Urs Faes. Raunächte

     

Nach Jahren kehrt ein Mann zurück in das verlorene und doch vertraute Tal. Durch hohen Schnee geht er die alten Wege, erinnert sich an den erbitterten Erbstreit um den väterlichen Hof und an Minna, seine grosse Liebe, die sich gegen ihn und für den Bruder entschied, dem die Eltern den Hof zusprachen. Auf das unablässig fallende Weiss schauend wartet er auf Sebastian und kehrt immer tiefer in die Geschichte ihres «Bruderkriegs« heim: «Jakob und Esau oder schon Kain und Abel?»

«Sollte er ihn aufsuchen», überlegt Manfred. «Hingehen, anklopfen? Oder ihn rufen? In diese Schneenacht hinaus? Die Raunacht von Sankt Thomae? Um zu reden über die Geister im Tannenhain und die Geister der Vergangenheit, die manchmal, besonders seit der Krankheit, durch seine Träume zogen, als wäre etwas unerledigt geblieben und kehrte wieder, schlug ans Hoftor, verlangte Einlass und Gegenwart; vieles in seinem Leben war unerledigt geblieben. Das waren seine Raunachtwesen. An die alten glaubte er nicht, aber an die eigenen, nächtliche Scharen auch sie, furchteinflössend wie die Scharen der Toten in den Fluren. Und Minna? War sie eine von ihnen? Immer da. Verpuppt im Kokon der Bilder, in der Zärtlichkeit, die nie verging, über Jahre und Jahrzehnte nicht.»

«Es gehört zu unseren Bestimmungen in eine Familie hineingeboren und durch sie auch in seinem Gang und Verhalten bestimmt zu werden», erläuterte der Zürcher Autor im Gespräch mit Gallus Frei-Tomic. «Das sind Erfahrungen, die sich erzählerisch immer wieder melden. Botschaften hat der Erzähler nicht, eine Mission, ausser der des Erzählens, schon gar nicht. Sein Schreiben ist allenfalls, wie es Johannes Bobrowski einmal sagte, ein Benennen auf Hoffnung hin. Das  entspricht vielleicht dem Licht, das dem Gehenden zwischen den dunklen Tannen immer wieder unvermittelt aufscheint, in die Lichtungen fällt, die Ebenen erhellt, dem, was im Klang der Sprache sich lösen kann, in einem Rhythmus, der über den Satz hinauszuklingen, nachzuhallen vermag.» Schliesslich sei er immer der Ansicht gewesen, «dass, in Sprache gebannt, die Schwere des In-der-Welt-Seins leicht werden kann, dass ein knappes genaues Schreiben mit offenen Nischen, Emotionen allenfalls entstehen lassen kann, ohne dass sie sprachlich ausgebreitet werden müssen.»

Urs Faes, Raunächte. Erzählung, mit Zeichnungen von Nanne Meyer, Insel-Bücherei Nr. 1452.