Was fehlt, wenn die Christen fehlen

     

Eine Kurzformel des Christseins legt Matthias Sellmann vor: nicht Dogma, Moral, die Kirche oder gleich der ganze Sinn des Lebens, wohl aber eine bestimmte Variante geistlicher Lebensklugheit würde fehlen, die auch für «religiös Unmusikalische» gewinnbringend sein kann. Christoph Gellner findet das hochaktuell und inspirierend.

 

Dass Glaube und Religion in zahlreichen ihrer hergebrachten Erscheinungsformen «bachab» zu gehen scheinen und schon bald weniger als 50% der Schweizer oder Deutschen zu einer christlichen Kirche gehören werden – das nimmt der Mitinitiator der Sinus-Kirchenstudien und Gründer des Zentrums für angewandte Pastoralforschung an der Ruhr-Universität Bochum als Herausforderung, eine sowohl für religiöse als auch religiös unmusikalische ZeitgenossInnen verständliche Kurzformel christlichen Glaubens durchzubuchstabieren, die die Lebenskompetenz ins Zentrum rückt.

«Das, was wirklich fehlt, wenn die Christen fehlen, ist keine Lehre, sondern ein Weg», betont der Pastoraltheologe Sellmann (*1966). «Das ist es, was uns abhandengekommen ist: Christsein ist eine klar fassbare Praxis. Eine Lebensführungsweisheit. Eine Kompetenz. Dafür kann man werben.» Als guter Katholik spricht er mit youtube-Videos und Bildformaten alle Sinne an: Sehen, Hören, Riechen – via QR-Codes und einer duftlackierten Karte gibt es zum Buchinhalt show, musik, kunst, duft …

 

Neue Aufmerksamkeit für Religion

Jürgen Habermas, der die religiöse Gegenwartssituation neuerdings als «postsäkular» beschreibt, bezeichnete sich öffentlich wie schon der Soziologe Max Weber als «religiös unmusikalisch» – in seiner Dankrede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2001 und in der Diskussion mit Joseph Ratzinger in der Katholischen Akademie in München 2004.

Wer sich als «religiös unmusikalisch» bezeichnet, sagt nicht, er sei unreligiös. Wie Max Weber denkt Habermas intensiv über Religion nach, hält sich selber jedoch nicht für besonders fromm – beide blieben zeitlebens Mitglied ihrer protestantischen Kirche. Alles andere als taub für Religiöses macht Habermas insbesondere dem «religiös unmusikalischen Bürger» neu bewusst: «So wie uns Musik umgibt und jeden angeht, so umgibt uns Religion, auch die Nichtpraktizierenden.» (Dirk Kaesler)

Man könnte Habermas’ Zeitdiagnose als «postsäkularistisch» zuspitzen, liegt ihre Pointe doch in der Revision der lange selbstverständlichen Annahme einer unaufhaltsamen Säkularisierung von Religion: «Es wäre unvernünftig a priori den Gedanken von der Hand zu weisen, dass die Weltreligionen», widerspricht der Philosoph säkularistischer Ignoranz, «innerhalb des differenzierten Gehäuses der Moderne einen Platz behalten, weil ihr kognitiver Inhalt noch nicht abgegolten ist. Jedenfalls ist nicht auszuschliessen, dass sie semantische Potentiale mit sich führen, die eine inspirierende Kraft für die ganze Gesellschaft entfalten, sobald sie ihre profanen Wahrheitsgehalte preisgeben.»

Ausdrücklich verband Habermas damit die Forderung: Religionen müssen sich selbst und anderen Auskunft über den ihnen einwohnenden Eigensinn geben und argumentativ darstellen können, dass gerade auch Menschen ihn verstehen können, die selbst nicht am religiösen Glauben teilhaben.

 

Christsein als Ressource für gelingendes Leben

Genau das treibt Matthias Sellmann an: «auskunftsfähig auch für nicht-religiös Lebende» das alternativlos Besondere christlichen Glaubens neu zu erschliessen. Mit Verweis auf die biblische Weisheitsliteratur geht es ihm vor allem um die Lebensrelevanz des Christseins als einer bleibend gültigen Option aus dem kulturellen Vorrat an Deutungsmustern, die nicht verloren gehen darf: Wie kommt man anständig und kreativ durch das eigene und durch das gemeinsame Leben? Inwiefern kann Christsein hier inspirieren, ja, eine mentale Ressource für gelingende Existenz sein?

Entschieden weist Sellmann «Frömmelei, dogmatischer Blutleere und biederem Moralismus» ab: «Christsein ist «eine bestimmte Kompetenz, die man hervorragend dazu benutzen kann, um seine individuelle Lebensleistung zu bringen und damit auch für das Gemeinwohl etwas beizutragen».

«Man muss dazu motivieren können, welche biografische Praxis aus den Glaubensbegegnungen mit diesem Gott resultieren», betont Sellmann seine Alltagstauglichkeit: «also etwa: welche Selbstsorge; welches Zeitmanagement; welche Weisheit rund um Beziehungspflege und Gemeinwohl; welche Variante von Humor und Resilienz, wenn das Leben zuschlägt; welcher Umgang mit Scheitern und Feigheit; aber auch welche Strategie des Lebensgenusses, wenn man einen Lauf hat.»

 

Lebensentdeckungen auch für Nicht-Religiöse

Im Christus-Lied Phil 2, 5-11, nicht von ungefähr in bedrängter Situation im Gefängnis verfasst, bekräftigt der Apostels Paulus gegenüber seiner Lieblingsgemeinde, was seine und ihre grosse Lebensentdeckung ausmacht: «Die story des Jesus von Nazareth wird im Zeitraffer erzählt, ganz ähnlich wie am Beginn des Johannesevangeliums im berühmten Prolog: Himmel und Erde werden verbunden; ein Gottgleicher fällt geradezu in die Welt; er müsste nicht bleiben, tut es aber überraschenderweise; er entscheidet sich für die Welt; das kostet ihn sogar das Leben; er wird hingerichtet; wiederum überraschenderweise aber wendet sich das Blatt erneut; er wird erhöht, wie es heisst; und nun werden ihm Ehre und Fülle zuteil.»

Sellmann sieht darin die «geistliche Lebensklugheit» verdichtet, die den Glutkern der christlichen Überlieferung bildet: «dass die Nicht-Flucht aus den Aufgaben der Existenz (physis) und die Investition in das Glück auch anderer (kenosis) kein Scheitern, sondern Erfolg und Fülle zur Folge hatte». Von Jesus von Nazareth lernen Christinnen und Christen drei Lebenskünste, die sich wechselseitig ergänzen: «immer weniger wegrennen (physis); aus sich herauskommen (kenosis); Kraft von aussen aufnehmen (dynamis)».

Konkretisiert wird dies an drei bekannten spirituellen Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts, die je eine dieser drei Lebensleistungen in besonders ausdrücklicher Weise gelebt und beschrieben haben: Dietrich Bonhoeffer als Experete für physis-Klugheit («Einer, der nicht weglief»), Chiara Lubich als Expertin für kenosis-Klugheit («Eine, die sich investiert hat») und Madeleine Delbrel als Expertin für dynamis-Klugheit («Eine, die gefunden wurde»). Weihnachten, Ostern und Pfingsten bilden den jährlichen Rundwanderweg dieses «Dreiklangs des Christseins», der zudem auf die Trinität verweist.

Als eigentlichen Clou streicht Sellmann heraus, dass hier ein Lebens-, ja, gut weisheitlich ein Schöpfungswissen vorliege, das auch nicht-religiös Gebundene für sich nutzen können, was Sellmann erfahrungsnah immer wieder neu variiert: «Wer dableibt (physis) und wer weitergeht (kenosis), der stösst die Tür auf zu einer ganz eigenen Erlebnistiefe […] Wer zum Wohl von anderen über sich hinausgeht, der fällt nicht ins Leere, sondern wird aufgefangen. Er oder sie erschliesst sich ein Reservoir von Kraft, von dessen Intensität man in der Komfortzone überhaupt nichts ahnen konnte.»

Ohne auszublenden, was den Unterschied macht, lädt Sellmann ein: «Du brauchst dafür nicht religiös zu werden. Aber es bringt dich in vitalen Kontakt mit jener Kraft, die dieses Leben geschaffen hat und in ihm antreffbar ist […] Wir Christinnen und Christen nennen diese Kraft ‘unseren Gott’. Wir sind in Beziehung mit ihr, mit ihm. Mehr noch: Sie ist in Beziehung zu uns. Und das ist für uns Lebensglück.»

Christoph Gellner

 

 

Matthias Sellmann: Was fehlt, wenn die Christen fehlen? Eine Kurzformel ihres Glaubens, 128 S., Echter: Würzburg 2020

Ders., Geistliche Klugheit als Lebenskompetenz. Fundierungen einer Kurzformel des christlichen Glaubens, ca. 250 S., erscheint voraussichtlich am 1. März 2021 im Echter Verlag.