Gross und weit von Gott denken

     

 

In „Gottlos beten“ wirbt Niklaus Brantschen für eine weltoffene interreligiöse Spiritualität. Christoph Gellner über das neue Buch des Schweizer Pioniers des christlich-buddhistischen Dialogs auf der Ebene der spirituellen Praxis und Erfahrung.

 

„Kann ein Atheist meditieren? Kann ein Mensch, der nicht glaubt, ein spiritueller Mensch sein? Und wie ist es mit Agnostikern, die die Frage nach Gott nicht mit ‚Ja‘ oder ‚Nein‘ beantworten?“ Diese Fragen hat sich der bekannte Schweizer Jesuit und Zen-Meister in seiner für eine breite Leserschaft geschriebenen „Handreichung für eine weltoffene, interreligiöse Spiritualität“ vorgenommen.

 

Als Christ Buddhist

Damit begibt sich der Gründer des Lassalle-Hauses, der sich selber religiös doppelt verwurzelt sieht in der Zen-Meditation wie in der Christus-Nachfolge – programmatisch lautet einer seiner Buchtitel „Als Christ Buddhist“ (2002), Hugo Makibi Enomiya-Lassalle, Yamada Koun Roshi und Bernard Tetsugen Glassman sind seine Lehrer – nicht nur ins Gespräch mit zeitgenössischer atheistischer Spiritualität.

Zugleich greift Brantschen die viele spirituell Suchende bewegende Frage auf: „Taugt die geläufige Formel ‚Beten heisst Sprechen mit Gott‘ in einer Zeit, in der Gott zu schweigen scheint? Und wie ist es mit Buddhisten, denen oft gesagt wird, sie könnten nicht beten, da sie nicht an Gott glaubten?“

Inspiriert von west-östlichen Quellen und Gewährsleuten wie Thich Nhat Hahn oder Oliver Sacks entfaltet Brantschen sein Plädoyer für eine „spirituelle Praxis, die den Weg weist vom Vielen zum Einen, vom Haben zum Sein, vom Machen zum Geschehen-Lassen“. Eigens kommt der 84-Jährige auf das Meistern der Herausforderungen von Alter und im Sterben zu sprechen.

Gerade weil Beten mit Worten für viele im Westen heute schwierig geworden ist, ist Mystik für den weltoffenen Walliser Katholiken „ein Gebot der Stunde“. In Brantschens spiritueller Sicht ist Beten viel weiter zu fassen – als radikale Bewegung des Herzens auf das unsagbare Geheimnis des Lebens hin, das uns umfängt.

 

Östliche Weisheit und christliche Mystik

„Es ist gut, nicht genau zu wissen, wo Gott hockt“: Von zentraler Bedeutung ist für Brantschen der im christlich-buddhistischen Dialog am häufigsten angeführte christliche Mystiker, Meister Eckhart, und seine negativ-apophatische Theologie. Spitzenaussagen dieses grossen Dominikanertheologen zur Einheit von Gott, Welt und Mensch – wie etwa die Unangemessenheit des «Betens um etwas“ – wurden vom Papst in Avignon als häresieverdächtig inkrimiert, in Japan dagegen fasziniert rezipiert.

„Was meint der Mystiker Meister Eckhart“, fragt Brantschen, „mit dem Wort: ‚Das Höchste und das Äußerste, was ein Mensch lassen kann, das ist, dass er Gott um Gottes willen lasse?‘ Darf ich, oder muss ich gar – um auf die rechte Weise beten zu können – Gott loswerden, gottlos werden?“

Eckhart wird nicht müde, Gelassenheit zu predigen, vom individuell begrenzten Ich abzulassen als Voraussetzung für die Einswerdung mit Gott – Gelassenheit bedeutet nichts anderes als das Ich im göttlichen Selbst zerfliessen zu lassen.

Shinzuteru Ueda, ein Philosoph der zenbuddhistisch geprägten Kyoto-Schule, der sich intensiv mit Meister Eckhart beschäftigte, unterschied zwischen dem „kleinen Ich“, das zu lassen ist, und dem „grossen Ich“ als dem wahren, allumfassenden Selbst, das der radikal gelassene Mensch erfährt. „Das im Sinne Eckharts vom Ego befreite wahre Selbst“, so Brantschen, „entzieht sich dem schnellen Zugriff und stellt mich in eine Welt mit Unendlichkeits-Charakter.“

„Gott ist inwendig in uns. Er ist überall – und nirgends“, verdeutlicht Niklaus Brantschen, dass für Meister Eckhart Gott „nicht räumlich oder zeitlich festzulegen, sondern ort- und zeitlos ist. Ähnlich ist nach buddhistischer Auffassung die ‚Leere-Unendlichkeit‘, die dem entspricht, was wir ‚Gott‘ nennen, nicht zu verorten. Was ‚leer‘ ist, ohne Form und Gestalt, kann man nicht fassen, nicht festlegen, nicht besitzen – und nicht verlieren […] Es ist gerade diese Offenheit, dieses nicht fixierende Denken, dieses In-der-Schwebe-Bleiben (was mit Beliebigkeit nichts zu tun hat)“, betont Brantschen, „was Zen-Meditierende, welcher religiöser Herkunft sie auch sind, fasziniert und nicht mehr loslässt.“

 

Gott – östlich-westlich verstanden

Aus der Perspektive religiös-theologischer Bildungsarbeit wird man bedauern, dass Brantschen die im Buchtitel aufgeworfene Gottesfrage nicht weiter vertieft, insbesondere im Blick auf die kritische zenbuddhistische Auseinandersetzung mit Meister Eckhart, die positiv anerkannte, dass sich dieser mittelalterliche Lese- und Lebemeister näher als jeder andere westliche Denker zu Zen hin dachte.

In der Kyoto-Schule war es neben Shizuteru Ueda vor allem Shin-ichi Hisamatsu, der Eckharts personalistisch-theistische Gottesvorstellung als einen Rest abendländischen Dualitätsdenkens kritisierte: „Gott habe ihm nie ganz aufgehört, Du zu sein, also Begegnung, also Gegenstand, und sei nur ausnahms- und erleuchtungsweise in das erweckte Selbst eingegangen“, referiert Adolf Muschg in einer seiner drei „Japanischen Silhouetten“ in der NZZ 1963 sachkundig Hisamatsus pointiert a-theistischen Buddhismus. Bekundungen wie Roland Barthes‘ Japanbuch „Das Reich der Zeichen“, „im Zen gibt es keinen Gott“, dürften viel zur Faszination des Zen im Westen beigetragen haben.

Ohne auf solche Differenzen zwischen Christentum und Buddhismus näher einzugehen beschwört Brantschen am Ende von der schwarzen Madonna von Einsiedeln her die tiefe spirituelle Verbindung von Maria und Kanzeon. Beide verkörpern sie die grenzenlose Barmherzigkeit und Liebe, die sich „nicht in vager Unbestimmtheit verflüchtigt, sondern sich im ganz konkreten und alltäglichen Leben bewährt. Diese Liebe hat einen Ort, an dem sie wohnt, an dem sie ‚residiert‘. Der Ort heisst ‚Herz‘.“

Christoph Gellner

 

Niklaus Brantschen: Gottlos beten. Eine spirituelle Wegsuche. Patmos: Ostfildern 2021, 127 S.