Was wird aus Religion?

     

Die Diagnose im gleichnamigen Buch von Rudolf Englert ist ernüchternd: Wir sind heute in den Kirchen, in der christlichen Öffentlichkeit, in Religionsunterricht und Erwachsenenbildung, ja selbst an den theologischen Fakultäten konfrontiert mit einer nachhaltigen und nicht mehr aufhebbaren „Erosion des Dogmatischen“. Wobei hier das „Dogmatische“ nicht einfach die Dogmatik als Disziplin betrifft, so dass beispielsweise die Bibelwissenschaften oder die praktischen Disziplinen innerhalb der Theologie aufatmen und die Dogmatik gleichsam beerben könnten. Im Gegenteil: Die Erosion bezieht sich auf die gesamte inhaltliche Botschaft des christlichen Glaubens und damit auf die Theologie insgesamt, so dass allenthalben in Verkündigung und Katechese, Bildung und Lehre eine „beklemmende Ratlosigkeit“ sich breitmacht (43-54).

SeelsorgerInnen, ReligionspädagogInnen und Bildungsfachleute kennen diese Ratlosigkeit aus eigener Erfahrung. Umso wichtiger ist es, dass ein profilierter Religionspädagoge sich ihrer annimmt und die aktuelle Entwicklung sorgfältig analysiert. Die ernüchternde Diagnose wird im Buch anhand spannender Fallbeispiele veranschaulicht und mit Hilfe von religionssoziologischen Theorien zu verstehen gesucht. Es lässt sich nicht wegdiskutieren: Das Inhaltlich-Theologische ist der grösste Verlierer der religionsgeschichtlichen Entwicklung in der Moderne (189).

 „Religion … ist ein Thema, das die Menschen durchaus beschäftigt. Theologie hingegen erscheint für das Verständnis dieses Themas weitgehend verzichtbar. Was die Menschen interessiert, ist, wie viel Religion das gesellschaftliche Leben im Zeichen religiöser Pluralität aushält: wie viel Kopftuch, wie viel Kruzifix, wie viel islamische Rechtsvorstellungen, wie viel Kirchengeläut … Was offensichtlich nicht oder immer weniger interessiert, ist, was eine Religion eigentlich ausmacht: ihre prägenden Erfahrungen, ihre Überzeugungen, ihre Modelle spirituellen Lebens usw.“  (204f)

Was zurückbleibt, ist eine „sozial tolerierte Minimumreligion“ (248; zit. aus: O. Demont/D. Schenker, Ansichten des Göttlichen, Zürich 2009, 193). Was bedeutet dies? Was wird so aus Religion? Können wir uns damit abfinden?

Englert antwortet nicht direkt, sondern sucht zunächst nach Gründen, welche die Religion in diese Lage gebracht haben. Er ortet sie in grundlegenden Verschiebungen in der „Architektur des Religiösen“: Verschiebungen in Richtung des Kultisch-Ästhetischen, des Emotionalen, des Praktischen. Und besonders bemerkenswert ist die Verschiebung in Richtung des Ökonomischen (122ff): Für moderne Menschen – geprägt vom neoliberalen Nützlichkeitsdenken – muss auch in Bezug auf den religiösen Einsatz die Kosten-Nutzen-Bilanz im Gleichgewicht sein. Was, wenn heute z. B. das traditionelle Belohnungsversprechen (Lohn im Jenseits) nicht mehr greift?

Ein Blick in die Geschichte bestätigt, dass es zumal in der Neuzeit einschneidende Verschiebungen im Verständnis des Religiösen gab: namentlich vom Kultischen zum Ethischen oder vom Sakramentalen zum Rationalistischen. In diesem Prozess ging teilweise Wesentliches verloren, das im Sinne einer „produktiven Ungleichzeitigkeit“ (176; J. B. Metz) in geläuterter Form wiederzugewinnen wäre und so durchaus zukunftsfähig sein könnte – beispielweise ein kreativer und lebensdienlicher Umgang mit Ritualen (235-240). Dies arbeitet Englert heraus, ohne dabei in irgendeiner Weise nostalgisch zu werden. Vielmehr ist es ihm um die Rettung der zentralen Seiten der Religion zu tun. Beispielsweise darum, dass die Religion sich nicht einer ökonomischen Logik und dem Diktat des Marktes beugt. Was dann nämlich verloren ginge, wäre die kritische Funktion religiöser Unterscheidungen, wie sie für die christliche Tradition grundlegend sind: „die Unterscheidung zwischen der je gegebenen Welt und Gottes Welt, zwischen Erde und Himmel, zwischen den ‚Mächten‘ und dem Absoluten“ (209).

Wie können die Religionspädagogik allgemein und die religiöse Erwachsenenbildung im Besonderen hier Einfluss nehmen? Wie müssen sie sich verändern, um dieser Herausforderung gewachsen zu sein?

Zunächst ist klar, dass es keine einfachen Rezepte gibt. Stattdessen reflektiert Englert am Ende drei Spannungsbögen (253ff): Erfahrung und Tradition, Gefühl und Vernunft, Handeln und Glaube. Dabei zeigt sich, dass das jeweils erste nicht ohne das zweite zu haben ist. Hier sieht er einen Ansatz, um Religion korrelativ ins Spiel zu bringen: Erst vor dem Hintergrund der Tradition (hier der christlichen) findet existenzielle Erfahrung angemessene Resonanz. Gefühle von Sehnsucht, Vertrauen, Geborgenheit etc. haben durchaus einen Erkenntniswert; Religion stellt ihnen (vernünftige) Sprache zur Verfügung. Da jedes ethische Handeln das Engagement und das Zeugnis der ganzen Person verlangt, ist es in einem grundlegenden Sinne getragen von Glauben.

Dass dieser Ansatz eine Transformation religiöser Bildung insgesamt erfordert, versteht sich. Ob er in nützlicher Frist gelingen kann, steht offen. Welche Schritte in nächster Zeit dringlich sind – darüber sollten alle, die in Katechese und Verkündigung, theologischer Lehre und kirchlicher Bildungsarbeit tätig sind, intensiv nachdenken.

Felix Senn

 

 

Rudolf Englert, Was wird aus Religion? Beobachtungen, Analysen und Fallgeschichten zu einer irritierenden Transformation, Ostfildern 2018.