Notwendiger als das Nützliche

     

«Zeit zwischen Nichts», «Die weggeworfene Leiter»: Christoph Gellner stellt zwei hochinteressante Buchneuerscheinungen vor über die Verwandtschaft von Religion, Liturgie, Gebet und Poesie.

 

Zu was befreit Poesie? Was vermag Liturgisches zu öffnen? Im Mai 2022 fand in der Wasserkirche Zürich ein mehrtägiges Festival «Liturgie & Poesie» statt. Unter dem pointierten Titel «Zeit zwischen Nichts» liegen die inspirierenden und lesenswerten Beiträge namhafter Gegenwartsautor:innen auch aus der Schweiz nun als Buch vor und belegen Johann Hinrich Claussens Beobachtung: «Die Kultur der Gegenwart ist voller Religion»

 

Was verbindet Liturgie und Poesie?

«Liturgie wie Poesie ist überflüssiger Glanz, feinfühlige Verschwendung, notwendiger als das Nützliche», führt der Zürcher Großmünsterpfarrer Martin Rüsch in seiner Hinführung die italienische Lyrikerin und Übersetzerin Cristina Campo an, die vom großen Schweizer Dichter Philippe Jaccottet zitiert wird. Peter Handke, der in seiner Nobelpreisrede kaum zufällig aus den slowenisch-slawischen religiösen Litaneien seiner Kindheit als den «frühesten poetischen Schwingungen» zitierte, beschreibt das so: «Das Buch, das Gedicht, die Kunst schafft dort, wo nichts ist, Durchlässigkeit.»

Was «Zeit zwischen Nichts» auszeichnet, ist die perspektivenreiche Vielfalt der Zugänge, mit denen sieben Gegenwartsautor:innen das Verhältnis von Liturgie und Poesie umspielen und erschließen:

  • Klaus Merz, der Schweizer Haiku-Meister mit Jahrgang 1945 und reformiert geprägt, steuert einen frühen Prosatext zum Umgang mit dem Wort und den Wörtern bei – im Zentrum ein junger Vikar, dem seine Wörter Schwierigkeiten machen, die er gebraucht, um dem Wort nachzugehen, es umzusetzen, mitzuteilen, weiterzugeben, ausgepumpt nimmt er eine Auszeit, um Boden unter den Füßen zu finden – sowie neue Gedichte, die mit einem latent religiösen Grund und Grimmen hinterfüttert sind: «Im Strom der Sprache / baut das gedicht / eine Treppe / dem Wort».
  • Ausgehend von einer von liturgischen Grundmustern gestalteten eigenen Erzählung erläutert Felicitas Hoppe, katholisch sozialisierte Büchnerpreisträgerin mit Jahrgang 1960, die fantastische Sprach- und Motivbatterie, von deren Bildern, Texten und Tönen sie als Schriftstellerin bis heute zehrt: entstanden ist sie durch Übung und Wiederholung, sei es das Ritual der Sonntagsliturgie oder die mündlich erzählten biblischen Geschichten ihrer Mutter. «Die Poesie lebt aus dem Ritual, weil sie permanent mit ihm bricht», resümiert Felicitas Hoppe ihr eigenes literarisches Schreiben. «Sie schöpft ihre Kraft aus genauer Betrachtung und aus der Verwerfung des Alten […] Eigensinn durch Bindung, progressive Umarmung, mündliche Neuerfindung der Schrift!»
  • Auch Norbert Hummelt, durch den rheinischen Katholizismus geprägter Lyriker mit Jahrgang 1962, ruft das Erlebnis der Liturgie in seiner Kindheit auf: die im alten tridentinischen Ritus lateinisch zelebrierte Messe verband sich mit den häuslichen Tisch- und Abendgebeten beim Zubettbringen zu einem «poetischen Urerlebnis»: «die silben waren / so enorm verschliffen, vertrauter leierton, so / daß man jahre brauchte, bis sich die worte / einzeln von bedeutung zeigten u. sich ihr / rästselhafter kranz entwirrte, doch ist die fügung / noch in meinem ohr: bestimmte laute, die wir / früh vernahmen», beschwört Hummelt diese «Sphäre des urtümlich Heiligen» in einem seiner Gedichte, zu denen er durch Stefan George inspiriert wurde. Von dessen Kunstreligion setzt er sich deutlich ab: Poesie kann die Religion nicht ersetzen, auch konvergieren können sie nicht, das zeige sich insbesondere bei den letzten Dingen, dem Tod.

 

Liturgie: in eine bildhafte Handlung übersetztes kollektives Gebet

  • Der 1949 geborene Schweizer Schriftsteller Franz Dodel, der in der bernischen Diaspora streng katholisch erzogen wurde und später an der christkatholisch-theologischen Fakultät der Uni Bern über die Spiritualität der Wüstenväter («Sitzen und Schweigen. Weisungen aus der Stille») promovierte, macht zur poetischen Potenz der Liturgie folgenden Definitionsvorschlag: «Sie ist ein kollektives, in eine bildhafte Handlung übersetztes Gebet». Seit 20 Jahren schreibt Dodel an seinem Endlos-Poem mit dem zweideutigen Titel «Nicht bei Trost», seine normalerweise tägliche Fortschreibung kann im Internet mitverfolgt werden, er selbst bezeichnet es «als eine Litanei, in gewissem Sinne auch als immerwährendes Gebet». Die Regelmäßigkeit der lyrischen Form (Zeile um Zeile im Haiku-Rhythmus von jeweils 5–7–5–7 Wörtern) erzeugt einen Fluss der Gedanken und Beobachtungen über Gott und die Welt, Natur und Kunst, der Lesende unversehens in eigene Bilder und Erinnerungen verstrickt, beschreibt Beat Mazenauer Dodels poetisches Verfahren.
  • Nora Gomringer, schweizerisch-deutsche Lyrikerin, Spoken-Word-Künstlerin und engagierte Katholikin mit Jg. 1980, bereichert das Buch mit dem Sprechtext «Vor Arvo Pärts ‘Stabat Mater’ zu rezitieren» aus ihrem Gedichtband «Gottesanbieterin» (2020), das mittelalterliche Gedicht meditiert über die Schmerzen der Mutter Jesu unter dem Kreuz, Gomringers Anverwandlung endet mit: «Aller Schmerz ist fort. Gibt Erkennen und Freude. Gibt unbändige Freude.» Das vermag Poesie, schon in der Bibel bilden ja nicht von ungefähr die Klagepsalmen mit ihrem Stimmungsumschwung von der Not und Klage zum vertrauenden Lob die Mehrzahl der Psalmen!
  • Uwe Kolbe, 1957 geboren und in einem «gottlosen Haushalt in Ostberlin» aufgewachsen, überraschte 2017 als 60-Jähriger mit ganz heutigen «Psalmen». Im Buch reflektiert er über die Bild- und Sprachmacht des Buches der Bücher, die er an Übertragungen des 119. Psalms (der Zürcher Bibel, Luthers, Romano Guardinis und Buber-Rosenzweigs) exemplifiziert. Mit seiner eigenen Verdichtung dieses Psalms sucht Kolbe sich der existentiellen Dringlichkeit des biblischen Vorbilds ebenso zu stellen wie seiner strukturellen Eigentümlichkeit: Entsprechend den 22 Buchstaben des hebräischen Alphabets beginnen jeweils alle acht Verse der 22 Strophen mit demselben Buchstaben (a, b, d, e, f bis u, v, w und z). Fachsprachlich handelt es sich bei dieser Wiederholung des Anlauts um ein Akrostichon, was die liturgisch-meditative Wirkung dieses «litaneiartigen» (Buber) 119. Psalms ungemein verstärkt.
  • Mit seiner Doppelexistenz als Dichter und Theologe verkörpert Christian Lehnert geradezu ideal die Grundspannung des Buchprojekts: als Geschäftsführer des Liturgiewissenschaftlichen Instituts der VELKD an der Uni Leipzig wie als preisgekrönter Suhrkamp-Lyriker und -Essayist ist er bestens «vertraut mit einem destabilisierenden ‘und’ zwischen Religion und Poesie. Verunsicherung in der Sprache gehört zu meinen Grunderfahrungen.» Etwa die «irritierende Erfahrung», dass sich «die Machtförmigkeit der Sprache meist mit liturgischen Formen verband», die er nicht in der Kirche, sondern in ausgefeilten Schul- und Parteiliturgien der staatsatheistischen DDR erlebte, die ihn gleichzeitig die Macht der Metaphern lehrte.

Sein Essay über die Brüchigkeit der Sprache im Verstummen, über Sprache als Bewegungsform, als Klang und Ganzheit bietet eine kleine Summe, was Poesie mit religiöser Sprache verbindet, nicht zuletzt die Unzulänglichkeit unserer Ausdrucksformen. Wobei Lehnert schon in «Der Gott in einer Nuß. Fliegende Blätter über Kult und Gebet» (2017) betonte: «Der christliche Kult muss heute nichts mehr beweisen, nichts legitimieren. Sein absurdes Tun, ein Spiel, ist heute sinn- und zwecklos [Meister Eckhart und Angelus Silesius nannten das positiv: ohne Warum]. Er hat keine Funktion mehr, entzieht sich diesem üblen Wort, hat keine Aufgabe und ist zu nichts nutze. Taugenichtstun: das Gebet.» Hier zeigt sich die wohl größte Nähe zur Poesie: Religion und Poesie, Gebet und Liturgie sprengen die Herrschaft von Zweck und Nutzen.

 

Die weggeworfene Leiter

Zeitgleich erschienen auch Lehnerts Wiener Poetikvorlesungen «Die weggeworfene Leiter». Zu Christian Lehnerts Lyrik stellt Jan-Heiner Tück als Gastgeber der «Wiener Poetikdozentur Literatur und Religion» heraus, dass sie in ihren tastenden Suchbewegungen dem säkularen Literaturbetrieb zu viel an Transzendenz zumutet, während sie fromme Bedürfnisse nach erbaulicher Gebrauchslyrik zu wenig affirmativ-bekenntnishaft erscheint. «Es dürfte ein Qualitätsmerkmal der Dichtung von Christian Lehnert sein, dass sie die üblichen Raster der Klassifizierung sprengt.»

«Wir spüren, dass jede Aussage von Gott soviel zeigt, wie sie verbirgt», zitiert Tück aus einem Interview mit Christian Lehnert, in dem auch der Satz fällt: «Wer im Angesicht Gottes nicht nach Worten ringt, hat nichts verstanden.» Für Lehnert ist darum «Theologie immer auch Poesie», wie er gleich in der ersten Vorlesung betont. «Sie betritt jenen Raum, wo die Sprache, nicht allein in dem, was sie sagt, sondern in dem, wohin sie in Bewegung ist und was sie treibt, sich selbst übersteigt und neue Aussageräume und damit ‘neues Sein’ erschliesst.»

Dafür steht die titelgebende «weggeworfene Leiter»: «Einer steigt auf über die Sprossen dessen, was er spricht, um über die Sätze hinauszukommen in andere Bereiche der Erkenntnis. Mit Wittgenstein gesprochen: ‘Meine Sätze erläutern dadurch, dass sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie – auf ihnen – über sie hinausgestiegen ist. (Er muss sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem er auf ihr hinaufgestiegen ist.)’»

 

Ein Tier mit Vernunft und einem Herzen, das dichtet

Die erste Vorlesung bietet so «erste Gedanken zur theologischen Sprachlehre», indem sie der oft vorsprachlichen, weil juchzenden, lallenden, stammelnden Rede vom Unaussprechlichen nachgeht. Anhand des Langgedichts passio von Christian Lehnert weist die zweite Vorlesung mit dem Kreuz auf das Verlöschen der Sprache im Herzen des Christentums hin. In seiner dritten Vorlesung geht es um Sprache als Schöpfungsgestalt: Lehnert blättert ein Bilderbuch von Erscheinungen und Assoziationen auf in der Hoffnung, dass darin sich etwas zeigt von dem, was Sprache und Natur verbindet.

Die vierte und letzte Vorlesung wendet sich im Zeichen des «Atems» dem Wehen von Gottes Geistkraft zu und vertieft das Nachdenken über das Bilderdichten durch Martin Luthers theologische Anthropologie: «Was ist für ihn der Mensch? ‘Animal rationae, cor fingens’, ein Tier mit Vernunft und einem Herzen, das dichtet, das Bilder findet und ‘fingiert’, so sagt er in einer Vorlesung 1536 zum Buch Genesis. Der Mensch ist nicht nur ein Lebewesen mit Vernunft, wie Luther in traditionell aristotelischer Weise formuliert, er ist zugleich nicht ganz in der Gegenwart und in den Fakten, in den Analysen und im Machbaren zu Hause; seine Fühler streckt er ins Imaginäre, in ein Dichten und Bilden und Schauen des noch nie Gesehenen, des Undenkbaren. Das betrifft bei Luther auch den Kern der religiösen Existenz: ‘Fides creatrix divinitatis’ sagt er, der Glaube ist der Schöpfer der Gottheit. Jeder Glaubende dichtet und bildet sich seinen Gott, seine Gottesvorstellung. Poesie ist dem Glauben zu eigen wie der Atem dem Leben. ‘Gott’, das ist eine riesige Galerie von Bildern, fiktiv und schön, die soviel sichtbar macht, wie sie verbirgt.»

Christoph Gellner

 

Martin Rüsch (Hg.): Zeit zwischen Nichts. Liturgie & Poesie, Herder: Freiburg i.B. 2023, 159 S.

Christian Lehnert: Die weggeworfene Leiter. Gedanken über Religion und Poesie, Herder: Freiburg i.B. 2023, 108 S.