Gratwanderung II

 

Ein Blick auf das neue Buch von Matthias Sellmann: Geistliche Klugheit als Lebenskompetenz. Fundierungen einer Kurzformel des christlichen Glaubens, Würzburg 2023.

Eine Gratwanderung ganz anderer Art unternimmt der bekannte Theologe und Sozialwissenschaftler Matthias Sellmann, Professor für Pastoraltheologie an der Ruhr-Universität Bochum sowie Gründer und Direktor des ZAP («Zentrum für angewandte Pastoralforschung») in seinem aktuellen Buch: «Geistliche Klugheit als Lebenskompetenz. Fundierungen einer Kurzformel des christlichen Glaubens.» Als theologisch einigermassen kundige Person reibt man sich bei dieser Titel-Untertitelkombination zunächst die Augen und fragt sich, wie das zusammengehen soll? Für sich genommen verspricht der Obertitel einen populärwissenschaftlich-philosophischen Inhalt, der Untertitel hingegen lässt ein dogmatisches Werk assozieren – sehr ungewöhnlich. Schlägt man das Buch auf und liest an einer beliebigen Stelle los, lässt diese erste Überraschung nicht nach, denn die Spannung von populärwissenschaftlichem und akademischem Zugang setzt sich auch im Inhalt fort – durchaus die Meinung des Autors spiegelnd, dass «Theologie […] populärer […], medialer, zugänglicher»(S. 13) werden muss.

 

Aber worum geht es nun eigentlich in diesem Buch? Es ist, kurz gesagt, eine theologisch erweiterte Version des im Herbst 2020 erschienen Buches: «Was fehlt, wenn die Christen fehlen? Eine Kurzformel ihres Glaubens» – und wie in diesem will der Autor beschreiben, was das dezidiert Christliche für eine gelingende Lebensführung leisten oder beisteuern kann. Damit ist aber bereits auch schon gesagt, was das Buch dezidiert nicht will: Eine irgendwie idealistisch-platonische Position entwickeln, die kein Mensch realistischerweise je in seinem eigenen Leben verwirklichen kann. Nein, fast versteckt deckt Sellmann in Fussnote 6 seine Karten als Theologie auf: Sein Ethos und die grundlegende Prägung des Buches ist eine pragmatisch «nüchterne Liebe zum Leben; der Glaube an wirkungsvolles Handeln; die Hochachtung vor Alltag und Normalität; das schlichte Ideal, gut durchs Leben kommen zu wollen und dies erstens gerne mit der Kraft der Religion, und zweites ebenso gerne zusammen mit den Nachbarn und dem ganzen Viertel.» (S.16). Als Verwirklichungschance für dieses Ethos identifiziert Sellmann wichtige Leitlinien des christlichen Glaubens, die insgesamt eine christliche Lebenskompetenz, ja, einen Lebensstil (nach dem Konzept von Christoph Theobald) ausmachen.

 

Am Ausgangspunkt des Buches steht dabei der Philipperhymnus. Im Gespräch mit diesem entwickelt Sellmann eine «Dreierdynamik», die grundlegend für die christliche Lebensklugheit steht: «Es ist der Mut, sich der Welt zu stellen (PHYSIS) und über die eigenen Grenzen zu gehen (KENOSIS), die ihnen diese umwälzende Entdeckung eingebracht hat: dass es eine schöpferische Weltkraft gibt, die aus diesem Mut etwas Steigerndes macht (DYNAMIS).» (S. 174). Diese drei Kompetenzen deutet Sellmann anschliessend an wichtigen Persönlichkeiten der jüngeren Geschichte des Christentums aus: Dietrich Bonhoeffer (Physis), Chiara Lubich (Kenosis) und Madeleine Delbrêl (Dynamis). Biographisch ausführlich und für ihre jeweilige Spiritualität sensibel werden diese drei Personen vorgestellt, anschliessend reflektiert Sellmann eingängig, warum er die jeweilige Persönlichkeit einer Kompetenz «zuordnet». In einem kurzen Schlusskapitel führt er anschliessend die Fäden zusammen und ruft in Erinnerung, dass sich das Christ-sein nicht in einer der Kompetenzen erschöpft; alle drei sind gemeinsam Dauermomente der christlichen Existenz, die immer wieder nach aussen, in die Welt, in den Alltag, in die Gegenwart, drängen. In den Worten Sellmanns: «Das göttliche Mana verschimmelt, wenn man es aufbewahren und risikoscheu nur für sich konservieren will.» (S. 385)

 

Besonders auffällig an diesem Buch ist – neben dem hochspannenden und assoziationsanregenden Inhalt! –  der eingangs schon erwähnte einzigartige Zugang, den Sellmann für sein ganzes Buch gewählt hat: Es changiert fortwährend zwischen akademischen Geläufigkeiten (Fussnotenapparat, wissenschaftliche Genauigkeit und Differenziertheit) und lebenspraktischer Sprache mit eingängigen Bildern aus der Alltagswelt. Pointiert gesagt: das Buch kann tatsächlich gelesen werden als akademisches Lebenshilfebuch – und das ist keineswegs negativ gemeint. Einschränkend muss man dazu sagen: Lesende brauchen einen gewissen Hang zu einer locker-luftigen, gleichwohl in der Sache sehr ernsthaften Sprache. Wer kompliziertes Akademiker:innendeutsch im Nominalstil für den persönlichen Lesegenuss benötigt, ist hier eher an der falschen Adresse. Das Buch steckt insgesamt steckt so voller Ideen, guter Einfälle und geistreicher Verknüpfungen, dass man blind eine Seite aufschlagen kann und unmittelbar in die Überlegungen Sellmanns hineingezogen wird – allein dafür lohnt sich schon die Anschaffung dieses Buches.

Michael Hartlieb

 

Sellmann, Matthias, Geistliche Klugheit als Lebenskompetenz. Fundierungen einer Kurzformel des christlichen Glaubens, Würzburg 2023.

Im Heute glauben und beten

Mit «Astronomischen Psalmen» gibt der Astrophysiker Arnold Benz seinem Staunen über ein «unfassbar verschwenderisches» Universum und dem Wunder der lebensfreundlichen Erde Ausdruck. Christoph Gellner findet seine Verbindung von modernster Wissenschaft mit dem Glauben an einen Gott, der grösser ist als alle unsere überkommenen religiösen Vorstellungen, inspirierend.

 

«In der wissenschaftlichen Arbeit hat das Staunen keinen Platz. Aber es wäre falsch anzunehmen, dass heutige Wissenschafter nicht staunen», setzt der durch seine allgemeinverständlichen Vorträge auch im Schweizer Fernsehen und Radio einer breiten Öffentlichkeit bekannte Astrophysiker Arnold Benz im Vorwort zu seinen zeitgemässen Psalmen an, eine «ganzheitliche Sicht des Universums» zu entfalten. Dafür engagiert sich der emeritierte ETH-Professor seit Jahren im interdisziplinären Gespräch zwischen Naturwissenschaft und Theologie.

Das überwältigende Wissen der heutigen astronomischen Wissenschaft macht bewusst, dass die Welt nicht selbstverständlich ist. Das ist der Ausgangspunkt der von Arnold Benz vorgelegten Texte: in Form von Gedichten, die die alten biblischen Psalmen fortschreiben, bringt er eine persönliche Sicht ein, die existentielle Betroffenheit als teilnehmender Beobachter, ja, das Staunen, Fragen, Loben und Danken einer glaubenden Christenmenschen. Das mit faszinierenden Teleskop-Farbfotografien versehene Büchlein ist seiner Frau, Ruth Wiesenberg Benz, gewidmet, einer reformierten Pfarrerin, die ihn «immer wieder zum Psalmenschreiben ermuntert hat». Zusammen schrieben die beiden «Das Universum – Wissen und Staunen. Astrophysikalische Erkenntnis und religiöse Erfahrung». Um dieses Zusammenspiel geht es auch in den «Astronomischen Psalmen»:

Am Rand des sichtbaren Universums

liegt GN-z11, eine kleine Galaxie,

das entfernteste Himmelsobjekt,

das wir gegenwärtig kennen.

Unsere Bilder zeigen sie

vor 13,4 Milliarden Jahren.

13,4 Milliarden Jahre brauchte das Licht von GN-z11 zu uns.

In der Zwischenzeit hat sich der Weltraum ausgedehnt

und GN-z11 mitgerissen.

Die Galaxie, jetzt 32 Milliarden Lichtjahre entfernt,

ist eine Trillion Mal weiter entfernt als der Mond.

Eine Trillion ist eine Million Billionen.

Eine Billion ist eine Million Millionen.

 

Ich kann diese Zahlen rechnen, ich kann sie schreiben,

mir aber nicht vorstellen.

Unvorstellbar gross ist das Universum –

Gott unvorstellbar grösser.

 

«Das Christentum setzt voraus, dass alle Menschen Dichter sind, nämlich beten können»: Diese pointierte Aussage stammt von der Theologin, Germanistin und Poetin Dorothee Sölle, ihres 20. Todestags wurde auch in der Schweiz gedacht. Dabei ging es ihr nicht in erster Linie um einen literarischen Anspruch, vielmehr um eine Sprache für das, was uns im Tiefsten betrifft und angeht.

 

Solche Verdichtung wagt Arnold Benz, seine Texte ermutigen und inspirieren, neu ins Nachdenken zu kommen über ‘Gott und die Welt’, die Perspektive zu weiten «von der kleinen Alltagswelt auf ein galaktisches Ganzes» und eigene Erfahrungen angesichts des unergründlichen Geheimnisses der Schöpfungsveranstaltung, dem Rätsel der Zeit, ja, der Widersprüche von Zufall und Freiheit, Kreativität und Destruktivität im abgründigen Lauf der Evolution ins Wort zu bringen:

 

Das Universum quillt über von Kreativität.

Sie übersteigt alle meine Vorstellungen,

neue Sterne, neue Planeten, neue Möglichkeiten.

Ich bin überwältigt.

 

Wozu, Gott, diese vielen Himmelskörper,

dieses riesige Universum?

Warum so unbegreiflich,

so unfassbar verschwenderisch?

 

Glauben auf der Höhe zeitgenössischer wissenschaftlicher Erkenntnis und zugleich einer reflektierten «zweiten Naivität» – Dorothee Sölle klagte über eine «poesielose Theologie», die «das mythisch-religiös-poetische Wesen, das wir auch sind, erstickt. Als sei es überflüssig, ‘das Eis der Seele zu spalten’», wie sie mit Franz Kafka betonte – , eine zeitgemässe Spiritualität im Angesicht des unaufhörlichen Wechsels von Zerfall und Schöpfung, persönlich und poetisch durchbuchstabiert – darum kreisen diese «Astronomischen Psalmen» und laden zur Meditation wie zum eigenständigen Fort- und Weiters(p)innen ein: «Die Erde ist nicht zwangsläufig, wie sie ist. / Zufall? / Die Erde ist erstaunlich, / eine paradiesische Oase / im riesigen, kalten, wilden Universum. // Als unverdientes Geschenk / erscheint mir unser schöner Planet […] Danke, wunderbarer Gott, für die Erde!»

 

Ein Knall am Anfang des Universums?

Gewiss,

die Galaxienhaufen fliegen noch heute auseinander

wie die Splitter einer Granate,

die entferntesten am schnellsten.

 

Aber nicht wie eine Tischbombe,

nicht ein Knall und alles war da.

Alles im heutigen Universum

Hat sich erst nachher gebildet,

selbst die Materie.

Allein in der Milchstrasse sind heute

Millionen von neuen Sternen am Entstehen.

Das Universum quillt über von

Kreativität und Fruchtbarkeit

nach Gesetzen von Zufall und Notwendigkeit.

 

Wirkte Gott im Urknall

oder als die Sonne entstand?

Er taucht nicht auf

in unseren Gleichungen der ersten Sekunde.

Auch nicht in Lücken der Sternentstehung,

die wir noch nicht verstehen.

 

Warum sollte ich ihn dort suchen,

wo alle im Dunkeln tappen?

Selbst in meinem Leben

bleibt Gott verborgen.

«Wenn du es verstehst,

ist es nicht Gott»,

sagte Augustinus.

 

War da ein Wille,

der das Universum veranlasste,

seine Entwicklung wollte?

 

Ähnliches frage, erahne ich

für mein persönliches Leben.

 

Arnold Benz: Unfassbar verschwenderisch. Astronomische Psalmen. Theologischer Verlag Zürich 2023, 95 Seiten, mit 13 eindrucksvollen Teleskop-Fotografien.

Notwendiger als das Nützliche

«Zeit zwischen Nichts», «Die weggeworfene Leiter»: Christoph Gellner stellt zwei hochinteressante Buchneuerscheinungen vor über die Verwandtschaft von Religion, Liturgie, Gebet und Poesie.

 

Zu was befreit Poesie? Was vermag Liturgisches zu öffnen? Im Mai 2022 fand in der Wasserkirche Zürich ein mehrtägiges Festival «Liturgie & Poesie» statt. Unter dem pointierten Titel «Zeit zwischen Nichts» liegen die inspirierenden und lesenswerten Beiträge namhafter Gegenwartsautor:innen auch aus der Schweiz nun als Buch vor und belegen Johann Hinrich Claussens Beobachtung: «Die Kultur der Gegenwart ist voller Religion»

 

Was verbindet Liturgie und Poesie?

«Liturgie wie Poesie ist überflüssiger Glanz, feinfühlige Verschwendung, notwendiger als das Nützliche», führt der Zürcher Großmünsterpfarrer Martin Rüsch in seiner Hinführung die italienische Lyrikerin und Übersetzerin Cristina Campo an, die vom großen Schweizer Dichter Philippe Jaccottet zitiert wird. Peter Handke, der in seiner Nobelpreisrede kaum zufällig aus den slowenisch-slawischen religiösen Litaneien seiner Kindheit als den «frühesten poetischen Schwingungen» zitierte, beschreibt das so: «Das Buch, das Gedicht, die Kunst schafft dort, wo nichts ist, Durchlässigkeit.»

Was «Zeit zwischen Nichts» auszeichnet, ist die perspektivenreiche Vielfalt der Zugänge, mit denen sieben Gegenwartsautor:innen das Verhältnis von Liturgie und Poesie umspielen und erschließen:

  • Klaus Merz, der Schweizer Haiku-Meister mit Jahrgang 1945 und reformiert geprägt, steuert einen frühen Prosatext zum Umgang mit dem Wort und den Wörtern bei – im Zentrum ein junger Vikar, dem seine Wörter Schwierigkeiten machen, die er gebraucht, um dem Wort nachzugehen, es umzusetzen, mitzuteilen, weiterzugeben, ausgepumpt nimmt er eine Auszeit, um Boden unter den Füßen zu finden – sowie neue Gedichte, die mit einem latent religiösen Grund und Grimmen hinterfüttert sind: «Im Strom der Sprache / baut das gedicht / eine Treppe / dem Wort».
  • Ausgehend von einer von liturgischen Grundmustern gestalteten eigenen Erzählung erläutert Felicitas Hoppe, katholisch sozialisierte Büchnerpreisträgerin mit Jahrgang 1960, die fantastische Sprach- und Motivbatterie, von deren Bildern, Texten und Tönen sie als Schriftstellerin bis heute zehrt: entstanden ist sie durch Übung und Wiederholung, sei es das Ritual der Sonntagsliturgie oder die mündlich erzählten biblischen Geschichten ihrer Mutter. «Die Poesie lebt aus dem Ritual, weil sie permanent mit ihm bricht», resümiert Felicitas Hoppe ihr eigenes literarisches Schreiben. «Sie schöpft ihre Kraft aus genauer Betrachtung und aus der Verwerfung des Alten […] Eigensinn durch Bindung, progressive Umarmung, mündliche Neuerfindung der Schrift!»
  • Auch Norbert Hummelt, durch den rheinischen Katholizismus geprägter Lyriker mit Jahrgang 1962, ruft das Erlebnis der Liturgie in seiner Kindheit auf: die im alten tridentinischen Ritus lateinisch zelebrierte Messe verband sich mit den häuslichen Tisch- und Abendgebeten beim Zubettbringen zu einem «poetischen Urerlebnis»: «die silben waren / so enorm verschliffen, vertrauter leierton, so / daß man jahre brauchte, bis sich die worte / einzeln von bedeutung zeigten u. sich ihr / rästselhafter kranz entwirrte, doch ist die fügung / noch in meinem ohr: bestimmte laute, die wir / früh vernahmen», beschwört Hummelt diese «Sphäre des urtümlich Heiligen» in einem seiner Gedichte, zu denen er durch Stefan George inspiriert wurde. Von dessen Kunstreligion setzt er sich deutlich ab: Poesie kann die Religion nicht ersetzen, auch konvergieren können sie nicht, das zeige sich insbesondere bei den letzten Dingen, dem Tod.

 

Liturgie: in eine bildhafte Handlung übersetztes kollektives Gebet

  • Der 1949 geborene Schweizer Schriftsteller Franz Dodel, der in der bernischen Diaspora streng katholisch erzogen wurde und später an der christkatholisch-theologischen Fakultät der Uni Bern über die Spiritualität der Wüstenväter («Sitzen und Schweigen. Weisungen aus der Stille») promovierte, macht zur poetischen Potenz der Liturgie folgenden Definitionsvorschlag: «Sie ist ein kollektives, in eine bildhafte Handlung übersetztes Gebet». Seit 20 Jahren schreibt Dodel an seinem Endlos-Poem mit dem zweideutigen Titel «Nicht bei Trost», seine normalerweise tägliche Fortschreibung kann im Internet mitverfolgt werden, er selbst bezeichnet es «als eine Litanei, in gewissem Sinne auch als immerwährendes Gebet». Die Regelmäßigkeit der lyrischen Form (Zeile um Zeile im Haiku-Rhythmus von jeweils 5–7–5–7 Wörtern) erzeugt einen Fluss der Gedanken und Beobachtungen über Gott und die Welt, Natur und Kunst, der Lesende unversehens in eigene Bilder und Erinnerungen verstrickt, beschreibt Beat Mazenauer Dodels poetisches Verfahren.
  • Nora Gomringer, schweizerisch-deutsche Lyrikerin, Spoken-Word-Künstlerin und engagierte Katholikin mit Jg. 1980, bereichert das Buch mit dem Sprechtext «Vor Arvo Pärts ‘Stabat Mater’ zu rezitieren» aus ihrem Gedichtband «Gottesanbieterin» (2020), das mittelalterliche Gedicht meditiert über die Schmerzen der Mutter Jesu unter dem Kreuz, Gomringers Anverwandlung endet mit: «Aller Schmerz ist fort. Gibt Erkennen und Freude. Gibt unbändige Freude.» Das vermag Poesie, schon in der Bibel bilden ja nicht von ungefähr die Klagepsalmen mit ihrem Stimmungsumschwung von der Not und Klage zum vertrauenden Lob die Mehrzahl der Psalmen!
  • Uwe Kolbe, 1957 geboren und in einem «gottlosen Haushalt in Ostberlin» aufgewachsen, überraschte 2017 als 60-Jähriger mit ganz heutigen «Psalmen». Im Buch reflektiert er über die Bild- und Sprachmacht des Buches der Bücher, die er an Übertragungen des 119. Psalms (der Zürcher Bibel, Luthers, Romano Guardinis und Buber-Rosenzweigs) exemplifiziert. Mit seiner eigenen Verdichtung dieses Psalms sucht Kolbe sich der existentiellen Dringlichkeit des biblischen Vorbilds ebenso zu stellen wie seiner strukturellen Eigentümlichkeit: Entsprechend den 22 Buchstaben des hebräischen Alphabets beginnen jeweils alle acht Verse der 22 Strophen mit demselben Buchstaben (a, b, d, e, f bis u, v, w und z). Fachsprachlich handelt es sich bei dieser Wiederholung des Anlauts um ein Akrostichon, was die liturgisch-meditative Wirkung dieses «litaneiartigen» (Buber) 119. Psalms ungemein verstärkt.
  • Mit seiner Doppelexistenz als Dichter und Theologe verkörpert Christian Lehnert geradezu ideal die Grundspannung des Buchprojekts: als Geschäftsführer des Liturgiewissenschaftlichen Instituts der VELKD an der Uni Leipzig wie als preisgekrönter Suhrkamp-Lyriker und -Essayist ist er bestens «vertraut mit einem destabilisierenden ‘und’ zwischen Religion und Poesie. Verunsicherung in der Sprache gehört zu meinen Grunderfahrungen.» Etwa die «irritierende Erfahrung», dass sich «die Machtförmigkeit der Sprache meist mit liturgischen Formen verband», die er nicht in der Kirche, sondern in ausgefeilten Schul- und Parteiliturgien der staatsatheistischen DDR erlebte, die ihn gleichzeitig die Macht der Metaphern lehrte.

Sein Essay über die Brüchigkeit der Sprache im Verstummen, über Sprache als Bewegungsform, als Klang und Ganzheit bietet eine kleine Summe, was Poesie mit religiöser Sprache verbindet, nicht zuletzt die Unzulänglichkeit unserer Ausdrucksformen. Wobei Lehnert schon in «Der Gott in einer Nuß. Fliegende Blätter über Kult und Gebet» (2017) betonte: «Der christliche Kult muss heute nichts mehr beweisen, nichts legitimieren. Sein absurdes Tun, ein Spiel, ist heute sinn- und zwecklos [Meister Eckhart und Angelus Silesius nannten das positiv: ohne Warum]. Er hat keine Funktion mehr, entzieht sich diesem üblen Wort, hat keine Aufgabe und ist zu nichts nutze. Taugenichtstun: das Gebet.» Hier zeigt sich die wohl größte Nähe zur Poesie: Religion und Poesie, Gebet und Liturgie sprengen die Herrschaft von Zweck und Nutzen.

 

Die weggeworfene Leiter

Zeitgleich erschienen auch Lehnerts Wiener Poetikvorlesungen «Die weggeworfene Leiter». Zu Christian Lehnerts Lyrik stellt Jan-Heiner Tück als Gastgeber der «Wiener Poetikdozentur Literatur und Religion» heraus, dass sie in ihren tastenden Suchbewegungen dem säkularen Literaturbetrieb zu viel an Transzendenz zumutet, während sie fromme Bedürfnisse nach erbaulicher Gebrauchslyrik zu wenig affirmativ-bekenntnishaft erscheint. «Es dürfte ein Qualitätsmerkmal der Dichtung von Christian Lehnert sein, dass sie die üblichen Raster der Klassifizierung sprengt.»

«Wir spüren, dass jede Aussage von Gott soviel zeigt, wie sie verbirgt», zitiert Tück aus einem Interview mit Christian Lehnert, in dem auch der Satz fällt: «Wer im Angesicht Gottes nicht nach Worten ringt, hat nichts verstanden.» Für Lehnert ist darum «Theologie immer auch Poesie», wie er gleich in der ersten Vorlesung betont. «Sie betritt jenen Raum, wo die Sprache, nicht allein in dem, was sie sagt, sondern in dem, wohin sie in Bewegung ist und was sie treibt, sich selbst übersteigt und neue Aussageräume und damit ‘neues Sein’ erschliesst.»

Dafür steht die titelgebende «weggeworfene Leiter»: «Einer steigt auf über die Sprossen dessen, was er spricht, um über die Sätze hinauszukommen in andere Bereiche der Erkenntnis. Mit Wittgenstein gesprochen: ‘Meine Sätze erläutern dadurch, dass sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie – auf ihnen – über sie hinausgestiegen ist. (Er muss sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem er auf ihr hinaufgestiegen ist.)’»

 

Ein Tier mit Vernunft und einem Herzen, das dichtet

Die erste Vorlesung bietet so «erste Gedanken zur theologischen Sprachlehre», indem sie der oft vorsprachlichen, weil juchzenden, lallenden, stammelnden Rede vom Unaussprechlichen nachgeht. Anhand des Langgedichts passio von Christian Lehnert weist die zweite Vorlesung mit dem Kreuz auf das Verlöschen der Sprache im Herzen des Christentums hin. In seiner dritten Vorlesung geht es um Sprache als Schöpfungsgestalt: Lehnert blättert ein Bilderbuch von Erscheinungen und Assoziationen auf in der Hoffnung, dass darin sich etwas zeigt von dem, was Sprache und Natur verbindet.

Die vierte und letzte Vorlesung wendet sich im Zeichen des «Atems» dem Wehen von Gottes Geistkraft zu und vertieft das Nachdenken über das Bilderdichten durch Martin Luthers theologische Anthropologie: «Was ist für ihn der Mensch? ‘Animal rationae, cor fingens’, ein Tier mit Vernunft und einem Herzen, das dichtet, das Bilder findet und ‘fingiert’, so sagt er in einer Vorlesung 1536 zum Buch Genesis. Der Mensch ist nicht nur ein Lebewesen mit Vernunft, wie Luther in traditionell aristotelischer Weise formuliert, er ist zugleich nicht ganz in der Gegenwart und in den Fakten, in den Analysen und im Machbaren zu Hause; seine Fühler streckt er ins Imaginäre, in ein Dichten und Bilden und Schauen des noch nie Gesehenen, des Undenkbaren. Das betrifft bei Luther auch den Kern der religiösen Existenz: ‘Fides creatrix divinitatis’ sagt er, der Glaube ist der Schöpfer der Gottheit. Jeder Glaubende dichtet und bildet sich seinen Gott, seine Gottesvorstellung. Poesie ist dem Glauben zu eigen wie der Atem dem Leben. ‘Gott’, das ist eine riesige Galerie von Bildern, fiktiv und schön, die soviel sichtbar macht, wie sie verbirgt.»

Christoph Gellner

 

Martin Rüsch (Hg.): Zeit zwischen Nichts. Liturgie & Poesie, Herder: Freiburg i.B. 2023, 159 S.

Christian Lehnert: Die weggeworfene Leiter. Gedanken über Religion und Poesie, Herder: Freiburg i.B. 2023, 108 S.

Ein tastender Blick auf Bildungslandschaften im Zeitalter von KI

 

Gratwanderungen gehören zum Aufregendsten, was man in den Bergen tun kann. Tastend folgt der Fuss dem Fels oder dem schmalen Wiesenband, links und rechts bricht der Boden jäh nach unten weg. Der Blick folgt dem Horizont, geht zur Seite und suchend nach unten, man hofft auf ein Ende der Gefahr und in innerer Spannung zugleich darauf, dass es immer so weitergehen möge: Schwebend zwischen Himmel und Erde, aufgespannt zwischen dem Jetzt und dem Möglichen. Beobachter:innen der Gratwanderung – weit unten, auf sicherem Terrain – drücken die Daumen für ihren guten Ausgang; wenn es aber nicht gut ausgeht, dann hat man das meist immer schon gewusst oder zumindest geahnt.

 

Die riskanteste Gratwanderung des Bildungsbereichs derzeit – schenkt man der breiten Berichterstattung Glauben – ist diejenige auf dem KI-Grat vom ChatGPT-Horn zum Tiefenlern-Gletscher. «Schon wieder!» eine Gratwanderung – denn drei Jahre, nachdem die Corona-Pandemie bereits auf ihre Art grosse Fragen rund um die Digitalisierung von Bildung gestellt hat, steht diese aktuelle Tour für eine alle Vorstellungskraft sprengende Herausforderung.[1]

Die Fähigkeiten heute verfügbarer KI sind bereits so weitreichend, dass sich die Frage nach dem «Wozu» von Bildung so grundsätzlich stellt wie seit dem Aufkommen des Humboldt’schen Bildungsideals nicht mehr: Welchen Stellenwert haben Wissen und die verschiedenen (Fach-)Kompetenzen der Anwendung dieses Wissens, wenn KI in so gut wie jeder Situation – selbst dem der bildenden Kunst! – schnellere, konsistentere, brauchbarere, neutralere Ergebnisse liefert? Wie gelingen nachhaltige Wissens(re-)produktion und Wissens(re-)präsentation in einer Welt, in der KI die Spielregeln bestimmt – oder zumindest alle damit rechnen müssen, dass KI bei der Erstellung des Wissens mit im Spiel war?

 

Ohne in Alarmismus zu verfallen: Diese Fragen sind wichtig; und sie müssen jetzt gestellt werden. Denn unmittelbare Auswirkungen auf den Bildungsbereich zeigen sich bereits heute: Die generativen KI-System à la ChatGPT funktionieren so, dass ihre Antwort auf die Anfrage einer Person stets ad hoc erstellt wird und dadurch immer einzigartig ist. Die Folgen beispielsweise für schriftliche Kompetenznachweise liegen auf der Hand: Gibt eine Person einen Aufsatz ab, in dem beispielsweise in bester Prosa ein pastoraltheologisches Thema abgehandelt wird, so lässt sich auf herkömmlichem Wege – Abgleich mit potenziellen Quellen, Plagiatssuche mit Musterabgleich – nicht mehr herausfinden, ob der Text kopiert ist oder nicht. Weil alle heute gängigen technischen Hilfsmittel bei der Plagiatssuche scheitern, bleiben nur heuristische Methoden: Entweder ist der fragwürdige Texte inhaltlich und sprachlich zu gut, was Anlass zum Zweifel an einer menschlichen Autorschaft geben könnte – oder eine auf Plagiatssuche spezialisierte KI – selbstverständlich aktuell bereits in der Entwicklung – wird ihrerseits auf potenzielle KI-Erzeugnisse angesetzt. Es entsteht ein Teufelskreis reinster Güte: Algorithmen kontrollieren Algorithmen kontrollieren Algorithmen … potenziell ad infinitum.

 

Verallgemeinern lässt sich, dass künftig alle geschriebenen Texte mit einer «Hermeneutik des Verdachts» bezüglich ihrer vermeintlichen Autorschaft gelesen werden müssen. Daraus folgt nicht zuletzt auch, dass das im Bildungsbereich häufig immer noch übliche Primat der schriftlichen Hausarbeit stramm dem Ende entgegen geht.

In den Antwortversuchen auf die oben gestellten Fragen lässt sich in aktuellen Diskussionen[2] ausserdem eine Tendenz erkennen, die sich in den nächsten Jahren noch verstärken wird: Nämlich als eigentliches Ziel von Bildung die Kompetenz zur Analyse und Deutung medialer Inhalte sowie den anschliessenden Transfer der Deutemuster auf andere Inhalte  zu verstehen. Dies steht sinnbildlich für zwei Entwicklungen: Zum einen ist ein mediales Produkt zum Ausweis eines Bildungsvorgangs von vornherein verdächtig als mindestens potenzielles Ergebnis einer KI (s.o.); zum anderen wird das klassische Faktenwissen als Marker von Allgemeinbildung oder als grundlegender Bestandteil von Fachwissen generell als immer weniger relevant wahrgenommen. Um es überspitzt zu formulieren: Bildungswissen ist als gesellschaftliches Distinktionsmerkmal bereits weitgehend obsolet geworden; und dies zeigt sich heute auch in der allgemein akzeptierten Bewertung dieses Wissens.

 

Ein solches Bildungsverständnis – eben die Fähigkeit zur Analyse und Deutung von medialen Inhalten – ist zweifellos nachvollziehbar und im Kontext kompetenzorientierter Bildung selbstverständlich sinnvoll. Fraglich ist aber auch, ob es die einzig angemessene oder ausreichende Antwort auf die Herausforderungen durch KI ist.[3] Dazu nun der tastende Versuch einer Einordnung:

Wer heute einen KI-Text liest, hat – objektiv betrachtet – keinen autoritativen Text vor sich. Er findet wahrscheinlich wichtige Stichworte zu einem angefragten Thema vor, auch Jahreszahlen und vielleicht einigermassen genaue Beschreibungen von thematisch verbundenen Personen – aber der Text ist ohne implizite redaktionelle Ordnungsvorstellung geschrieben (übrigens auch ein Problem vieler Wikipedia-Artikel): Wie ist das Verhältnis einzelner Wissensbestandteile zueinander? Stimmen ihre Längenanteile? Was ist relevanter, was irrelevanter Wissensinhalt? Mit welchen Sekundärquellen ist eine Aussagen sinnvollerweise zu belegen? Das sind alles Fragen, denen sich ein/e erfahrene/r Verfasser:in mit dem Anspruch einer möglichst ausgewogenen Inhaltsvermittlung stellt. Soweit wir das von aussen beurteilen können – und mehr ist bei der «Black-Box» KI bekanntermassen gar nicht möglich – wird dieser «innere Monolog» in den KIs technisch (noch?) nicht geführt.

Gleichzeitig sendet der Text aber alle Signal eines autoritativen Textes: Er ist sprachlich überaus konsistent und sauber verfasst, nennt bei Personen biographische Details, die auf den ersten und zweiten Blick stimmig sind – es entsteht allein dadurch ein gewisser Sog, den Text «für wahr» und faktenbasiert zu halten. Ein Sog, dem nur durch wirklich hohen Sachverstand und durch das Vertrauen in das eigene (Fakten-)Wissen bzw. auf die zugänglichen Quellen zu entkommen ist.

Dazu kommt: Wie menschliche Autor:innen sind auch KIs «unzuverlässige» Autor:innen. Wie Menschen in Prüfungen alles Mögliche erzählen und erfinden, um über ihre Wissenslücken hinwegzutäuschen, «halluziniert» eine KI das ihr fehlende Wissen. Aber im Gegensatz zu einer wissenschaftlich betreuten Veröffentlichung oder zur Wikipedia, wo man sich (normalerweise) darauf verlassen kann, dass ein Heer von Freiwilligen irgendwann eine Falschinformation findet und eliminiert, ist externe Rückkopplung zur Fehlerbereinigung bei KIs gar nicht implementiert. Und es gibt von «aussen» wie gesagt keine Möglichkeit, die Genese von spezifischem Text zu beobachten oder gar zu steuern.

Pointiert zusammengefasst heisst das als Aufgabe für den Bildungsbereich: Wir Menschen müssen den Umgang mit medialen Erzeugnissen lernen, die einen stark autoritativen Charakter aufweisen, aber potenziell von der «Wahrheit» so weit entfernt sind wie die Venus von der Erde. Keine leichte Aufgabe, denn KI wirkt ja selbst bereits heute und künftig immer öfter auf die Herstellung und anschliessende Wahrnehmung von Faktenwissen ein: Diese wird dadurch immer unschärfer und «verflüssigt» sich gleichsam in der gegenseitigen Beeinflussung von faktenbasierter Quelle, halluzinierender KI und dem rezipierenden Menschen. Die Vorstellung, dass durch das Vertrauen auf die fast magisch anmutenden Fähigkeiten der KIs selbst banalstes Faktenwissen irgendwann obsolet wird, dürfte allen einen Schauer des Horrors über den Rücken schicken, die sich noch an die «Fake-News»-Kampagnen eines ehemaligen US-Amerikanischen Präsidenten erinnern.

Künftig wird also die Kompetenz zur Deutung von medialen Inhalten noch wesentlich mehr im Vordergrund stehen müssen als das faktenorientierte Lernen alter Schule – doch zugleich wird es ebenso wichtig, die implizite und explizite Gültigkeit von Textaussagen zu analysieren und verifizieren zu können. Dazu braucht es dann mindestens eine gute Allgemeinbildung – und nicht zuletzt ein Wissen darüber, mit welchen Methoden, Quellen usw. ein tatsächlich «richtiger» Wissensinhalt sozusagen triangulatorisch gewonnen und festgehalten werden kann. Da ist dann auch der regulatorische Einsatz der Politik gefragt. Wünschenswert wäre ein verbindliches System zur Signierung von KI-Texten oder anderen KI-Medien, das – zumindest für längere Passagen – eine lückenlose Nachverfolgung bis hin zum Ursprung ermöglichen würde. «Fake-News» oder potenziell fehlerbehaftete Texte könnten somit leicht identifiziert werden.

Wir stehen am Anfang einer Epoche, die wir in ihren potenziellen Auswirkungen noch gar nicht richtig erfassen können. Wäre ich ein Börsenmakler, würde ich wohl wenigstens den Kauf von Aktien derjenigen Firmen empfehlen, die heute schon gross im Geschäft mitmischen: nVidia, Microsoft, Meta u.a. Im Blick auf die Bildung ist aber noch vieles unklar: Mit welchen Methoden, Ausdrucksformen usw. werden Menschen künftig ihre Kompetenz im Umgang mit Wissen ausweisen? Worin werden die Qualitätsunterschiede im Gegensatz zu den Erzeugnissen einer KI gesehen?[4] Was ist der menschliche Faktor der Bildung? Fragen, die uns in den kommenden Jahren und Jahrzehnten noch oft beschäftigen werden.

Michael Hartlieb

 

[1] Dass die Herausforderungen tatsächlich – und jetzt nicht nur bezogen auf den Bildungsbereich – absolut aussergewöhnlich sind, zeigt sich allein schon daran, dass die Unternehmen hinter den heute leistungsfähigsten KIs förmlich um staatliche Regulierung betteln. (vgl. https://www.inside-it.ch/ki-experten-warnen-vor-ende-der-menschheit-20230531 [abgerufen am 1.6.2023])

Der Konkurrenzdruck ist aktuell so gewaltig, dass die Unternehmen ständig in höchstem Masse innovativ sein müssen, um nicht den Kampf um Marktanteile zu verlieren. Gleichzeitig bleibt ihnen keine Zeit, um die zahlreichen ethischen Probleme zu lösen. Und es bleibt auch keine Zeit, sich ernsthaft mit den Auswirkungen der KI-Explosion (die in ihrer Extensität und ihren potenziellen Auswirkungen schon mit dem Erdzeitalter des Kambriums verglichen wird) auf die Lebensbereiche des Menschen zu beschäftigen.

[2] Vgl. eine Diskussion unter luxemburgischen Bildungsfachleuten unter diesem Link: https://www.science.lu/de/ki-der-bildung/auswirkungen-von-kuenstlicher-intelligenz-auf-den-bildungsbereich

[3] Als Kontrastfolie ist es auch ernüchternd zu lesen, was sich die grossen IT-Konzerne als Einsatzmöglichkeiten für ihre KI-Systeme vorstellen. Bezeichnend etwa folgende Einordnung durch Intel: https://www.intel.de/content/www/de/de/education/transforming-education/ai-in-education.html

 

[4] Vor allem angesichts der Pläne, den KI-Systemen Formen eines abstrakten Bewusstsein einzubauen. Siehe hierzu: https://www.golem.de/news/meta-ki-soll-abstrahieren-und-hintergrundinformationen-lernen-2306-174982.html [15.06.23]

Anders an Gott glauben heisst noch nicht, an einen anderen Gott glauben

 

In seinem neuen Buch «Monotheismus und Trinität» macht der Basler Religionstheologe Reinhold Bernhardt im Blick auf Judentum, Islam und Buddhismus Anfragen an das christliche Gottesdenken theologieproduktiv. Dass er sich so religionsdialogisch um neue Plausibilität und intellektuelle Glaub-Würdigkeit des christlichen Gottesglaubens bemüht, findet Christoph Gellner vorbildlich.

 

Christliches Gottdenken kann heute vom Glauben anderer Religionen nicht absehen: Es braucht eine religionsdialogische Theologie «im Resonanzraum ausserchristlicher Gottesvorstellungen». In seiner «Gotteslehre im Kontext der Religionstheologie» geht der reformierte Theologe Reinhold Bernhardt davon aus, «dass durch Bezugnahmen auf andere Religionstraditionen Neuperspektivierungen und -akzentuierungen der christlichen Auffassungen erfolgen können und sollen». Sein Buch beantwortet zwei Leitfragen: Verbindet der Monotheismus die monotheistischen Religionen oder trennt er sie nicht ebenso sehr? Und wie verhält sich der Glaube an den einen Gott als Grundüberzeugung von Judentum, Christentum und Islam zum christlichen Verständnis der Dreieinigkeit?

 

Gott ist grösser, deus semper major, allahu akbar

Dass der Monotheismus die monotheistischen Religionen verbindet, wird vom Zweiten Vatikanischen Konzil, vom ÖRK, von jüdischer und muslimischer Seite bejaht. Judentum, Christentum und Islam sind «unterschiedliche Konkretionen des Monotheismus», auch den mystischen Monotheismus gibt es nur in konkreten Ausprägungen der Kabbala, der christlichen Mystik und des Sufismus. Dagegen ist die nicht selten auf Islam und Christentum gemünzte Unterscheidung zwischen «abstraktem» und «konkretem» Monotheismus hochproblematisch, auch wenn zwischen der Gottheit Gottes und den religiösen Gottesbildern, -vorstellungen und -begriffen unterschieden werden muss: «Absolut ist Gott allein, nicht aber das Gottesdenken und die Gottesverehrung der Religionen», verdeutlicht Bernhard im Verweis auf das Erste Gebot und erinnert mit Karl Rahner an den Vorbehalt der letztlichen ‘Vorletztheit’, d.h. Vorläufigkeit und Unangemessenheit aller menschlichen Gottesrede: «Gott als der immer grössere Gott, der in eine von der Welt her entworfene Formel nie eingeht.»

Es folgen Ausführungen zum islamischen Verständnis der Einheit Gottes und zum ethischen Monotheismus. Eigens greift Reinhold Bernhardt das Konzept einer «Abrahamischen Ökumene» auf und diskutiert die Einwände vor allem von evangelikaler und charismatischer Seite gegen die Annahme, dass sich Christen und Muslime in ihrem Glauben auf denselben Gott beziehen. Das Zweite Vatikanische Konzil hat dies in Nostra Aetate 3 und Lumen Gentium 16 explizit kirchenoffiziell bejaht. So erklärte Papst Johannes Paul II. anlässlich einer Begegnung mit muslimischen Jugendlichen in Casablanca 1985: «Wir glauben an denselben Gott, den einzigen, den lebendigen, den Gott, der die Welten erschafft und seine Schöpfung zur Vollendung führt.» Ebenso eindeutig ist der Koran bezüglich der «Leute der Schrift» (=Christen und Juden): «Unser Gott und euer ist einer.» (Sure 29, 46) Zwischen den Glaubenstraditionen von Juden, Christen und Muslimen gibt es tiefe und zum Teil unüberbrückbare Differenzen, doch betont Bernhardt: «Man kann nicht von diesen Differenzen des Gottesverständnisses auf die Differenz des göttlichen Grundes schliessen, auf die sie sich beziehen. Anders an Gott glauben heisst noch nicht, an einen anderen Gott glauben!»

Zudem thematisiert er die von David Hume bis Jan Assmann vertretene These, der Monotheismus sei per se autoritär und intolerant. Erste Überlegungen zum Zusammenhang von Christologie und Trinität zum biblischen Monotheismus sowie zur Frage, wieweit Gott als «Person» bezeichnet und wie die Kategorie der Personalität auf Gott angewandt werden kann, leiten über zum zweiten Hauptteil: Steht ein trinitarisches Gottesverständnis der interreligiösen Verständigung im Weg?

 

Die dreifache Erfahrung der Selbstvergegenwärtigung Gottes

Nach Einwänden aus dem Judentum und dem Islam gegen die christliche Trinitätslehre und einer kritischen Diskussion gegenwärtiger trinitarischer Gotteslehre entfaltet Reinhold Bernhardt sein eigenes Trinitätsverständnis, wobei er ein doppeltes Ziel verfolgt: (1) die ihr zugrunde liegende christliche Glaubenserfahrung transparent zu machen und (2) so auch für Andersglaubende eine grössere Anschlussfähigkeit oder zumindest eine bessere Nachvollziehbarkeit zu erreichen.

Bewusst setzt Reinhold Bernhard glaubensphänomenologisch bei der im Glauben erfassten und bezeugten dreifachen Erfahrung der Gegenwart des einen Gottes an und fragt von dort aus «hinauf» nach dem Wirken und dem Wesen Gottes. Er versteht die Lehre von der Dreieinigkeit Gottes als ein Denkmodell, das die ansatzhaft schon im Neuen Testament belegte dreifache Prädikation Gottes als Schöpfer, Erlöser und Vollender als die drei Grundgewissheiten des christlichen Glaubens in einen Zusammenhang stellt. Als Strukturprinzip des auf Jesus Christus zentrierten Glaubens an Gott handelt es sich um eine Verstehensanleitung theologischer Reflexion, die das Geheimnis des Wesens Gottes in der Perspektive des christlichen Glaubens tastend, aber nicht begrifflich zu fassen vermag.

Gott über mir, mit mir und in mir: Drei Grunderfahrungen der Beziehung des einen Gottes zur Welt und zum Menschen sind traditionell Thema der sog. «ökonomischen» Trinitätslehre» (von griechisch oikonomia = Heilsgeschichte): das «schöpferische» Wirken Gottes in allem Geschaffenen um uns, das «versöhnende» Wirken Gottes in Jesus Christus als dem für den christlichen Glauben massgebenden «Wort Gottes in Person», und das «vollendende» Wirken in der Kraft seines Geistes.

In Bernhardts Deutung bringt dies die Universalität des göttlichen Heilswillens und Heilswirkens zum Ausdruck: «Dieser Wille und dieses Wirken ist nicht erst im Christusereignis konstituiert, sondern besteht von Ewigkeit her und erstreckt sich über den ganzen Kosmos, über die ganze Geschichte und damit auch über die Religionsgeschichte», verdeutlicht der Religionstheologe. «Wäre das Heil der Menschen erst in Tod und Auferstehung Jesu Christi grundgelegt, würde es allein im Christusglauben zugeeignet und fände es ausschliesslich in der Kirche seine soziale Realisierungsgestalt, dann wären Menschen, die vom Christusglauben unberührt sind und in keiner Beziehung zur Kirche stehen, in einem soteriologisch defizitären Status oder vom Heil Gottes ganz ausgeschlossen.»

 

Die eine Gottheit und die drei «Personen» Gottes

Hinsichtlich des Rückschlusses von der «ökonomischen» auf die «immanente Trinität» (d.h. auf das innergöttliche Wesen) zieht es Reinhold Bernhardt – auf der Linie von Karl Rahners Rede von drei «Gegebenheitsweisen Gottes» – vor, von drei «Beziehungsbewegungen» zu sprechen, die von drei «Beziehungspolen» in Gott ausgehen. Diese Auffassung stehe den biblischen Zeugnissen von der Weltzuwendung und der Menschenfreundlichkeit Gottes näher als die Lehre von drei Gottpersonen, die stets Gefahr laufe, als Dreigötterlehre die Einheit Gottes in Frage zu stellen.

Dabei ist es «immer der eine und ganze Gott, von dem die eine dreidimensionale Beziehung ausgeht und der seine machtvolle schöpferische, heilende und vollendende Präsenz entfaltet.» Der Begriff «Person» ist im Rahmen der immanenten Trinitätslehre problematisch, so Reinhold Bernhardt, der im Anschluss an die griechischen Kirchenväter der alten Kirche lieber von «Gesichtern» sprechen will, das Gesicht sei ja nicht etwas Äusserliches, vielmehr gewähre es einen Einblick ins innere Wesen Gottes: «Wenn die Trinitätslehre christentumsintern, aber auch interreligiös nicht missverstanden werden will, sollte sie nicht als Lehre von drei ‘Personen’ in Gott (bzw. als drei ‘Personen’ Gottes) dargestellt werden. Das heutige Verständnis von ‘Person’ als individueller Subjektivität führe nahezu unvermeidlich zu einem tritheistischen Verständnis.» Auch wenn Gott «mehr» oder «grösser» ist als seine Vergegenwärtigungen, hält Reinhold Bernhardt daran fest, «dass in diesen Selbstmitteilungen die Fülle des Wesens Gottes in uneingeschränkter Authentizität zum Ausdruck kommt».

 

Eine «Christologie im Kontext der Religionstheologie» hat Bernhardt bereits 2021 in «Jesus Christus – Repräsentant Gottes» entfaltet. «Repräsentation» als Leitbegriff der Christologie besagt: «Jesus Christus ist die Vergegenwärtigung des Wortes Gottes und damit Gott selbst. Er repräsentiert dieses ‘Wort’ (d.h. die schöpferische, heilshafte und vollendende Selbstmitteilung Gottes) so authentisch, dass er als dessen personale Realpräsenz erfahren und bezeugt wurde. In ihm begegnet Gott […] Er ist der Mensch, der den ewigen Logos Gottes und damit die Menschlichkeit Gottes verkörpert.»

Diese repräsentationschristologische Interpretation erlaubt die Unterscheidung zwischen dem Repräsentanten – der Person Jesu Christi, die Gott so verleiblichte und vergegenwärtigte, dass er das «Ebenbild des unsichtbaren Gottes» (Kol 1,15; vgl. 2 Kor 4,4) genannt wurde, darin besteht seine Göttlichkeit, als Mensch, der ganz und gar aus der Beziehung zu Gott lebte, verkörpert er zugleich wahres, d.h. gottoffenes Menschsein – und dem, was er repräsentiert: den Heilswillen Gottes.

 

Religionsübergreifende Universalität des Heilswirkens Gottes

Religionstheologisch von Bedeutung ist, dass sich damit die Möglichkeit öffnet, eine Selbstmitteilung Gottes auch über die Offenbarung in Jesus Christus hinaus, d.h. schon vor und auch ausserhalb seiner Wirkungsgeschichte anzunehmen: «In dieser Hinsicht ist Jesus Christus der Offenbarer und Mittler des universalen und unbedingten Heilswillens Gottes. Die ganze Fülle Gottes ist in ihm. Doch es ist dieses eben eine unerschöpfliche Fülle. Und so kann das ‘Wort’ Gottes auch in anderen Gestalten ergehen und so kann Gottes ‘Geist’ auch aus spirituellen Quellen fliessen, die nicht den Namen Jesu Christi tragen. Im hermeneutischen Zirkel des christlichen Glaubens bleibt Christus jedoch das unhintergehbare Kriterium für die Bestimmung des ‘Wortes’ und für die Unterscheidung der Geister. Ein Geist, der seiner Geisteshaltung widerspricht, kann demnach nicht Geist vom Geist Gottes sein.»

 

Wie bilanziert Reinhold Bernhardt das Verhältnis von Trinität und Monotheismus? So wie die Trinität die dreifache Zuwendung Gottes zur Welt und zum Menschen zum Ausdruck bringe, so stehe der Monotheismus für das Moment der Transzendenz und Entzogenheit Gottes (Meister Eckhart stellte sogar Gott die Gottheit gegenüber, Paul Tillich den Gott über dem Gott des Theismus). Das für das monotheistische Gottesverständnis zentrale Bedeutungsmoment der Einheit sei (auch muslimisch) dynamisch zu verstehen: «Es ist keine in sich ruhende, sondern eine sich entäussernde und wieder zusammenführende Einheit», erläutert der Basler Systematiker. Sie sei «demnach keine numerische, mathematische oder quantitative, keine erratische Einheit, Einfachheit oder Einzigkeit, sondern eine prozesshafte, lebendige, bewegte und bewegende, die auf All-einigkeit zielt, auf das Einswerden der Menschheit unter der Herrschaft des einen und einziges Gottes (vgl. Sach 14,9; 1 Kor 15,28).»

«Wie die Christusoffenbarung so müssen auch die Zentraloffenbarungen der Thora und des Korans ihre Adressaten immer wieder neu erreichen und von ihnen an- und aufgenommen werden. Das geschieht nach christlichem Verständnis im geistgewirkten Glauben, nach islamischer Auffassung in der Rezitation des Korans und der göttlichen Rechtleitung, nach jüdischer Überzeugung in der Lesung und der aktualisierenden Auslegung der Thora, sowie in den individuellen und kollektiven Kult- und Lebensformen der Glaubensgemeinschaft, die sich daran orientiert. Sofern auch auf jüdischer und islamischer Seite in diesen Erhellungs- und Transformationswirkungen Gott selbst ‘am Werk’ gesehen wird, besteht eine Analogie zur christlichen Rede vom Heiligen Geist.»

Das Fazit? Ohne die tiefgreifenden Unterschiede zwischen jüdischem, christlichem und islamischem Gottesverständnis zu nivellieren, lasse eine pneumatologisch basierte Religionstheologie die Religionen als «potenzielle Ereignisräume der wirksamen Geistesgegenwart» sehen. Doch ohne wie die Pluralistische Theologie der Religionen (etwa Perry Schmidt-Leukels «Wahrheit in Vielfalt») mehrere äquivalente Offenbarungen und Mittler zu postulieren und ohne pauschale Anerkennung anderer Religionen als «Heilswege» könne dies nur als eine im Glauben an den die ganze Schöpfung umspannenden und durchdringenden Geist Gottes begründete Möglichkeit christlich bejaht werden. Das von Bernhardt verfasste Impulspapier der Schweizerischen Evangelischen Kirchenbunds «Der christliche Glaube und die Religionen» (2007) trägt denn auch den Titel «Wahrheit in Offenheit».

Christoph Gellner

 

Reinhold Bernhardt: Monotheismus und Trinität. Gotteslehre im Kontext der Religionstheologie, TVZ, Zürich 2023, 327 S.

Reinhold Bernhardt: Jesus Christus – Repräsentant Gottes. Christologie im Kontext der Religionstheologie, TVZ, Zürich 2021, 386 S.

Und Gott sah, dass es schlecht war

 

Warum uns der christliche Glaube verpflichtet, die Schöpfung zu bewahren

 

Angesichts der Herausforderungen durch die Klimakrise und das Artensterben braucht es nicht nur neue Ansätze der Schöpfungstheologie, sondern eine grundlegend neue Sichtweise auf den Menschen inmitten der Schöpfung. Dorothee Foitzik hat sich durch die engagierte Monographie von Julia Enxing „stören“ lassen.

 

Mit der Monographie «Und Gott sah, dass es schlecht war. Warum uns der christliche Glaube verpflichtet, die Schöpfung zu bewahren (Kösel, München 2022)» hat Julia Enxing, Professorin für Systematische Theologie an der Technischen Universität Dresden, ein engagiertes Plädoyer vorgelegt, das aufgrund seines Inhalt und der Sprache einer breiten Leser*innenschaft zugänglich sein dürfte.

 

Enxing plädiert zum einen für eine neue – zeitgemässe – Schöpfungstheologie, die eine neue theologische Anthropologie zur Basis nimmt und zur Folge hat, denn die Sichtweise auf den Menschen als einzigartiges, vernunft- und sprachbegabtes Wesen habe zwar zu grossen Fortschrittsleistungen einerseits aber zu verheerenden Entwicklungen anderseits beigetragen. Zum anderen fordert sie die Gemeinschaft der Christ*innen zum radikalen Umdenken und infolgedessen zum entschiedenen Handeln auf. Denn «die Klima-Transformation und das Artensterben warten nicht darauf, bis wir so weit sind, eine eigene Transformation zu vollziehen». Voraussetzung für eine konsequente und entschiedene Umsetzung der SDGs (der «Sustainable Development Goals», der Ziele für nachhaltige Entwicklung; DFE) sei die Überzeugung, «dass uns das Wohl der anderen etwas angeht, mehr noch, dass das Wohl der anderen Teil unseres eigenen Interesses sein muss. Die biblische Botschaft, den Nächsten zu lieben wie uns selbst, bedeutet umgekehrt: Wir müssen aufhören, uns selbst mehr zu lieben als unseren Nächsten» (169). Eine Revision und eine Revolution im Denken, in der theologischen Lehre, in der Sprache und im Handeln sind dringend vonnöten.

 

Die Autorin gliedert ihr „Manifest“ in fünf Kapitel. Im ersten Kapitel «Was in den Schöpfungserzählungen (nicht) steht», nimmt sie die Schöpfungserzählungen der Bibel zur Grundlage (20-48), um zu verdeutlichen, dass der Mensch zwar als zuletzt erschaffen begriffen wird, aber keineswegs als «Krone der Schöpfung» vorgestellt wird. Die Autorin betont, dass gemäss der biblischen Botschaft das menschliche Wesen, der «Erdling», der «Spät-Erschaffene», weder die «Krone der Schöpfung» ist, noch eine besondere Stellung innerhalb allen Lebens innehat. Es gehe also nicht darum, Evolutionstheorien nachträglich in Schöpfungstheologien zu integrieren, vielmehr müsse das Verständnis des Menschen in seiner evolutiven Gemeinsamkeit mit allem Nicht-Menschlichen zum Ausgangspunkt theologischer Lehren von der Schöpfung werden.

Wenn aktuell die Frage nach der Gottesebenbildlichkeit des Menschen gestellt werde, dann meist im Zusammenhang mit Phänomenen, die den Menschen in seinem Selbstbild momentan am stärksten herauszufordern scheinen – die Robotik und die Künstliche Intelligenz. Das Nicht-Menschliche, z B. das «Tierliche», aber spiele für das Selbstverständnis des Menschen meist nur eine ganz geringe Rolle. Dabei verkennten alle Denkansätze, welche die Bedeutung des Nicht-Menschlichen vernachlässigten, dass kein Lebewesen so sehr durch seine Abhängigkeit von den Arten und zu allem Lebendigem ausserhalb seiner selbst gekennzeichnet ist wie der Mensch. Es sei gerade die Koexistenz mit dem Nicht-Menschlichem, die den Menschen am Leben erhalte. Anstatt von vermeintlichen Alleinstellungsmerkmalen des Menschen auszugehen, müsse den gegenseitigen Abhängigkeiten von Menschlichem und Nicht-Menschlichem sowie der gemeinsamen Geschichte, dem gemeinsamen Schöpfungsprozess und dem gemeinsamen Lebensraum von Menschen und Nicht-Menschen Rechnung getragen werden.

 

Das Kapitel «Warum wir die Erde (nicht) ausbeuten dürfen: Zu Gast in G*ttes Welt (49-81)» setzt sich mit dem Verständnis der Welt auseinander, dass sie als Schöpfung von G*tt allen Lebewesen zum Geschenk gegeben wurde und nicht von den Menschen vernutzt werden darf (Wie es beispielsweise mit den so genannten „Nutz-Tieren“ geschieht). Unser Zeitalter, das so genannte «Anthropozän», sei charakterisiert durch den grösstmöglichen Einfluss des Menschen auf alle irdischen Prozesse. Der Mensch habe das Geschehen des Schöpfungsprozesses so weit manipuliert, dass diejenigen, die gemäss den biblischen Erzählungen bereits vor dem Menschen den Auftrag erhielten, fruchtbar zu sein und sich zu vermehren, diesem göttlichen Willen kaum mehr entsprechen könnten.

In theologischer Rede soll laut Enxing also nicht das Einzigartige des Menschen betont werden, sondern dessen Verwicklung und Verwobenheit. Statt Abgrenzungsterminologien zu nutzen, muss mittels einer neuen theologischen Sprache deutlich werden, wie Menschliches und Nicht-Menschliches inter-sozial verbunden sind. Wenn aktuelle Theologien deutlich machen wollen, dass wir nur gemeinsam mit dem Nicht-Menschlichen und möglichst nicht auf Kosten beispielsweise der Tiere leben wollen, brauchen wir auch eine Sprache, die dies zum Ausdruck bringt. Denn Sprache schafft Wirklichkeit.

Der Begriff des «Anthropozän», des Zeitalters «des Menschen» ist mit dem Begriff des «Anthropozentrismus» verwandt. Enxing gibt jedoch zu bedenken, dass der Begriff des Anthropozentrismus unterstelle, dass es „den Menschen“ gebe, der seinen Einfluss auf die ökologischen Prozesse und den Lebensraum der nichtmenschlichen Tiere ausnutze und so die Linie der Ausbeutung zwischen «dem Menschen» und «der Natur», also den «Nicht-Menschen» verlaufe. Dabei werde zu wenig deutlich, dass nicht (nur) die Ausbeutung und Ausnutzung der Schöpfung zugunsten des Menschen problematisch ist, sondern auch die Ausbeutung und Unterdrückung von Menschen durch Menschen.

 

Im dritten Kapitel «Warum früher (nicht) alles besser war» plädiert sie für eine ökologische Bildung als Herzensbildung (82-112). Dabei kann und sollte unsere Religiosität «eine vielfältige Ressource sein: Sind wir davon überzeugt, dass wir das Reich G*ttes aktiv mitgestalten und dass zu diesem Reich alle Geschöpfe gehören, Frieden niemals von sozialer, intergenerationeller und ökologischer Gerechtigkeit zu trennen ist und sich G*tt in der Schöpfung offenbart, dann ist das religiöse Leben eine Suche nach G*tt im anderen, in der Schöpfung». Religiöse und ökologische Bildung gingen dann Hand in Hand, denn auch ökologische Bildung sei keine reine Wissensvermittlung. Ginge es um reines Faktenwissen, wären wir alle sehr ökologisch gebildet. «Es mangelt uns nicht an Wissen, es mangelt uns an etwas, das ich «ökologische Herzensbildung» nenne (112). Hier sieht Enxing das Potential religiöser Bildung, sie nimmt Bezug auf eine Passage aus der Enzyklika «Laudato si»: «Das Ziel ist nicht, Informationen zu sammeln oder unsere Neugier zu befriedigen, sondern das, was der Welt widerfährt, schmerzlich zur Kenntnis zu nehmen, zu wagen, es in persönliches Leiden zu verwandeln, und so zu erkennen, welches der Beitrag ist, den jeder einzelne leisten kann» (113).

 

Worin bestehen also mögliche Ansatzpunkte einer Theologie, die den Lebensrechten der nichtmenschlichen Schöpfung gerechter wird? Enxing ist überzeugt, dass solange das theologische Verständnis des Menschen keiner Revision und Revolution unterzogen wird, sich weder die Frage nach dem Eigenrecht des Nicht-Menschlichen nachhaltig bearbeiten lässt, noch das Verhalten des Menschlichen zum Nicht-Menschlichen dauerhaft verändert werden kann.

Die christliche Theologie müsse sich ihren Anteil an der aktuellen ökologischen Katastrophe eingestehen und ihr Bild vom Menschen neu überdenken. Der Mensch habe sich nicht entgegen der nichtmenschlichen Mitwelt entwickelt, sondern mit ihr und in Abhängigkeit von ihr.

 

Im vierten Kapitel setzt sich Enxing mit den «Rechten» und der «Würde» alles «Nicht-Menschlichen» auseinander: «Warum wir (nicht) mehr Rechte haben als andere Geschöpfe: Der Mensch als Teil des Ökosystems (114 – 142). Darin schreibt sie u.a., dass «Umweltschutz» oder «Bewahrung der Schöpfung» immer noch zu sehr vom Ausgangpunkt «Mensch» her und zu wenig vom Eigenrecht alles Nicht-Menschlichen her gedacht würden. Man könne beispielsweise Tieren eigene Rechte und Würde zusprechen, auch wenn sie diese nicht selbst vertreten könnten, analog zu Kleinkindern oder Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen. Im fünften und letzten Kapitel schliesslich, «Warum es so (nicht) weitergehen kann» verweist sie auf «Unsere generationsübergreifende Verantwortung» als Christ*innen, damit knüpft sie an den Aussagen des dritten Kapitels an.

 

Am Sonntag, den 26. März 2023, wird Julia Enxing, Professorin für Systematische Theologie an der Technischen Universität Dresden, den Herbert Haag Preis der Herbert-Haag-Stiftung für Freiheit in der Kirche erhalten. In der Begründung ist zu lesen: «Julia Enxing betreibt Theologie mit einem klaren Gegenwarts- und Gesellschaftsbezug. Im Fokus ihrer Interessen stehen Gerechtigkeitsfragen – insbesondere Fragen der ökologischen Gerechtigkeit, der Geschlechtergerechtigkeit und des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Es sind zugleich Fragen nach dem guten Leben, die sie umtreiben: Ihr schöpfungstheologisches Denken wendet sich allem Lebendigen zu – ob nun menschliches oder nichtmenschliches Sein – und benennt in einer lebensbejahenden Option das Prekäre und Gefährdete. Darin knüpft sie an Befreiungstheologien aus unterschiedlichen Zusammenhägen an».

Medienmitteilung der Herbert-Haag-Stiftung für Freiheit in der Kirche vom 30. September 2022).

 

Bin ich der Hüter meines Bruders? (Gen 4,9)

 

Tagung am 28. März 2023 in Zürich, Veranstaltungszentrum Paulusakademie

 

Die aktuellen Herausforderungen für Seelsorgende sind immens. Die berufliche Identität scheint brüchig geworden und das innere Feuer droht zu erkalten. Anlässlich der Tagung am Dienstag, den 28. März 2023, in der Paulusakademie in Zürich, können sich Personen mit Leitungsverantwortung und alle Interessierten durch vielfältige Impulse, vor allem aus dem Bibliodrama, inspirieren lassen, wie den strukturellen und persönlichen Belastungen aktiv zu begegnen ist.

 

Auf Reformstau, Missbrauchsskandal und Personalmangel reagieren nicht wenige Seelsorgende mit Rückzug oder innerer Leere. Die Herausforderungen durch die Corona-Pandemie haben diese Tendenz noch verstärkt.  werden bei der Tagung Impulse geboten, wie den strukturellen und persönlichen Belastungen aktiv zu begegnen ist. Besonders in der Begenung mit biblischen Erzählungen erfahren Personen mit Leitungsverantwortung sowie alle Interessierten, über welche Ressourcen zur Selbstsorge und Resilienz kirchliche Mitarbeitende verfügen. Sie können selbst erproben, welche Interventionen und kreativen Schritte sie in der Selbstsorge und in der Sorge für andere unterstützen können.

 

Prof.’ in Dr. Helga Kohler Spiegel spricht am Vormittag zum Thema «Ich bin der/die Hüter/in meiner selbst und meines Bruders/meiner Schwester! Selbstsorge und Ermächtigung in pastoralen Leitungsfunktionen».

Prof. Dr. Simon Peng-Keller liest in seinem Impuls am Nachmittag die biblischen Heilungsgeschichten im Licht des christlichen Heilungsauftrages neu: «Heilwerden und Verlebendigung aus Deinem Wort».

 

Jeweils anschliessend ermöglichen drei Ateliers (parallel) den Teilnehmenden,  praxisorientierte Einblicke und zielgerichtete Konkretionen für die eigene Aufgabe in der Seelsorge zu entwickeln. Die Teilnehmenden können selbst erproben, welche Interventionen und kreativen Schritte sie unterstützen können. Daneben gilt das Angebot, im Anschluss an den jeweiligen Vortrag mit der Referentin bzw. dem Referenten vertiefend ins Gespräch zu kommen. In den Ateliers kommt das Bibliodrama ins Spiel, denn es kann entscheidendes zur «pastoralen Gesundheit» beitragen.

 

Bibliodrama ist weit mehr als ein methodischer Zugang zur Bibel. Bibliodrama ist ein wirksames Instrument, um im Dialog mit der Heilsgeschichte sich selbst zur Sprache zu bringen. Auf diese Weise trägt Bibliodrama zur persönlichen und beruflichen Identitätsentwicklung bei und stärkt die Resilienz. Glauben und Leben werden im Bibliodrama auf kreative und existenzielle Weise miteinander verbunden. Menschen begegnen sich im Raum des Glaubens. Es entsteht ein neues «Wir», wenn Menschen für sich und doch gemeinsam aus dem Schatz der biblischen Geschichten schöpfen. Bibliodrama verbindet in zwei Richtungen: in den Raum des Glaubens und in den Raum des Miteinanders. Es ist also nicht nur hilfreich für die einzelne Person. Es kann unterstützend wirken für die Arbeit im Team und für die ganze Gemeinde.

«Durch die Begegnungen im Bibliodrama habe ich eine Sprache gefunden für das, was in mir lebt und für meine Sehnsucht. Ich bin offener geworden. Ich traue mich mehr, Menschen existenziell anzusprechen. Ich bin nun für mich und für andere Seelsorgerin». So lautet das Fazit einer Teilnehmerin nach einem Bibliodrama- Kurs. «Bibliodrama hat mir die Bibel mit ihren heilsamen Worten neu erschlossen. Ich bewohne auf einmal die Gebete und Geschichten der Bibel», so sagte es ein anderer Teilnehmer. Der Besuch von je zwei Ateliers anlässlich der Tagung bietet den Teilnehmenden die Chance, das Bibliodrama und seine Wirkung kennenzulernen.

 

Die Tagung richtet sich an Leitungspersonen in Pastoral- und Seelsorgeräumen, in Pfarreien und auf Fachstellen und an alle Frauen und Männer, die in der Kirche Verantwortung tragen. Besonders im Blick sind Seelsorgende in Leitungsfunktionen und Personalverantwortliche in Kirchgemeinden und Synodalräten.

 

Veranstaltende sind die Abteilung Pastoral des Bistums Basel, die Stabsstelle Personal des Bistums Chur, die Wislikofer Schule und der Verein für Bibliodrama und Seelsorge, der TBI-Bereich Kirchliche Weiterbildung sowie die Bibelpastorale Arbeitsstelle des Schweizerischen katholischen Bibelwerks; Kooperationspartner sind das Bistum St. Gallen, die Bistumsregion Deutschfreiburg und das Generalvikariat Bistum Sitten.

 

Weitere Informationen und die Möglichkeit zur Anmeldung finden Sie auf der Website des TBI.

Auf Weihnachten zu

 

Vier inspirierende Texte der reformierten Winterthurer Pfarrerin Ruth Näf Bernhard (*1959) aus «Meine Seele läuft barfuss dem Wort hinterher. Das Lukasevangelium in Gedichten gespiegelt» (TVZ: Zürich 2022) mögen Sie begleiten durch die Tage und Nächte bis zum Christfest und darüber hinaus:

 

Lukas 1,30

Und der Engel sagte zu ihr: Fürchte dich nicht, Maria, denn du hast Gnade gefunden bei Gott.

 

bei ihrem namen

angesprochen

spürt sie

was in ihr

wachsen will

liebe

über sie hinaus

so viel gnade

kaum zu glauben

ihre hände

zu klein

was wird

zu beschützen

 

 

Lukas 1,38

Da sagte Maria: Ja, ich bin des Herrn Magd; mir geschehe, wie du gesagt hast! Und der Engel verliess sie.

 

geschehen lassen

was

geschehen will

sich nicht dem leben

entgegenstellen

es wieder üben

ja zu sagen

sich

dieser freiheit

anvertrauen

ja

ich sage

ja

 

 

Lk 2,10

Da sagte der Engel zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Denn seht, ich verkündige euch grosse Freude, die allem Volk widerfahren wird.

 

das licht

ist

für alle

sagt der engel

auch

für jene

die draussen sind

und

für jene

noch weiter draussen

es wird

sich zeigen

für jene

erst recht

 

 

Lk 2,40

Das Kind aber wuchs heran und wurde stark und mit Weisheit erfüllt, und Gottes Gnade ruhte auf ihm.

 

unmerklich

wird

das kleine

gross

die krippe

zu klein

es zu fassen

sein wirken

vom himmel her

dazu bestimmt

den himmel

in uns

auferstehen

zu lassen

 

 

 

Ruth Näf Bernhard hat sich vom Lukasevangelium zu Gedichten anregen lassen, in denen die altbekannten Bibelstellen von der Adventszeit bis zur Himmelfahrt neu zu sprechen beginnen. Manches hat sie auch befremdet. Manchmal war sie etwas ratlos. Und manchmal kam sie ins Staunen über die Weite: «Dass so viele Platz haben am selben Tisch. Manchmal wurde es mir auch eng. Und ich habe innerlich den Kopf geschüttelt. Dass so etwas in der Bibel steht. Kaum zu glauben. Vielleicht muss ich auch nicht», schreibt sie in ihrer Einführung und spricht die Leserin, den Leser direkt an. «Es sind immer nur einzelne Verse verdichtet. Jene, die mir etwas zu sagen hatten. Alles mit viel Zwischenraum. Damit Sie genug Raum haben beim Lesen. Und sich vielleicht zwischen den Zeilen finden.»

Die religiösen Energiequellen unserer Kultur freilegen

Was moderne Menschen Romane und Gedichte lesen lässt, ist der Umstand, dass sie spielerisch und explorativ ganz unterschiedliche Arten und Formen der Weltbeziehung ausprobieren können, führt Karl-Josef Kuschel in seinem neuen Buch den Soziologen Hartmut Rosa an. Leseempfehlungen zu Religion & Spiritualität in der Literatur von Christoph Gellner.

 

Die religiösen Energiequellen unserer Kultur im Raum der Dichtung freizulegen: bewusst ausserhalb der Welt von Kirche und Theologie, darum ist Karl-Josef Kuschel seit vielen Jahren bemüht. Nun legt der bekannte Wegbereiter des Dialogs zwischen Theologie und Literatur weder Memoiren noch ein Sachbuch über Literatur vor: das Buch ist laut Verlagswerbung beides. Kuschel schildert ihn prägende Begegnungen mit Menschen, Büchern und vor allem Schauplätzen, die aufgrund ihrer sinnlichen Anschauung für ihn zu magischen Orten wurden: sie ziehen einen an und entlassen einen verändert, verwandelt und bereichert. Fünfzehn Rückspiegel mit Erinnerungen ihm wichtiger Autor:innen versammelt das im Vorfeld zu seinem 75. Geburtstag im März 2023 erschienene neue Buch, der Zugang ist topografisch und autobiografisch. Tübingen, wo Kuschel bei Hans Küng und Walter Jens über «Jesus in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur» 1977 promovierte, ist die erste Station. Es folgen Wolfenbüttel (Lessing), Bauerbach (Schiller), Meersburg (Droste-Hülshoff), Paris (Heine), Duino (Rilke), Calw und Montagnola (Hesse), Svendborg (Brecht), Petrópolis/Brasilien (Stefan Zweig), Housseras/Vogesen (Döblin), Paraty/Brasilien (Thomas Mann), Jerusalem (Kafka, Brod, Lasker-Schüler, Elazar Benyoetz und Paul Celan), Bornheim-Merten (Heinrich Böll), Poschiavo (Wolfgang Hildesheimer), Bad Schussenried (Martin Walser).

Karl-Josef Kuschel: Magische Orte. Ein Leben mit der Literatur [Patmos]

 

Kuschels Lesebilanz bündelt der Epilog «Von der Liebe zur Literatur um ihrer selbst willen» in 7 Leitworte: «Kunstwerke: Unableitbar in ihrer Entstehung» –«Unkontrollierbar in ihren Wirkungen» – Unausschöpfbar in ihren Bedeutungen» – «Statthalter des Unverfügbaren» (hier nimmt Kuschel nochmals Bezug auf Hartmut Rosa) – «Vom Nutzen der Nutzlosigkeit» – «Mit Gewissen auch im Ohr» – «Literatur als Überlebensmittel». Davon inspiriert füge ich Empfehlungen belletristischer Neuerscheinungen und Publikationen zum Thema hinzu:

Buchempfehlungen Christoph Gellner

Moderner Mystiker

 

Früher als andere hat sich Josua Boesch auf die Suche nach spiritueller Erfahrung gemacht. Sein künstlerisch-kontemplativer Weg bietet Impulse für eine zeitgemässe ökumenisch offene Spiritualität. Christoph Gellner über ein ansprechend schönes Bilder- und Textbuch zu Boeschs 100. Geburtstag mit Beiträgen aus reformierter, katholischer und orthodox-ostkirchlicher und psychologischer Perspektive.

 

Inspiriert von der Communauté von Taizé, die ihm halfen, den Mönch und das Bild wieder zu finden, verliess der reformierte Pfarrer Josua Boesch (1922–2012) nach seinem 52. Altersjahr Pfarramt und Familie. Zuletzt hatte er sich ab 1972 für die Umgestaltung des ehemaligen Zisterzienserklosters Kappel am Albis zu einem «Haus der Stille und Besinnung» intensiv engagiert – seit 2008 firmiert das Bildungshaus der evangelisch-reformierten Landeskirche unter dem alt-neuen Namen Kloster Kappel.

Der gelernte Gold- und Silberschmid wählte einen künstlerischen Weg und ein kontemplatives Leben in ökumenischer Verbindung mit dem benediktinischen Eremo di Camaldoli in der Toskana. Seit 1997 aus gesundheitlichen Gründen wieder in die Schweiz zurückgekehrt, wurde er hier als Schöpfer von Metallikonen und Übersetzer biblischer Texte (Psalmen und Joh-Evangelium) in die Zürcher Mundart bekannt. Die neue Bild- und Formensprache von Josua Boeschs Metallikonen geht, wie Simon Peng und Veronika Kuhn betonen, nicht nur über den reformierten Umgang mit sakralen Darstellungen, sondern auch über die ikonografische Tradition der ostkirchlich-byzantinischen wie der römisch-katholischen Kirche hinaus; wichtig ist seine Auseinandersetzung mit der Kunst des 20. Jahrhunderts.

 

Zur engen Verknüpfung von Ikonografie und Schriftauslegung heisst es in einem Tagebucheintrag von Josua Boesch 1982: «Ich bin in die reformierte Kirche hineingeboren. In die Kirche des Wortes. Aber leider gab es in dieser Kirche nichts darzustellen. Ich habe am Auseinanderfallen von Wort und Bild gelitten. Immer habe ich die bildhafte Gestalt des Wortes gesucht, die Möglichkeit, das Wort zu gestalten und erst aus dieser Gestalt heraus zu reden. Nun habe ich meinen Platz in der Kirche gefunden: im Ikonographen. Er stellt das wortträchtige Bild dar und spricht das bildhafte Wort aus.»

 

Neben Franz von Assisi und dem mit ihm verbundenen Damiano-Kreuz, dessen zentrale Bedeutung für Josua Boesch Reto Müller herausstellt: «kein toter, sondern ein lebendiger, auferstandener Christus begegnete ihm dort!» – war Niklaus von Flüe und sein Radbild zentral für Josua Boeschs Weg. Marianne Vogel Kopp meditiert das Zusammentreffen des Auferstandenen mit dem Rad des Innerschweizer Mystikers in Josua Boeschs Niklausrad-Ikone und findet darin die strittige Bilderfrage versöhnlich gelöst: «Der unanschaubare Gott ist symbolisch dargestellt im dreifach pulsierenden Rad. Anders Jesus Christus, er ist als Mensch hingestellt, als Mensch gewordener Gott, als Ikone Gottes.»

Als Josua Boesch für das fransziskanische Bildungshaus Mattli in Morschach das Kreuz von San Damiano aus einer Messingplatte anfertigte, fiel beim Aussägen der Christus-Figur nicht nur dieser Christus durch das Kreuz hindurch, vielmehr erlebte sich der Künstler selber durch das leere Kreuz hindurchfallend: eine Schlüsselerfahrung, liess Boesch damit doch die ganze unselige Theologie vom Kreuz als gottgewolltem Opfer hinter sich, deutet Reto Müller Boeschs «Leeres Kreuz» in der Mattli- Kapelle. «Christus war Pneuma geworden, Geist, verwandelt, auferstanden. Tatsächlich zeigen seine Umrisse auch eine Taube, die von oben in diese Wirklichkeit einbricht. Transparenz wird Transzendenz.»

 

Nicht weniger bestimmt die Einung von Himmel und Erde, Gott und Welt, ja, die gegenseitige Verbundenheit von Gott und Mensch Boeschs Schaffen, betont Eva-Maria Faber. Kaum zufällig hat Boesch diese «Urfreundschaft vom Schöpfer zum Geschöpf und vom Geschöpf zum Schöpfer» als ikonisches Entsprechungsverhältnis interpretiert, erläutert Miroslav Simijonovic von ostkirchlich-orthodoxer Seite her Boeschs Leitwort: «Werde ikonisch, d.h. transparent für SEIN Ebenbild in dir.»

 

Samuel Jakob (Hg.): Präsenz im Heute Gottes. Impulse für eine Spiritualität auf den Spuren von Josua Boesch, TVZ: Zürich 2022.

 
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