Seelsorge und Diakonie – Ethische und praktisch-theologische Perspektiven

     

 

Die berühmte “Gretchenfrage”, gestellt vom namengebenden Gretchen an ihren Liebhaber Faust, kommt beim Lesen des Sammelbandes “Seelsorge und Diakonie” unmittelbar in den Sinn. Denn eine der grossen Fragen dieses auf eine Tagung im Frühjahr 2023 in Bern zurückgehenden Buches lautet: Gibt es etwas – und wenn ja, was – das christliches diakonisches Handeln von dem anderer Sozialdienstleister unterscheidet? Michael Hartlieb findet die Beiträge sehr lesenswert.

 

“Nun sag’, wie hast du’s mit der Religion?
Du bist ein herzlich guter Mann,
Allein ich glaub’, du hältst nicht viel davon.“

 

Die berühmte “Gretchenfrage”, gestellt vom namengebenden Gretchen an ihren Liebhaber Faust, kommt beim Lesen des Sammelbandes “Seelsorge und Diakonie” unmittelbar in den Sinn. Denn eine der grossen Fragen dieses auf eine Tagung im Frühjahr 2023 in Bern zurückgehenden Buches lautet: Gibt es etwas – und wenn ja, was – das christliches diakonisches Handeln von dem anderer Sozialdienstleister unterscheidet? Oder ist es so, dass jenes einfach nur (theologisch überhöhtes) normales (mit-)menschliches Handeln ist? Hat, anders gefragt, christliche Diakonie einen Mehrwert?

 

Eine der weiteren Fragen in diesem mit 124 Seiten recht schmalen Bändchen bezieht sich auf das Zueinander von “Seelsorge” und “Diakonie” generell, auch hinsichtlich der Klärung eines potenziellen Vorrangs der einen Aufgabenstellung gegenüber der anderen. Und nicht zuletzt wird immer wieder auch die Frage aufgeworfen, in welchem Verhältnis “Subjekt” und “Objekt” von Seelsorge und Diakonie miteinander stehen sollten (und ob nicht eher beide Rollen getauscht werden sollten, um ein theologisch stimmiges Bild zu ergeben. Informativ dazu v.a. Isabelle Noth auf S. 93f).

Um sich auf die Schnelle einen Überblick zu verschaffen, reicht erstaunlicherweise nicht der Blick in das arg kurz geratene und wenig die folgenden Beiträge einordnende Vorwort, sondern ein Blick auf Seite 65. Auf dieser werden im Rahmen des Beitrags von Mathias Mütel auf kürzestmögliche Weise heute relevante Definitionen von Seelsorge und Diakonie zusammengefasst. Anschliessend lohnt sich ein Blick auf die einzelnen Beiträge sehr.

 

Doris Nauer verweist am Beginn ihres Artikels auf die “Seelsorge-Schuldgeschichte” (S.11) der letzten Jahrhunderte und kommt angesichts dieser zum Verständnis einer Seelsorge, die multidimensional und professionell erfolgen muss – orientiert an den Zeichen der Zeit und zugleich im ständigen Abgleich am Vorbild von Jesus Christus. Multidimensional bedeutet in ihrem Ansatz: Sie muss die spirituell-mystagogische, pastoral-psychologisch-heilsame und diakonisch-prophetische Dimension umfassen. Diese Dimensionen werden erörtert und mit Kompetenzen unterlegt, wodurch sie sich beinahe wie ein Berufsprofil lesen (und dadurch den Graben zu gegenwärtig auch machbaren Erfahrungen mit Seelsorge noch tiefer erscheinen lassen). Hier (wie in den folgenden Beiträgen auch) lassen sich diese auf folgende Grundkompetenzen herunterbrechen: Seelsorge heisst, Glauben im Sinne von Satzwahrheiten nicht vermitteln, sondern Menschen auf ihrem Glaubensweg begleiten; mystagogische Seelsorger sollten neugierig machen auf die christliche Sicht von Gott und Mensch; und diakonisch-prophetisch tätige Seelsorgende sollten ein Gespür für die komplexen sozialen Gefüge haben, in denen Menschen heute leben – und sich radikal auf die Seite der Menschen stellen.

 

Heinz Rüegger buchstabiert eine auf diese Art verstandene seelsorgliche Diakonie mit Blick auf gerontologische Herausforderungen aus. Besonders anregend ist in diesem Kontext, wie diakonisches Handeln durch seelsorgende Praxis gestärkt werden kann: Sie fördert beispielsweise ein “absichtsloses Wahrnehmen” des Gegenübers oder ermöglicht bei diesem eine Stärkung der “pathischen Dimension” des Lebens und befreit nicht zuletzt vom “Erfolgszwang” des diakonischen Tuns. Die eigentliche Frage des Beitrags wird am Schluss aber eher dünn behandelt: Gegen den Jugendwahn bezieht der Autor ausführlich Stellung, aber wie Seelsorge im Alter dazu dienen könnte, lebensklug und mit Lebenskunst zu altern, das hätte einer ausführlichere Darstellung verdient.

 

Christine Wenona beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit “Seelsorge in sozial-diakonischen Kontexten und arbeitet dabei heraus, dass Armut in erstaunlicherweise in praktisch-theologischen Beiträgen eine nur sehr untergeordnete Rolle spielt , anders als im englischsprachigen Umfeld. Von dieser Ausgangslage entwickelt sie interessante Perspektiven, wie seelsorgendes Handeln darauf reagieren könnte und vor allem auch, welche theologischen Versicherungen dabei unterstützend wirken könnten: Seelsorge sollte Zeugnis ablegen von einem Gott, der “schaut”, der also einen Blick hat für Ungerechtigkeit und die Not der Menschen. Auch hierdurch werden Diakonie und Seelsorge eng miteinander verknüpft.

 

Mathias Mütel beleuchtet in seinem Beitrag die “Diakonie als Aufgabe der Gesamtpastoral” und konstatiert wie andere Beitragende, dass es gerade bei der Diakonie eine überaus grosse Spannung zwischen der gesellschaftlichen Wertschätzung der Diakonie auf der einen Seite, und ihrer ostentativen theologischen Randlage auf der anderen Seite gibt (dazu illustrativ S. 86 im Beitrag von Isabelle Noth). Soweit so schon der Pastoraltheologe Herbert Haslinger in den 1990er Jahren. Mütel beschäftigt sich anschliessend mit der Frage, ob es ein Proprium christlicher Diakonie gibt, die durch niemanden sonst geliefert werde kann. Nach Mütel gibt es kein explizites christliches Sondergut, aber die Bibel und namentlich der Psalter eröffnen eine Tiefendimension, die eine ganzheitliche, nicht-dualistische Sicht auf den Menschen ermöglicht. Das erörtert Mütel anschliessend sehr schön an der augustinischen Psalmenexegese (S. 64).

 

In ähnlicher Perspektive ist auch Franziskus Knolls Beitrag zu lesen. Mit einem Schwerpunkt zunächst auf der Theologieentwicklung zu Seelsorge und Diakonie bei Yves Congar und dessen Einfluss auf die Genese des 2. Vatikanischen Konzils stellt er den Zusammenhang von eben Seelsorge und Diakonie sehr anschaulich dar. Interessant und in ähnlicher Weise auch in anderen Beiträgen vorkommend nimmt er anschliessend die Seelsorgepraxis von Jesus als Vorlage eigener Überlegungen hinsichtlich der Frage, wie sich gute Seelsorge charakterisieren lässt. Ein nüchterner Ausblick auf die eigentlich notwendigen Auswirkungen dieser Überlegungen auf die kath. Kirche schliessen einen weiteren bemerkenswerten Beitrag in diesem Sammelband ab.

 

Eine gewisse Sonderstellung im vorliegenden Band nimmt Isabelle Noth ein. Ihr Anliegen ist es nämlich, unter Berücksichtigung der Faktoren Psychologie und Motivation doch besondere Haltungen für diakonisches Handeln aus einem gelebten christlichen Leben heraus entdecken zu können. Kein reflektiertes, bewusstes Handeln ohne Motivation – und diese Motivation kann sich insbesondere auch auf die Länge und den Verpflichtungsgrad gegenüber der Handlung auswirken. Sehr spannend und bereits an anderer Stelle in dieser Rezension erwähnt ist eine Motivation, die normalerweise nicht mit dem Subjekt von diakonischem Handeln in Verbindung gebracht wird: Dankbarkeit.

 

Martin Wirths Beitrag markiert ebenso eine Sonderstellung in diesem Buch. Sein Beitrag ist eher in der politischen Ethik angesiedelt, insofern er die widerstreitenden Positionen von Martha Nussbaum und Rainer Forst zur Güterfrage ins Gespräch bringt und die Ergebnisse in die Fragen eines richtigen Verständnisses von Diakonie einspeist. Ein methodisch voraussetzungsreicher, aber gewinnbringender Beitrag für Kenner:innen der Materie.

 

Omar Ibrahim beschliesst den Band mit einer Untersuchung von “Dimensionen philosophischer Hermeneutik in Seelsorge und Diakonie”. In ihm geht es grob gesagt um die Darstellung, dass philosophische Hermeneutik nicht auf das Verstehen von Texten oder Medien beschränkt bleiben muss, sondern dass sie auch fruchtbar zum Verstehen des Beziehungsgeschehens in Seelsorge und Diakonie eingesetzt werden kann – dabei gleichzeitig aber als Methode auch nicht überfordert werden darf.

 

Insgesamt liegt ein sehr themenreiches Buch vor, das zum Glück Seelsorge sehr weit fasst und keinerlei Priester- oder Amtszentrierung erkennen lässt. Möglicherweise auch ein Einfluss der ökumenischen Tagungsstruktur? Jedenfalls hat es seinen grossen Reiz darin, dass es die Theorieebene immer mit der Praxis zusammen denkt. Natürlich ist das hier kein Werkbuch mit Umsetzungsvorschlägen, aber die/der Leser:in findet Assoziationsanregendes in Hülle und Fülle, um das eigene Nachdenken über Seelsorge und Diakonie zu motivieren. Das hilft auch dabei, einige Redundanzen zu überlesen, die sich gleichwohl bei einem Tagungsband nie ganz vermeiden lassen. Sehr empfehlenswert!

 

Noth, Isabelle; Knoll, Franziskus; Mütel, Mathias; Wirth, Mathias (Hgg.), Seelsorge und Diakonie. Ethische und praktisch-theologische Perspektiven, Stuttgart: Kohlhammer 2023, 124 Seiten