Auf Weihnachten zu

     

 

 

Ein inspirierender 5-teiliger Gedichtzyklus der Luzerner Theologin und Autorin Jacqueline Keune möge Sie begleiten durch die Tage und Nächte bis zum Christfest und darüber hinaus. Eine Weihnachtsgeschichte in Geschichten, die sie für diese PRISMA-Ausgabe verfasst hat:

 

1

In jener Gegend

 

In jener Gegend

wo alle Welt ab- und eingeschätzt wird

– je ärmer, desto gründlicher

wo die Mauern eng stehen

die Habenichtse frieren

und die Sehnsucht Funken aus der Nacht schlägt

 

In jener Gegend

wo die Felder ins Dunkel schweigen

wo die Engel sich verzweigen

ein Stern durch das Dach einer Baracke fällt

und eine Futterkrippe zu atmen beginnt

 

In jener Gegend

wo die auferlegten Wege enden

wo der Mund eines Himmels sich weitet

das Heil ausläuft in unbetretene Zeit

und sich der Welt in den Arm legt

 

 

 

2

Das Dunkel der Welt

 

Ein Namenloser zieht über die Erde

Ein Gefangener hämmert die Einsamkeit in eine Zellentür

Eine ohne Obdach streichelt den Heizkörper im Wartesaal

Ein schmales Paar trinkt den Schlaf herbei

Ein Schwarm Fische hält Totenwache auf dem Grund des Meeres

Ein paar Zerlumpte halten die aussichtslose Stellung

derweil sich das Massengrab am Rand des Dorfes

mit dem lieben Namen

bläht

 

Ein Prophet schaut den Wolf beim Lamm –

in den Kasernen haust allein der Wind

Ein Volk harrt, ein Volk hungert

Ein Kaiser klammert sich an die Macht

Ein Beamter beschriftet die Steuerlisten

bet lehem

Eine Wirtin schüttelt die Federbetten auf

Ein Kundiger liest den Nachthimmel

Eine junge Frau verspricht sich einem Mann

derweil die ungläubige Hand über die

gewölbte Hoffnung

streicht

 

Ein Hirte verflucht die Welt

Ein Stern macht sich auf den Weg

Ein Engel geht unter die Haut

Ein Esel lacht und weint

Ein Himmel beugt sich tief zur Erde

derweil ein Kind auf Stroh

die Angst

zerbricht

 

 

 

3

Die Stimme

 

Eine Stimme ruft

auf den Feldern der Armut

bereitet dem Kind den Weg

seid nicht von Nutzen

tanzt aus den Reihen

tötet nicht die Träume

siedelt Sterne an

haltet euch an Engel

und einander

unverletzt

 

 

 

4

Den Menschen

 

Ein Bretterverschlag

vielleicht

im Bergland von Albanien

und der warme Atem

von Tareks Ziege

 

Ein nächtlicher Hinterhof

vielleicht

in Neu-Delhi

und drei bergende Müllcontainer

die sich in den Wind stemmen

 

Eine zerbombte Schulstube

vielleicht

am Dorfrand von Butscha

und ein Stern

der in die Ruinen fällt

 

Maria

vielleicht

eine junge Schichtarbeiterin

und Josef ein arbeitsloser Kellner

in einem Lazarett

 

Sicher aber

die Botschaft der Engel

noch immer die gleiche –

Friede auf Erden

 

 

 

5

Ich trete in die Nacht ein

beissende Kälte

die nach mir greift

kein Stern nirgends und

alles anders

als versprochen

 

Aber wie von selbst

gehe ich

in die Knie vor dem

Kind

 

dass es meine

Hoffnung

 

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