Poesie für alle Sinne

     

 

Sie gilt als «das größte Ereignis gesprochener Dichtung in der deutschen Sprache seit Ernst Jandl». Ihre Lyrik ist lebendige Literatur, Text und Vortrag gehören für sie eng zusammen. Ja, die Tochter des für seine konkrete Poesie bekannten Dichters Eugen Gomringer, die das Internationale Künstlerhaus Villa Concordia in Bamberg leitet, «ist ganz Atem und Stimme, von der mitreißenden Litanei bis zur leise dahingeklimperten Bagatelle» (Robert Kudielka). Christoph Gellner

 

«Poesie für alle Sinne», pries Peter von Matt den Reichtum ihrer Gedichte. Zwischen 2001 und 2006, im Alter von Anfang bis Mitte 20, wurde Nora Gomringer als Spoken-Word-Artistin in der Poetry-Slam-Szene bekannt. Charakteristisch für ihre Poesie ist der auditiv-performative Charakter der Texte, auch ihrem neuen Lyrikband «Gottesanbieterin» ist eine CD mit eindrucksvollen Rezitationen aller Texte durch die Autorin beigegeben: «Bei mir ist das Lautlesen eines Textes nicht wegzudenken in seinem Entstehungsprozess», streicht sie in «Ich werde etwas mit der Sprache machen» heraus. «Alle Lyrik ist Mundwerk.»

 

Neue religiöse Unbefangenheit

«Ich bin Autorin und Christin und man liest es mir an», bekannte sie 2016 im Umfeld ihrer Poetikdozentur Literatur und Religion an der Universität Wien auf feinschwarz.net.

«Der Gott zwischen den Zeilen der Nora G.» lautete der programmatische Titel. «Es ist Aufgabe der Dichtung, die Sprache der Bibel, der Theologie in jeder Generation neu zu entdecken. Meine Religiosität war immer bestimmt von Ritus und Logos, nicht Ding und Gegenstand. Von daher: Sprache, Sprache, Sprache. Und Wunder(n)!»

 

In einem evangelischen Dorf in Oberfranken katholisch erzogen und als Ministrantin engagiert bis der Einspruch des Ortsbischofs Mädchen den Altardienst verunmöglichte, macht sie aus ihrer Nähe zur Religion kein Geheimnis: «Ja, ich kann sagen, ich glaube an Gott», gestand Nora Gomringer 2015 der deutschschweizerischen Zeitschrift «reformiert». »Als Künstlerin behaupte ich: Die Kreativität kommt von Gott.»

«Ich bin wirklich eine selbst gewählte, selbstgemachte Christin; war ich, bin ich und es wurde nie daran gerüttelt, und das begleitet mich», verdeutlichte sie anlässlich des Erscheinens ihres neuen Gedichtbands im Bayerischen Rundfunk.

«Vielleicht ist es jetzt mit 40 und vielen Rückfragen nach dem ‘wie hältst du’s mit der Religion’ Zeit für so einen Band.» Ihre Zusage, Mitglied des Plenums des Synodalen Weges der katholischen Kirche in Deutschland zu werden, kostete die Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin zwei Freundschaften; über die erste Versammlung in Frankfurt berichtete sie jüngst in ihrer Kolumne im deutschschweizerischen «bref»-Magazin.

 

Gedicht und Gebet sind Geschwister

Der Titel des neuen Gedichtbands, dessen Buchcover Ameisen-Beinchen zieren, geht auf ein Erlebnis der 16-, 17-Jährigen zurück: im Garten ihrer US-amerikanischen Gastfamilie sah sie ein riesige Gottesanbeterin – englisch als betende Ameise, praying mantis, bezeichnet –, die sich da langsam bewegte: «Das war kontemplativ und hatte gar nichts zu tun mit diesem Männerverschlingenden. Die Haltung war Stolz und Demut.»

«Viele Gedichte können Gebete sein, aber nicht alle Gebete sind Gedichte», ist Nora Gomringer überzeugt. 2017 beteiligte sie sich mit Urs Faes, Judith Kuckart, Martina Hefter u.a. an dem Brevier des Kreuz Verlags «Frei und unverzagt. Gebete der Hoffnung». Schwerer tat sich ihr Hausverlag mit den für den neuen Lyrikband vorgesehenen Gebetstexten. Nora Gomringer hängte ein ganzes Jahr dran, in dem sie die Gebetstexte in Gedichte verwandelte, an zwei Texten lässt sich dies minutiös beobachten, mit dem Ergebnis ist sie sehr zufrieden.

Auf dem Buchrücken kann man/frau nun lesen: Die titelgebende Gottesanbeterin habe die Autorin «immer wieder zu Fragen an ihren Glauben und die Vielgestaltigkeit von Religion geführt, jenem ‘geschmacksverstärkenden, mal verträglichen, mal unverträglichen Glutamat des Seins’ […] Als Gottesanbieterin öffnet sie ihren ‘lyrischen Laden’ aus Angebot und Nochfragen, gibt Zeugnis und widmet sich Vielverehrten und Oftgescheuten.»

 

Gott und Toast

Nora Gomringers neue Gedichte überraschen durch die Vielfalt ganz unterschiedlicher Spiegelungen des Religiösen. Sie reichen von einer eindringlichen Vergegenwärtigung des Attentats auf die Redaktion von «Charlie Hebdo» – «Wissen doch alle / die gehen zur Arbeit / dass sie darin umkommen können / in diesem Hier und Jetzt / wenn sie den Stift heben» – über eine treffsichere Bibelaktualisierung der Herbergssuche von Maria und Josef («Einseitiges Telefonat») bis zu einer schöpfungstheologisch pointierten Weiterschreibung des Avenidas-Gedichts ihres Vaters, das jüngst ins Fadenkreuz einer Sexismusdebatte geriet:

 

gott

gott und toast

 

toast

toast und butter

 

gott

gott und butter

 

gott und toast und butter und

 

ein manufactumkatalog

 

 

«Ist einer tot, geht er nicht mehr an sein Telefon. / Das ist ganz logisch und doch vollkommen übertrieben.» Sterben und Tod werden nicht nur im «Buch Tim» thematisiert, diesem kürzlich verstorbenen nahen Freund Nora Gomringers ist der Band gewidmet: «Das Vergessen hat die Zähne eines Haifischs. / Ich tipp dir leise: das Erinnern auch.» Theologisch heraufordernd wird Arvo Pärts «Stabat Mater» mit Ostererzählungssplittern fortgesponnen: «Das leere Grab war eine Beleidigung und ein Wunder.» Ein Text über die heilige Messe lässt den Gekreuzigten als «Kummerkasten aus Holz mit Schlitz» neu sehen, in den jede und jeder Sorgen und Nöte einwerfen kann: «Gut, dass hier alles gewandelt wird. / Werden Sorgen Gesänge.» Augenzwinkernd wird am Ende eine Christin wie Nora G. mit «Applaus» bedacht:

 

Ich bin die Christin,

die mal textsicher ist, die das Singen nach der Orgel aber meistens vertut.

Ich bin die Christin,

die im Leben, dem täglichen, das Brot verschmäht.

Ich bin die Christin,

die nach Kunst in der Kirche fragt.

Ich bin die Christin,

die durch die Riten die Rätsel annimmt.

Ich bin die Christin,

die bewundert, wenn einer aus einem Schrank steigt, der ihn eingesperrt hielt.

Ich bin die Christin,

die ernst macht mit der Liebe für den immer Nächsten.

 

 

Besonders gelungen finde ich das Gedicht «Des Architekten Zumthor Bruder-Klaus-Kapelle», das einen faszinierend geerdeten Transzendenzbezug erschliesst – durch den nach oben offenen, 12 m hohen, fensterlosen Kapellenturm teilt sich «das Heilige» eines spirituellen Himmels mit (i.S. von heaven statt sky):

 

gehst in die Eifel

gehst auf ein Feld

steht da ein Fels

ein Block, ein Werk

weißt nicht zu deuten

gehst nah heran

streckst deine Glieder

zu verstehen

 

ist da ein Einlass

ist innen das Dunkel

ist der Boden das Feld

ist dein Stehen ein Schwanken

tastet die Hand

raue Wände

teilt sich das Heilige

durch dein Betrachten

deinen Sinnen mit

 

wirst Teil eines Wandelns

wirst Teil eines Wunderns

wirst, wirst, wirst

 

weit

über dich hinaus

 

 

Nora Gomringer: Gottesanbieterin. Dresden und Leipzig 2020.