Den Übernächsten lieben wie sich selbst

     

 

Die Nächstenliebe gehört zur DNA von Christinnen und Christen. Angesichts der Klimakrise braucht es jedoch das Prinzip der „Übernächstenliebe“, das auch künftige Generationen und die Mitwelt einbezieht. Der erste Band in der Reihe «ZürcherZeitZeitzeichen» mit dem Titel «Von Kloster bis Kommune. Gemeinsam nachhaltig leben» ist der „Nachhaltigkeit“ als Handlungsprinzip im Leben der Kirche gewidmet.

 

«Liebe deinen Übernächsten wie dich selbst» wird Kirchenratspräsidentin Martina Tapernoux zitiert. An der Synode der evangelisch-reformierten Landeskirche beider Appenzell im Juni 2023 habe sie mit dem Begriff der «Übernächstenliebe» die Verpflichtung bezeichnet, bei allen Planungen auch an künftige Generationen zu denken. «Übernächstenliebe», gedacht in einer vertikalen (generationenübergreifenden) Dimension und in einer horizontalen ökologischen Dimension (Einbezug aller Lebewesen und Ökosysteme) korrespondiert mit einem nachhaltigen Lebensstil.

 

 

Von Kloster bis Kommune. Gemeinsam nachhaltig leben 

Einen Beitrag der Kirche(n) zu einem nachhaltigen Lebensstil will der erste Band in der Reihe «ZürcherZeitZeichen» leisten. Der Sammelband mit dem programmatischen Titel «Von Kloster bis Kommune. Gemeinsam nachhaltig leben» herausgegeben von der Katholischen Kirche im Kanton Zürich[1], verweist einerseits auf Spuren nachhaltigen Lebens in traditionsbewährten kommunitären Lebensformen innerhalb der Kirche, im gemeinsamen Gebet und in der Stille, im Pilgern, in der Gütergemeinschaft, im gemeinsamen Arbeiten und Feiern. Anderseits werden Ansätze nachhaltigen Lebens aufgezeigt in innovativen zeitgenössischen Projekten des Zusammenlebens, im Engagement für soziale Gerechtigkeit, in der Armutsbekämpfung und im Engagement für Geschlechtergerechtigkeit. Einige Unternehmungen liegen ausserhalb der Kirche(n), andernorts werden die Grenzen kirchlicher Gemeinschaft bewusst überschritten, man bleibt nicht unter sich. Zwei Berichte verweisen auf eine produktive Zusammenarbeit mit Vertreter:innen der «Klimajugend» – beim Engagement für Nachhaltigkeit zusammenwirken, ohne einander zu vereinnahmen. Neben theologisch-fundierten Artikeln dienen Einblicke in die beiden Enzykliken von Papst Franziskus, «Laudato si’» und «Fratelli tutti» als Referenzrahmen des kirchlichen Handelns.

 

In der Einführung nennt der Herausgeber Detlef Hecking, aktuell Pastoralverantwortlicher des Bistums Basel, die Koordinaten einer «Nachhaltigkeits-Praxis zwischen UNO-Entwicklungszielen, Laudato si’ und persönlichen Lebensformen». Das Buch nimmt verschiedene Praxisansätze in den Blick, die als Denkanstösse für die eigene Lebensführung dienen können. Hecking hat dazu Gespräche geführt mit Menschen, die in Klöstern und spirituell ausgerichteten Gemeinschaften einen nachhaltigen Lebensstil führen. Er hat Menschen um Berichte gebeten, die in verschiedenen Genossenschaften und Lebensgemeinschaften eine nachhaltige Lebensweise praktizieren. In den Begriff des nachhaltigen Lebens und Handelns fliessen Aspekte der sozialen Gerechtigkeit und der Partizipation sowie der Bekämpfung von Hunger und Armut mit ein, Hinwendung nicht nur zum Nächsten, sondern auch zur  «Übernächsten» im Lebensraum.

Die zentralen Themen der Enzyklika «Laudato si’» von Papst Franziskus (2015) hat Detlef Hecking herausgearbeitet und in den facettenreichen Zusammenhang der «Nachhaltigkeit» gestellt. Er verweist darauf, dass die häufig erwähnte Enzyklika «Laudato si’» weit mehr sei als eine Umwelt-Enzyklika. Vielmehr umfasse sie die Sorge um «Mutter Erde», um das gemeinsame Haus aller Lebewesen und der Natur (S. 141-159).

 

Unter dem Titel «Wir könnten anders!»[2] nimmt der dreiteilige Band im ersten Kapitel nachhaltige Perspektiven aus der Bibel (Hildegard Scherer, Gedankenanstösse zum Mass des Notwendigen aus der biblischen Tradition, S. 19-29), aus der Kirchengeschichte (Gregor Emmenegger, Alternative christliche Lebensformen im Wandel der Zeit, S. 31-48) und der kirchlichen Soziallehre (Noemi Honegger, Nachhaltigkeitskonzepte in der kirchlichen Sozialverkündigung von Leo XIII. bis Papst Franziskus, S. 49-63) in den Blick. Priorin Irene Gassmann OSB, ist überzeugt, im Kloster Fahr wie in anderen Klöstern habe man schon nachhaltig gelebt, bevor man das Wort Nachhaltigkeit kannte (S. 64-71).

 

Was wir von christlichen Gemeinschaftsformen in Sachen Nachhaltigkeit lernen können

Das umfangreiche zweite Kapitel ist verschiedenen Ansätzen des «Anders zusammenleben» gewidmet, so der Titel (S. 73-138). Der Begriff der Nachhaltigkeit wird ausgefächert in Geschwisterlichkeit, soziale Freundschaft und Bekämpfung der Armut. Br. Niklaus Kuster OFMCap verweist auf die Vision einer geschwisterlichen Welt, die Papst Franziskus in seiner Enzyklika «Fratelli tutti» dargelegt habe (S. 75-80).

Im Interview mit der Philosophin, Geschlechterforscherin und Redakteurin Geneva Moser, «Warum reicht es nicht, dass es genügt?» (S. 126-138) treten interessante Verbindungen (aber auch Abgrenzungen) zwischen schöpfungstheologisch begründeten nachhaltigen Traditionen klösterlichen Lebens und aktuellen Innovationen zu Tage, besonders angesichts des «westlichen» Lebensstils und Wirtschaftens. Moser kennt das Wohnen in überfamiliären gemeinschaftlichen Wohnformen, sie ist verankert im Denken des Ökofeminismus und des Sozialismus. Nach ihrem Eintritt in die Benediktinerinnen-Abtei St. Hildegard in Eibingen (D) teilt sie Leben, Arbeiten, spirituelle Suche und (Stunden-)Gebet in der klösterlichen Gemeinschaft. Für sie hat «nachhaltig leben» auch mit Verzicht zu tun, die Haltung der Suffizienz reiche nicht aus, um einen nachhaltigen Wandel herbeizuführen. Im Hinblick auf ein nachhaltiges Leben und Wirtschaften plädiert sie zudem für den Einbezug indigener Stimmen.

 

Das dritte Kapitel hat die «Ökologische Umkehr» in den Kirchen und in der Umweltpolitik angesichts des Klimawandels zum Gegenstand. Einen neuen Ansatz für eine nachhaltige Schweizer Klimapolitik bieten beispielsweise Stefan Salzmann und Roman Bolliger (S. 161-168).

Selbstredend kommt im «ZürcherZeitZeichen» auch das Zürcher Projekt für mehr Nachhaltigkeit in der katholischen Kirche zur Darstellung: Das «Zürcher Modell» wird von den Verantwortlichen, Daniel Otth, Susanne Brauer und Kevin Ischi vorgestellt (S. 169 -176). Auf der Website der Katholischen Kirche im Kanton Zürich finden Interessierte zahlreiche Informationen zu den Aktivitäten im Rahmen der Strategie «Nachhaltig Kirche leben».

 

Der Beitrag von Jürg Liechti-Möri schlägt die Brücke zu einer anderen theologisch-kirchlichen Publikation. «Wake up: Es brennt! Ca chauffe!» ist ein Bericht über die Kooperation von Klimaaktivist:innen und Kirchgemeinden, begonnen am Pfingstfest 2020 (S. 177-180). Dieser Text erschien bereits im Jahr 2021, in der Publikation «Gott in der Klimakrise. Herausforderungen für Theologie und Kirche», herausgegeben von David Plüss und Sabine Scheuter[3]. Die Buchreihe «denkMal» ist ein Gemeinschaftsprojekt der Evangelisch-reformierten Landeskirche des Kantons Zürich und der Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn mit dem Ziel, zu aktuellen Themen in Theologie und Kirche das Gespräch zwischen Wissenschaft und Praxis zu suchen.

Den ersten Band der Reihe «ZürcherZeitZeichen» beschliesst ein Gespräch mit dem Kapuziner Br. Niklaus Kuster OFMCap, aktuell im Kapuzinerkloster Rapperswil lebend. Das Kloster Rapperswil versteht sich als «Kloster zum Mitleben». Während 30 Wochen im Jahr können Menschen in unterschiedlicher Intensität und Dauer das Leben der Gemeinschaft teilen. Aktuell bilden sechs Brüder und eine reformierte Pfarrerin diese Gemeinschaft.

Kuster verweist auf das Leitbild der Kapuziner, auf Franz von Assisi, der schon ein Pionier gewesen sei, bevor es ökologische Diskussionen gab. «Wir sind ein Teil der einen Erde, und wenn wir ihr nicht Sorge tragen, dann fällt das auf uns und auf die nächsten Generationen zurück» (191). Das sei auch das Bild, das Papst Franziskus verwende: «Die Welt, die Schöpfung ist das eine, gemeinsame Haus, in dem alle atmen und gut leben können sollen – nicht nur alle Menschen, sondern auch alle Lebewesen, die mit uns zu dieser Mitwelt gehören» (ebd.). Auch hier ist «Liebe deine Übernächste wie dich selbst» sowohl in der vertikalen als auch in der horizontalen Dimension zu verstehen.

 

Das Buch ist empfehlenswert als impulsgebende Lektüre für Tage der Musse. Musse, die Raum für das «Übernützliche» schafft, die Kräfte sammeln lässt für Neuorientierung und neues Engagement. Die Beiträge sind anschaulich geschrieben, sowohl die theologischen Grundlagentexte als auch die Berichte. Die lebendigen Interviews mit Gesprächspartner:innen aus verschiedenen Gemeinschaften, Initiativen und Genossenschaften erleichtern es der Leserin und dem Leser, den eigenen Begriff (weiter)zu entwickeln: «Wir können auch anders!»

Dorothee Foitzik

 

[1] Von Kloster bis Kommune. Gemeinsam nachhaltig leben. Im Auftrag der Katholischen Kirche im Kanton Zürich herausgegeben von Detlef Hecking, Zürich (TVZ) 2023

[2] Vgl. Maja Göpel: Wir können auch anders! Aufbruch in die Welt von morgen. Berlin 2022

[3]David Plüss / Sabine Scheuter (Hg.) Gott in der Klimakrise. Herausforderungen für Theologie und Kirche, Zürich (TVZ) 2021