Zeit der Zauberer

     

Wolfram Eilenberger, Zeit der Zauberer. Das grosse Jahrzehnt der Philosophie 1919-1929, Stuttgart 2018.

 

Es ist die Zeit zwischen den zwei Weltkriegen. Die tiefen Wunden, die der Krieg von 1914-18 in Europa geschlagen hat, sind noch längst nicht vernarbt. Und noch ist nicht klar, wohin die kriegsversehrten Länder Europas sich entwickeln. Das bisherige Wertegefüge allerdings ist durch den Krieg nachhaltig erschüttert, die Humanität in Frage gestellt. Die Suche nach einer neuen Identität ist unumgänglich.

Was macht Menschsein aus und wie ist es zu realisieren, zurückzugewinnen? Diese Frage gibt zu denken. Es ist eine, wenn nicht die Grundfrage der Philosophie. Letztere ist gefordert. Und es ist für Wolfram Eilenberger nicht erstaunlich, dass gerade in dieser zeitgeschichtlichen Lage die Philosophie im deutschen Sprachraum sich als besonders produktiv erweist. Vier grosse Philosophen des 20. Jahrhunderts finden in diesem schicksalhaften Jahrzehnt ihre Bestimmung, ihre Grundthemen und ihre „Mission“: Walter Benjamin, Ernst Cassirer, Martin Heidegger und Ludwig Wittgenstein. Ihre philosophischen Ansätze sind samt und sonders geprägt von den Erfahrungen der vorangehenden Kriegsjahre und teilweise auch vom Antisemitismus, der in diesen Jahren in Deutschland zunehmend an Boden gewinnt.

Ihre Antworten auf die Fragen der Zeit allgemein und auf die Grundfrage nach Menschsein und Humanität sind indes grundverschieden. Eilenberger geht ihnen nach in einer spannenden Mischung aus zeitgeschichtlicher Verortung, biografischen Ereignissen aus dem Leben der vier Exponenten und aus deren Denkansätzen. Er flaniert sozusagen durch das Jahrzehnt von 1919-1929, erzählt, was geschichtlich geschieht, verwebt dies mit der Biografie der vier Gewährleute, profiliert darin die jeweiligen philosophischen Positionen. Er zeigt, was die Einzelnen zeitgleich umtreibt und wo sich ihre Wege punktuell kreuzen, wobei es nur spärlich zu einer direkten Begegnung kommt. Dieses spannende Erzählgewebe ergibt ein höchst lebendiges Bild der Epoche ebenso wie der zeitgenössischen Entwicklung der Philosophie. Dabei erhalten der Leser und die Leserin einen zuverlässigen Einblick in die Werkstatt und die philosophischen Grundpositionen der vier völlig verschiedenen Charaktere. Und sie werden auch da und dort aufmerksam auf Schattenseiten dieser philosophischen „Leuchtgestalten“ der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, auf Schattenseiten, die sich in diesem Jahrzehnt bereits anbahnen, aber teilweise erst später ihre fatale Wirkung entfalten. – Wolfram Eilenberger erzählt leichtfüssig, ohne jemals banal zu werden. Das sehr gelungene Buch ist ein Lesegenuss und ein Gewinn nicht nur für philosophisch Geschulte, sondern auch für Interessierte mit weniger Vorwissen.

Felix Senn

 

Der Autor:

Wolfram Eilenberger, geb.1972, ist Korrespondent des Magazins Cicero, langjähriger Kolumnist des Berliner Tagesspiegels, promovierter Philosoph und Autor mehrerer Bücher. Er lebt mit seiner Familie in Toronto/Kanada, Berlin und Koivumäki/Finnland.