Fehlt Gott?

     

 

Gott ist aus unseren zu engen Gottesvorstellungen ausgezogen, seine Spur ist ausserhalb ‘seiner’ Kirche auszumachen und neu zu entdecken: das ist Ausgangspunkt einer lesenswerten Spurensuche, die aufspürt, wo Gott zur Leerstelle und zur Frage geworden ist. Christoph Gellner stellt sie vor.

 

«Wer sagt, es gebe Gott nicht, und nicht dazu sagen kann, dass Gott fehlt und wie er fehlt, der hat keine Ahnung. Einer Ahnung allerdings bedarf es», zitiert der Kapuzinerbruder Stefan Walser, Juniorprofessor für Fundamentaltheologie in Bonn und Herausgeber des Bandes «Fehlt Gott? Eine Spurensuche» den kürzlich verstorbenen Schriftsteller Martin Walser. «Aber er fehlt. Mir.»

Die Leitfrage der biblischen, spiritualitätsgeschichtlichen, theologischen, religionsphilosophischen und zeitdiagnostischen Beiträge lautet: Wie kann man von einem Gott sprechen oder predigen, der nicht selbstverständlich ist, ja, der einer Gesellschaft und einer Kirche abhanden gekommen scheint?

Gott woanders finden

Jürgen Werbick stellt der gängigen Vorstellung vom Abhandenkommen Gottes in unserer säkularen Alltagswelt wie der mit der Umnutzung von Kirchengebäuden verbundenen pragmatischen Abriss-Perspektive die verstörende biblisch-prophetische Exodus-Perspektive Jer 7,1-15 entgegen: «Gott ist ausgezogen aus seinem Tempel. Da wollte er nicht mehr wohnen; das wollte er nicht länger mit sich machen lassen, dass man sich seines Schutzes und der Geborgenheit bei ihm sicher war – und tat, was man wollte. Er zieht aus und lässt ein gottverlassenes Volk zurück. Er entzieht sich dem König und den Priestern, die sich als seine Stellvertreter aufspielen und ihn vor den Völkern blamieren.»

Der Beitrag des Altmeisters der Fundamentaltheologie «Wohin ist Gott?» ist der herausforderndste. Für ihn hat sich die Kirche der Scheiterns-Perspektive auszusetzen, warum Gott seine «Menschheits-Bedeutung» verloren hat: «Gott selbst zieht aus. Er entzieht sich dem Macht-Gehabe, der pompösen Inszenierung, dem Herunterdonnern der Moralapostel auf die, die man wegen ihrer Verworfenheit nicht einmal mehr als von Gott gesegnet ansehen will. Er ist nicht da, wo man seine Macht zu menschlich-allzumenschlicher Selbstbehauptung nutzen will. Das ist die Lektion, die Elia lernen muss: Gott im leisen Wehen, in dem Wink, der ihn dahin weist, wo er jetzt gebraucht wird» (1 Kön 19,1-18).

Kirchenglaube oder Gottesglaube?

Erstaunlich, wundert sich Werbick, «wie wenig die Kirche dieses Gotteslernen auf sich beziehen wollte». Doch nun «muss sie auf den leisen Hauch achten, nach der Spur suchen, in der sie ihm jetzt nachzufolgen hätte. Die Mesalliance zwischen der Kirche Jesu Christi und einer feudalen kirchlichen Selbstinszenierung ist so sehr aus der Zeit gefallen, dass sich auch viele Menschen in der Kirche abwenden. Das hat in manchen seiner Texte – etwa in Evagelii gaudium – keiner so deutlich ausgesprochen wie Papst Franziskus.»

Gott-verlassen komme einem die Kirche vor, mit ihrem Gottes-Anspruch gescheitert, so Werbick. Da dränge sich die Frage auf, «ob wir tatsächlich ihm glauben oder doch lieber mit unserem Glauben in der Kirche zuhause sein wollen. Glauben wir ihn oder die Kirche? Wir können nur hoffen, dass das eine falsche Alternative ist; dass die Kirche Dienerin für unseren Gottesglauben geblieben ist. Dass sie ihm vielfach Schaden zugefügt hat, wird leider auch wahr sein; dass man Gott in ihr missbraucht hat: durch Moralisierung, Sakralisierung, Vereinnahmung. Aber unser Gottesglaube sollte doch nicht zersetzt werden können vom allgegenwärtigen Kirchen-Misstrauen und kirchlichen Scheitern!»

Mehr Gottesherrschaft leben

«Ist es überhaupt so», fragt Werbick, «dass Gott aus dem Tempel unserer prachtvollen Antworten ausgezogen ist und uns – weithin unerkannt und unerhört – mit der Frage belästigt: Was bedeuten dir die Antworten? Diese Frage entwaffnet die Antwort-Besitzer in den Kirchen. Gott ist ausgezogen aus dem, was wir von ihm wissen. Er klopft von draussen an, damit wir herauskommen, uns seinen Fragen draussen stellen, uns denen aussetzen, die zu viel haben von den wohlfeilen Antworten.»

Er ist offensichtlich da, «wo es nicht nach Gott aussieht», schlussfolgert Werbick: «Das ist schon für die ersten Christinnen und Christen die ebenso furchtbare wie beglückende Erfahrung gewesen, die ihnen das Kreuz Christi zumutete. Gott war in Christus da, der ihn abseits der religiösen Zentren lebte und dahin mitbrachte, wo man ihn vermisste.»

Es sei unfruchtbar, sich darüber zu streiten, ob man Gott braucht, ihn brauchen müsse, fährt Werbick fort: «Der Gott Jesu Christi ist nicht der, den man unabweisbar braucht. Am Kreuz hätte Jesus ihn ‘gebraucht’. Gott selbst liess ‘sich aus der Welt herausdrängen ans Kreuz’ (Bonhoeffer). Wo man ihn brauchen könnte, um zu überleben, hilft er nicht heraus. Brauchen lässt er sich nicht. Man muss ihn wagen. Ich müsste es wagen, mit ihm anders zu leben.» Die Verkündigung Jesu sagt: «Wir müssten es mit ihm wagen, Gottesherrschaft zu leben; draussen, da, wo das gute Leben auf dem Spiel steht.»

Gott wagen – Kirche wagen

«Dass Gott uns das ratlose Jetzt und das Suchen zumutet, das Hineingehen ins Unbekannte, in seine Zukunft, in sein Dasein: Das ist eigentlich Glaubens-selbstverständlich. Aber in einer Kirche, die im Entscheidenden immer schon alles Glaubens-Wichtige gewusst haben will und peinlich darauf achtet, dass aus dem ‘Reichtum’ ihrer Tradition nur nichts wegkommt, hört sich das befremdlich an. Sie scheut jedes Wagnis, möchte lieber im Vorgestern als im Jetzt leben: Bleiben wir unbeirrt bei dem, was Gott durch Christus für unsere Kirche für ewige Zeiten angeordnet hat! Es ist verblüffend, mit welcher Sicherheit man da weiss, was diese Anordnung alles umfasst. Aus der aufmerksamen Lektüre der Bibel kann sich diese Sicherheit kaum speisen. Da findet man etwa nur Spurenelemente einer Amtstheologie, die man heute für unabänderlich festgeschrieben hält. Und ganz viel anderes, was einem dabei in die Quere kommen könnte […] Wie kleinkariert denkt man eigentlich Gott und Vater Jesu Christi, wenn man ihm das Verbot unterschiebt, eine Kirche zu wagen, in der nicht nur Männer amtliche Verantwortung tragen! Aber die Kirchenkrise geht ja viel tiefer: Wie soll eine Kirche den Menschen das Wagnis Gottes bezeugen, wenn sie nichts wagt?»

Werbicks Fazit? «Eine Kirche, der man nicht ansieht, dass sie Gott sucht und wagt, zeigt sich den Menschen ratlos und geistlos, mit Antworten auf Fragen, die nur noch ‘Eingeweihten’ von Herzen kommen mögen. Gott suchen hiesse auch, die Menschen suchen, ihre Sehnsucht, ihr Fühlen, ihre Ängste, ihre Lust und Freude, ihre Not, ihren bösen und ihren guten Willen. Wenn man sie wirklich aufsuchen, wenn man das Mitsuchen und Mitfühlen mit ihnen wagen will, wird man sie finden und antreffen. Wird man mitten unter ihnen dem Herrn der Kirche begegnen.»

Sich jenseits der eingeübten Glaubensmuster neu auf Gott einlassen

Die übrigen Beiträge vertiefen diesen Aufschlag: Paul Deselaers biblisch-poetisches Plädoyer für die Würde des Fragens, Margareta Grubers biblisch-spirituelle Meditation über den Schrei Jesu und das Fehlen Gottes im Markus-Evangelium, Klaus Kleffners Erschliessung der als «dunkle Nacht» erlebten Erfahrungen der Abwesenheit Gottes in der spanischen Mystik oder Hans-Joachim Höhns kritische Überlegungen zu einer belanglos-trivialisierenden, ja, «zu Tode geglaubten», weil «ausgeliebten» Gottesverkündigung, wo doch Gott als der unerreichbare und insofern stets ferne, gerade so aber der weiteste Horizont eines Menschenlebens stark zu machen wäre. Stefan Walser macht dies für die Predigt fruchtbar, indem er einschärft, was den Unterschied macht: reden «in», nicht reden «über».

 

Stefan Walser (Hg.): Fehlt Gott? Eine Spurensuche, Grünewald Verlag: Ostfildern 2023, 152 S.