ihnen um die Gnade der Umkehr, ermutigt sie, Gutes zu tun, liebevoll füreinander zu sorgen und sich in den Dienst für die Gemeinschaft, in der sie leben und arbeiten, zu stellen» (AL 78).

 

Michael N. Ebertz: Entmachtung. 4 Thesen zu Gegenwart und Zukunft der Kirche. Patmos: Ostfildern 2021, 160 S.