Zur Lehr- und Lernbarkeit von Religion

     

 

Rudolf Englert, der erst kürzlich emeritierte Professor für Religionspädagogik der Universität Duisburg-Essen, stellt sich zeitgenössischen Anfragen zur Relevanz von Tradition und theologischer Reflexion. Und er stellt selbst kritische Fragen an sein Fachgebiet und seine Zunft, um damit zum Nachdenken über den (Mehr-) Wert religiöser Bildung in der Gegenwartgesellschaft anzuregen. Schon 2018 fragte Englert: «Was wird aus Religion?» (siehe dazu die Besprechung von Felix Senn in PRISMA 2/2018). Die aktuelle Publikation einer in Regensburg gehaltenen Vorlesungsreihe trägt den Titel «Geht Religion auch ohne Theologie?»

Braucht man die Bibel heute noch?

Neben der Auseinandersetzung mit dem zunehmenden Relevanzverlust biblischer Überlieferung verweist Englert im vierten Kapitel auf drei mögliche Umgangsformen mit der Bibel, die durchaus einen Mehrwert für zeitgenössische Menschen bieten können, die sich zunächst nicht (mehr) für das «Buch der Bücher» interessieren. Sein Beitrag ist kein trotziges «Dennoch» gegen den Relevanzverlust religiöser Tradition, sondern er macht ein Angebot:

Die religiöse Tradition und besonders die biblische Tradition können als eine Art Resonanzraum begriffen werden. «Diese Tradition sagt in den meisten Fällen nicht direkt und unmissverständlich, was wir tun und wie wir leben sollen. Aber sie macht uns auf mancherlei Weise empfindlicher für die Wahrnehmung dessen, was wirklich wichtig ist, was gerecht ist, was zu hoffen wäre oder eben auch für die Einsicht, dass Perfektion kein Prädikat des Menschlichen ist» (120).

Unter dem Stichwort «Die Tradition als Spiegelkabinett» zeigt Englert an einem Beispiel auf, wie junge Menschen sich von der Vision der Bergpredigt zu eigenen Ideen und Überlegungen animieren liessen. Dem Vorbild eines Street-Art-Projektes folgend hatten sie mit einzelnen Versen aus der Bergpredigt «Überklebungen» auf Objekten in ihrem Lebensraum vorgenommen und damit kreative Denkanstösse zur möglichen Überwindung von Aggression, Gewalt und Demütigung inszeniert (122f.).

Zum «Kontrastmedium» schliesslich kann die Tradition werden, wenn die Lektüre der Bibel befreiende Erfahrungen ermöglicht. Wenn sie nicht vertröstet, das Leiden der gegenwärtigen Welt aber vor dem Hintergrund einer jetzt schon aufscheinenden möglichen Zukunft als endlich und überwindbar erscheinen lässt. Indem die Bibel für die Wahrnehmung dieses Kontrasts sensibilisiert, kann sie zu einem Medium im aktiven Bemühen um eine bessere Welt werden. Gerade in Situationen misslungenen, unterdrückten oder auch gewaltsam verweigerten Lebens hätten Menschen immer wieder Ermutigung und Bestärkung in der Bibel gefunden.

Auch Jesus habe seine frohe Botschaft in eine Situation gesellschaftlicher Unterdrückung und sozialer Marginalisierung hineingesprochen. Aber «er misst dem Alten keinen Bestand mehr zu, das Neue ist schon dabei, sich zu zeigen, wie ein zunächst kleines Pflänzchen, das aber unweigerlich zum machtvollen Baum wird (123f.).

 

Kann man Religion lernen?

Bezogen auf religiöse Bildung fragt Englert schliesslich im letzten Kapitel des Buches: «Kann man Religion lernen?» Eingangs bestimmt er verschiedenen Dimension von Religion: eine soziale, eine institutionelle, eine spirituelle, eine konfessionelle, eine lebenspraktische und eine ethische, eine rituelle und eine emotionale Dimension. Englert betrachtet Glauben als eine Facette der Religion und unterscheidet, anknüpfend an die reformatorische Tradition drei Ebenen:

«1. Glauben im Sinne eines Wissens um die Inhalte des Glaubens, lateinisch noticia. 2. Glauben im Sinne einer Zustimmung zu diesen Inhalten, lateinisch assensus. Und 3. Glauben im Sinne eines persönlichen Getragenseins von dem, was diese Inhalte ansprechen, lateinisch fiducia.» (158).

Nicht alle diese Dimensionen sind, was ihre Lehr- und Lernbarkeit angeht, heute gleichermassen problematisch. Religiöses Wissen, also noticia, kann in Schule und Erwachsenenbildung gelehrt und gelernt werden wie irgendein anderes sachkundliches Wissen. «Teaching about religion» erschliesst religionskundliches Wissen. Die Kenntnis heiliger Schriften oder der Mitvollzug religiöser Riten sind problemlos lehr- und lernbar ohne eine Zustimmung in Sinne von assensus einzufordern.

Betroffen vom Relevanzverlust ist vor allem der assensus, die Zustimmung zu bestimmten Glaubensinhalten. Weil die Frage, ob sie bestimmten christlichen Glaubensüberzeugungen zustimmen können oder nicht, für die meisten Menschen nur noch wenig Bedeutung hat, erscheint auch das Bemühen um Glaubenswissen weitgehend überflüssig. «Die geringe Relevanz der assensus-Problematik reduziert auch die Motivation zum Erwerb von noticia» (170).

Hingegen wird religiöses Wissen im Sinne der noticia auch heute benötigt, aber aus deutlich anderen Motiven und mit einer deutlich anderen inhaltlichen Füllung, als dies bei vorangegangenen Generationen der Fall war. Das Bemühen um religiöses Wissen ist heute stark motiviert durch das Bemühen um interreligiöse Kompetenz. Ausserdem wird religiöses Wissen oft nicht in erster Linie mit dem Ziel der eigenen religiösen Entwicklung erworben, sondern um einem «staatsbürgerlichen Postulat» zu genügen (171).

 

Ein Charakteristikum unserer religiösen Gegenwartssituation ist laut Englert, dass die inhaltliche Seite des Glaubens und mit ihr die «assensus»-Problematik stark an Relevanz eingebüsst hat, während die «fiduzielle» Seite des Glaubens in einem inhaltlich unspezifischen Sinne nach wie vor mit ausgeprägten menschlichen Bedürfnissen korrespondiert (181).

Aber auch fiducia im religionspsychologischen Sinne ist keineswegs an christliche Inhalte gebunden. Sie kann sogar ganz ohne assensus zur Konfession irgendeines Glaubens auskommen. Somit kann das Bedürfnis nach Fiducia, dem Empfinden eines persönlichen getragen-Seins durch etwas, das stärker ist, als es Menschen sein können, auch dann lebendig bleiben, wenn die Frage nach der Wahrheit von bestimmten Glaubensinhalten und nach der Verlässlichkeit bestimmter religiöser Überzeugungen schon völlig erstorben ist» (172).

 

Unterschiedliche Zugänge

Wesentlich für den Zugang zu religiöser Bildung sind die beiden Dimensionen Kognition und Emotion. In der Geschichte der christlichen religiösen Bildung lag nach Englert die Priorität wechselnd auf religiöser Vernunft und religiösem Gefühl, zwischen Rationalität und Emotionalität. Aktuell kann es geboten sein, je nach Ausgangssituation des Menschen entweder beim emotionalen oder beim inhaltlichen Aspekt von Religion anzusetzen.

Für den religiösen Lernweg ist auch entscheidend, ob eher man individuelle religiöse Erfahrungen als Quellgrund des Religiösen betrachtet, sich also eher von „innen nach aussen“  bewegt, und so ggf. zur Annahme einer pluralistischen Religionstheorie gelangt, oder ob man ein Konzept des religiösen Lernens von «aussen nach innen» verfolgt. Dieses will eine Religion nicht nur über ihre Glaubensinhalte verständlich machen, sondern auch über das Kennenlernen ihrer praktischen Vollzugsformen.

Der Weg von «oben nach unten» will Lernen auch über die Teilhabe am Ausdrucksrepertoire einer geprägten Religion ermöglichen, «und zwar eben nicht nur ihrer Sprache, Symbole und Inhalte, sondern auch ihrer Bauwerke und Bilder, ihrer Gebete und Rituale, ihrer Praxis des Lebens und Feierns» (168).

 

Behutsame Elementarisierung

Zustimmung kann also nicht durch religiöse Bildung erwirkt, der Glaube eines Menschen nicht zielgerichtet ausgebildet werden. Doch es ist möglich, «die Zustimmung zu Glaubensüberzeugungen (assensus) durch hermeneutische Erschliessungsprozesse zu unterstützen, indem Hintergründe ausgeleuchtet, Zusammenhänge erschlossen oder Verstehenshindernisse abgebaut werden». Hier sieht Englert die Aufgabe einer behutsamen didaktischen Elementarisierung (181).

Für die religiöse Bildungsarbeit mit Menschen jeden Alters unter den gegebenen Umständen ist es von entscheidender Bedeutung, dass der Mehrwert einer religiösen Kultur wie der christlichen Tradition herausgekehrt und erschlossen wird: der Mehrwert eines gewachsenen Referenzrahmens gegenüber einer inhaltlich oft höchst vage bleibenden fiducia, der Mehrwert einer verzweigten Interpretationsgemeinschaft gegenüber theologischen Alleingängen, der Mehrwert einer lebenspraktisch und ethisch stilbildenden Sammlungsbewegung gegenüber einer mehr oder weniger privat bleibenden Religiosität (182). Sorgfältiges Wahrnehmen der jeweiligen Situation, der Disposition, des Interesses und der Zugangswege der Menschen sind geboten. Behutsamkeit, nicht Zurück-Haltung, in der Erschliessung und Unterstützung der Lernwege ist gefragt.

Dorothee Foitzik Eschmann

 

 

Rudolf Englert: Geht Religion auch ohne Theologie? Herder: Freiburg i. Br. 2020.