Taugenichtstun

     

So stelle ich mir ein zeitgemässes geistliches Tagebuch vor! Besonders beeindruckt mich die Doppelgesichtigkeit, mit der Christian Lehnert sowohl das Unbehagen an der ‚ausgeglaubten‘ religiösen Sprache um Ausdruck bringt als auch um Worte ringt für die besondere Resonanzerfahrung von Gottesdienst und Liturgie:

„Wann immer ich einen Gottesdienst besuche, empfinde ich nach wenigen Minuten eine sonderbare innere Gespaltenheit: Enttäuschung mischt sich mit einer Beseelung, die einem Heimweh gleicht. Ich singe die alten Lieder, die mich teils tief berühren, teils museal befremden, ich bete mit den vorgesprochenen Worten, die mich fortnehmen in ihren Fluss oder mich kopfschüttelnd allein lassen mit ihren stilistischen Missgriffen, hohlem Pathos […] Die Gebete höre ich vollgepackt mit abgegriffenen Metaphern und jener unsäglichen Leier von ‚Lass uns …‘, ‚Gib uns … ‚, ‚Guter Gott …‘, die kaum noch erträglich ist […] Aber das ist nur die eine Seite. Gleichzeitig (und sie ist eben besonders merkwürdig, die Gleichzeitigkeit) bin ich hineingenommen in einen Raum, der mich selbst weit überragt. Ich habe das Gefühl, zu flirren in einem grellen Licht oder zu brummen in einer tiefen Resonanz, deren Grund mir nicht erkennbar ist, oder zu vibrieren in einem schweren Rhythmus oder zu tagträumen, leichthin zu schweben … Unabhängig von allem, was ich wahrnehme, oder besser: durch alles hindurch, was ich wahrnehme, ist eine andere Aktivität am Werk. Ein Agens, das ich nicht identifizieren kann, erfasst mich […] Es verändert sich die Art meiner Anwesenheit. Sie wird fester und zugleich durchlässiger […] Es will mir nicht gelingen, das alles sprachlich einzuzirkeln […] damit ich letztlich nicht nur ängstlich schweigen kann, brauche ich den Schutz von Formeln, von alten Bildern, welche der Sprache ein kultisches Gewand anlegen, sie heiligen und schützen.“

Lehnerts „Fliegende Blätter von Kult und Gebet“ sind eine Mischung aus Meditation, Poesie und Reflexion, der Titel spielt auf das Buch Hiob (13,25) an. In neun Grosskapiteln sind 82 Textabschnitte lose dem Ablauf einer Messe bzw. eines lutherischen Abendmahlgottesdienstes vom Kyrie bis zum Agnus Dei zugeordnet. Neben Biblischem, Theologischem und Philosophischem sind immer wieder Begegnungen und Geschichten aus Christian Lehnerts Zeit als Landpfarrer in Ostsachen eingewoben.

 

Hunger nach einer wahrhaftigen Sprache

Lange spielten Kirche und Glaube für den 1969 Geborenen im familiären Alltag der DDR überhaupt keine Rolle. Doch je älter er wurde, desto mehr fühlte er einen Hunger nach einer wahrhaftigen Sprache, die nicht opportunistisch mit zwei Zungen redete. „Ich bin eigentlich über die Sprache zum Glauben gekommen“, berichtete er Ilka Scheidgen über Entdeckung biblisch-religiöser Sprache, in der plötzlich Worte eine ganz andere Bedeutung hatten.

Dies geschah durch den Kontakt zum Pfarrer der evangelisch-lutherischen St. Petri-Gemeinde in Dresden. Mit 16 liess sich Lehnert konfirmieren. Statt wie die Eltern Medizin zu studieren, was er mit einer Offizierslaufbahn bei der Nationalen Volksarmee verbinden wollte („Ich war ein Hundertprozentiger“), verweigerte er nach bestandenem Abitur 1987 den Wehrdienst. Nach einer Zeit als Bausoldat begann er ein Studium der evangelischen Theologie, Religionswissenschaft und Orientalistik in Leipzig. Die neu gewonnene Freiheit nach der Wende nutzte er für ein Jahr in Jerusalem, wo er neben Theologie Arabistik studierte. Seit 2012 ist er Geschäftsführer des Liturgiewissenschaftlichen Instituts an der Universität Erfurt.

„Der Verlust der Stellung des christlichen Gottesdiensts als öffentlichen gesellschaftlichen Kults […] befreit ihn zu seinem Wesen. Aufatmen: Vorbei sind die Inanspruchnahmen, die Krönungsrituale und Waffensegnungen! Der christliche Kult muss heute nichts mehr beweisen. Er muss niemanden bestätigen. Er muss nichts legitimieren. Sein absurdes Tun, ein Spiel, ist heute sinn- und zwecklos. Einfach so: eine Vergeudung von Ressourcen, von Kreativität und Zeit. Er hat keine Funktion mehr, entzieht sich diesem üblen Wort, hat keine Aufgabe und ist zu nichts nutze. Taugenichtstun: das Gebet.“

Hier sind wir im spirituellen Zentrum von Lehnerts sprachlich dichten Miniaturen, die Religion als Ehrfurcht vor dem Unbrauchbaren auf eine Dimension des Unverzweckbaren hin öffnen und neu erschliessen. Wie die Kunst ist Religion gerade darum ‚mehr‘ als notwendig. Schon Dorothee Sölle strich heraus, dass Poesie und Religion Geschwister sind in einer Welt nützlichkeitsorientierter Zweckrationalität, in der alles zum brauchbaren Objekt wird. Stehen sie doch gemeinsam für eine Wirklichkeitsdimension, die über alles Mach- und Handhabbare hinausweist, weiter und von anderer Art ist als alles sonstige Lebensnotwendige: „Es muss im Leben mehr als Alles geben.“

 

Im Hallraum der Mystik und der negativen Theologie

Konsequent bemüht sich Lehnert um die Unterbrechung eines zugriffigen Redens von Gott, das Gott zur Personifikation menschlicher bzw. kirchlicher Wünsche und Zwecke macht:

„Du musst deinen Glauben leer halten, frei von festgefügten Bildern, Begriffen, von deutenden Umschreibungen. Unbrauchbar, zu nichts zu verwenden. Er muss leer sein, nur so bleibt alles offen, nur so kann der Gott einströmen. Diese Leere verlangt alle Intensität des Betens und Denkens, der Geistesgegenwart, alle Wachsamkeit, alles Verantwortungsgefühl. Sie ist die letzte Verankerung für deinen Glauben.“

Provozierend paradox stellte schon der schlesische Mystiker Angelus Silesius die routinierte Selbstverständlichkeit unseres sprachlichen Handhabens Gottes in Frage. Lehnert führt ihn als beunruhigenden „Nachhall der erfahrenen göttlichen Fremde“, der „verstörenden Transzendenz“ an:

Gott ist ein lauter Nichts, ihn rührt kein Nun noch Hier:

Je mehr du nach ihm greifst, je mehr entwird er dir.

„Ein Gedicht ist immer ein Raum, der sich nicht abschliessen lässt, der auf etwas Offenes weist ganz so wie der Glaube, der auf etwas hinweist, was meinen Horizont übersteigt. Nur wenn man ihn auf eine Aussage festlegt, wenn man meint, er sei eine Weltanschauung, eine Theorie von der Welt“, gab Lehnert im Gespräch mit Ilka Scheidgen (Autorenporträts 2016) zu verstehen, „dann entstehen die Missverständnisse“.

Im Zeichen negativ-apophatischer Theologie schärfen seine fliegenden Blätter ein, dass sich Gott trotz seiner merkwürdigen Selbsterklärung in Ex 3,14 der Begreifbarkeit ebenso wie jeder Verfügung entzieht: „JHWH. Keiner, dem ein Name oder eine Biografie oder eine geschichtliche Herkunft zugedacht werden könnten … Er – oder es – entziehen sich jeder Habhaftwerdung in der Sprache […] Der Name bleibt den Israeliten eine Leerstelle: vorhanden, aber nur durch Schweigen zu füllen […] Als Name untauglich, weil unabgegrenzt und je unvorhersehbar im Ereignis, spricht sich Gott darin doch aus, stellt sich vor – als Negation aller Vorstellungen, und doch vor alles andere gestellt … Und ob der ‚Gottes‘-dienst ihn hereinholt? Ob es IHN darin geben wird?“

Lehnerts sieben preisgekrönte Gedichtbände finden dafür eine ganz eigene Form mystischer Poesie. Prägnant belegen dies die beiden in „Gott in einer Nuss“ zitierten Verse aus dem Band „Windzüge“:

Der Gott, den es nicht gibt, in mir ein dunkler Riss,

ist meiner Seele nah, sooft ich ihn vermiss.

 

Christian Lehnert: Der Gott in einer Nuss. Fliegende Blätter von Kult und Gebet, Suhrkamp: Berlin 2017, 237. S.