Wie wird Kirchenentwicklung möglich statt immer in den Spuren zu handeln, wie man es gelernt hat? Für Michael N. Ebertz und Janka Stürner-Höld ist sie nur dann aussichtsreich, wenn man den Habitus der kirchlichen Akteure mit in die Analyse einbezieht. Christoph Gellner stellt ihr Plädoyer für den notwendigen Wandel des pastoralen Habitus und die Transformation des pastoralen Feldes vor – beides gehört zusammen.
Im Rahmen von Kirchenentwicklungsprozessen scheint den im pastoralen Feld Tätigen zwar einiges möglich, vieles aber auch nicht. Bei der Auswertung von mehr als 200 Pastoralberichten aus der Diözese Rottenburg-Stuttgart stiessen Michael Ebertz und Janka Stürner-Höld auf Schranken im Denken und Handeln der beteiligten hauptamtlichen und freiwilligen Akteur:innen. Zur Erklärung dieser eigentümlichen Unbeweglichkeit griffen sie auf das Habitus-Konzept des französischen Soziologen Pierre Bordieu zurück, das von Angewohnheiten und eingeübten Lebensweisen ausgeht, die uns wie die Sprache «in Fleisch und Blut übergangen» sind und nicht weiter reflektiert werden.
Licht und Schatten
Der Habitus ist immer ein Sozialisationsprodukt, Ergebnis der Verinnerlichung des Sozialen, eine Art Einverleibung gesellschaftlicher Konventionen, ja, so etwas wie ein innerer Aufbewahrungsort von erlebter Geschichte und Erfahrung – mehr noch: ein bestimmter point of view, von dem aus die Welt betrachtet wird, gedacht wird, bezeichnet wird und bearbeitet wird. Dieser soziale Standort wirkt dann wie eine Art Filter des Denkens, Wahrnehmens und Verhaltens, des Geschmacks – Vorlieben für bestimmte Musikstile etwa oder Automarken, die alltagsästhetischen Präferenzen, die wir gelernt haben als Milieu-Indikatoren bestimmten religiösen und kirchlichen Orientierungen zuzuweisen.
Konkret geht es um feldspezifische Dispositionen eines bestimmten beruflichen Handlungsfelds: Akteur:innen, die die Regeln eines solchen Felds als erfahrene Praxis verinnerlicht haben, bestehen in erheblichem Masse aus diesen Vor-Erfahrungen. Im kirchlichen Raum lässt dieser pastorale Habitus eine ganz bestimmte Weise des Denkens, Wahrnehmens, Kommunizierens und Handelns entstehen. Damit ist die Neigung verbunden, andere Weisen des Denkens, Wahrnehmens, Kommunizierens und Handelns auszuschliessen – scheinbar ganz selbstverständlich, fraglos und absichtslos: «Ein Habitus rückt etwas ins Licht und wirft seinen Schatten – das im Dunkeln sieht man dann nicht.»
Paradox zugespitzt: Der Habitus ist eine ganz zentrale Voraussetzung, um sich auf einem spezifischen Praxisfeld erfolgreich bewegen zu können; zugleich ist er ein «System von Grenzen», welche den Spielraum des Verhaltens einengen. Das aber heisst: Gewohnheit bestimmt massgeblich die Ordnung eines bestimmten sozialen Feldes und befördert eine gewisse Trägheit des Habitus. Deshalb fällt es den Akteur:innen auch so schwer, umzudenken, umzulernen bzw. zu verlernen oder zu entlernen.
Kämpfe im pastoralen Feld
«Das pastorale Feld ist ein Feld in Feldern», verdeutlichen Ebertz und Stürner-Höld: innerhalb des religiösen, des christlichen und des katholisch-kirchlichen Feldes. Das religiöse bzw. das kirchlich-pastorale Feld sind nicht nur wandelbar, sondern dynamisch, sie resultieren aus Kämpfen und sind umkämpft: «Jedes Feld ist auch eine Arena der Auseinandersetzung, in der mehr oder weniger offensichtlich ‘darum gekämpft wird, was eine legitime Praxis des Feldes ist und wer überhaupt entscheiden darf, was legitime Praxis im Feld ist’», zitieren sie den Soziologen André Armbruster.
Diese Grenzziehungskämpfe berühren alle Bereiche der Praxis des pastoralen Felds: die Frauenfrage, die Zölibatsfrage, die Sakramentsspendungs- bzw. Weihefrage, die Segens-, die Machtfrage oder die ?-frage sind «nur die an die Oberfläche geratenen Themen der Herausforderungen dessen, was gern euphemistisch ‘Kirchenentwicklung’ genannt wird». Die Debatten darüber sind, erläutern Ebertz und Stürner-Höld die aktuelle Kirchensituation, «Zeugnisse des Kampfes, aber auch der Transformation des pastoralen Felds, bei der bestimmte, bislang geltende Regeln infrage gestellt werden».
In den gegenwärtigen Pastoral- bzw. Kirchenentwicklungsprozessen werden Spannungen ganz eigener Art sichtbar: Spannungen zwischen institutionellen Vorgaben und organisationalen Entscheidungen. «Kirchenentwicklungsprozesse verändern die pastorale Betriebsstrukturen (z.B. grössere pastorale Räume aus Priestermangel), ohne dass sich die kirchenrechtlich normierten und theologisch als unveränderlich, weil göttlich vorgegeben legitimierten institutionellen Strukturen (z.B. die Priesterweihe für Männer) verändern dürfen.» Aktuelle Kirchenentwicklungsprozesse sind daher «grundiert von dem fortwährenden Legitimitätskonflikt, ob und inwiefern die behauptete institutionelle Unverfügbarkeit der Definition und Verteilung der religiösen Autorität (z.B. dass diese nur zolibatären, geweihten Männern vorbehalten ist) nicht doch entscheidbar wäre, und zwar so entscheidbar, dass die kirchengemeindlichen pastoralen Organisationsstrukturen (z.B. die Grösse der pastoralen Räume) nicht – oder nur in einem begrenzten Ausmass – verändert werden müssten.»
Elemente des pastoralen Habitus
Für einen praktischen Selbsttest listet Kapitel 5 Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmuster auf, die idealtypisch der pastoralen Praxis latent zugrunde liegen und ihre Entwicklung leiten bzw. blockieren. Unter Orientierungsschemata verstehen Ebertz und Stürner-Höld ausdrücklich kommunizierte Glaubenssätze wie «Kirche für alle» (faktisch werden nur drei schrumpfende Milieus erreicht: Traditionsverwurzelte, Konservative, z. T. bürgerliche Mitte und Postmaterielle), «Familie als Keimzelle des Glaubens» (faktisch wird die Nachwuchskirche zum Auslaufmodell: Familien sind immer seltener (Re-) Produktionsorte des Religiösen), «Liturgie im Zentrum» (die Statistik weist einen deutlichen Rückgang der Gottesdienstbesuchszahlen und der Nachfrage nach Kasualien aus) oder «Kirche in Gemeinschaft» (faktisch schrumpft der Anteil derjenigen, die zur (inter-) aktiven Pfarrei zählen, das Wachstum(-spotential) anderer kirchlicher Angebote wird übersehen).
Es gibt aber auch stillschweigende Präferenzen, die gerade weil sie unter der Schwelle des von den Akteur:innen Wahrgenommenen bleiben, als implizite Gewissheiten bzw. beharrende Denkzwänge kaum über bereits adressierte Zielgruppen hinaus führen. Dazu zählen Ebertz und Stürner-Höld die Präferenz für «Normallebensläufe» und «Familialismus», für «Wiederholung» bzw. Dauerhaftes, für «Territorialität», «Wohnsitzorientierung» und überschaubar-personale «Gruppenorientierung», «Priester-« bzw. «Gemeindezentrierung» – und kritisieren daran primär das Gefangensein in der eingespurten Perspektive, was pastorale Blick- oder Richtungswechsel hin zur Diversität heutiger Lebenslagen, zu posttraditionalen neuen Vergemeinschaftsformen, Dienstleistungsvorstellungen rund um Kirche oder Gelegenheitsstrukturen für neue Freiwillige erschwert oder verunmöglicht.
Anregungen zur Modifikation des eingespielten Habitus
Man kann nicht behaupten, eine Organisation mit einem Lebensalter von fast 200 Jahren wie die Kirche besässe keine Lernfähigkeit. Doch heute steht der Erfolg des Lernens in der Vergangenheit paradoxerweise einem neuen und radikaleren Lernen im Wege, so der Soziologe Leo Laeyendecker. Wie kann das Veränderungs- und Innovationspotenzial erschlossen werden, aus dem eingespielten pastoralen Agieren mit seinen routinierten Blickverengungen auszusteigen?
Deutlich wird auf diese Weise: Wenn, wie Bourdieu betont, eingespielte Haltung, inkorporierter Habitus und strukturiertes Feld in einem Wechselverhältnis stehen, ja, sich gegenseitig bedingen, müssen auch die Transformationen des pastoralen Habitus immer zusammen mit Transformationen des pastoralen Feldes gedacht werden.
Michael N. Ebertz/Janka Stürner-Höld: Eingespielt – Ausgespielt! Vom notwendigen Wandel des Pastoralen Habitus in der Kirche. Matthias Grünewald Verlag 2022, 167 Seiten.