Es ist nicht gleichgültig, an welchen Gott man glaubt

     

Schon dieser programmatische Titel umschreibt die Stossrichtung der «Theologisch-biographischen Notizen», in denen der Grazer Pastoraltheologe Rainer Bucher herauszufinden versucht, ob die alten Begriffe der christlichen Tradition einen Unterscheid machen, der einen wirklichen Unterschied macht. Christoph Gellner stellt das lesenswerte Buch vor.

 

«Das Buch bietet kurze, knappe, biographisch grundierte Theologie», sagt Rainer Bucher (*1956) über die Auswahl von 25 ursprünglich für die österreichische Wochenzeitung DIE FURCHE verfassten, jeweils 4–8 Seiten umfassenden Lesetexten, die Themen seines Lebens und seiner Arbeit bündeln: «Man möge nehmen, was man gerade brauchen kann. Die Welt und schon gar Gott sind sowieso viel zu komplex, um sie zu verstehen. Aber an beiden kommt man halt nicht wirklich vorbei.»

 

Biografie und Theologie

«Bayreuth» ist der erste Text überschrieben. In der Stadt Richard Wagners ist Bucher aufgewachsen, die Villa Wahnfried und die Bayreuther Synagoge lagen auf seinem Schulweg – die «Kehrseite» seiner Heimatstadt ist ihm bewusst: dank der Begeisterung für den Nationalsozialismus war sie eine der Lieblingsstädte Hitlers. 1973 führte ihn sein Konzilskaplan nach Polen und nach Auschwitz, da begann er sich zu fragen, was «seine glückliche Jugend im Schutz der katholischen Kirche» mit «Bayreuths dunkler Vergangenheit» zu tun hatte: «Was haben sie miteinander zu tun: Gott und das Leiden?»

Es war für ihn ein Schock, als er bemerkte, dass der Glaube bei vielen, auch vielen Verantwortlichen, politisch und religiös blind, ja, naiv war, als Hitler sich daranmachte, Deutschland in den Griff zu bekommen; die Resistenz des katholischen Milieus war zumeist auch Gleichgültigkeit gegenüber den Opfern. Die Märtyrer des christlichen Widerstands, die Geschwister Scholl oder Alfred Delp, Dietrich Bonhoeffer und Franz Jägerstätter, «Heilige allesamt, die zu verehren unsere Pflicht ist: Sie waren wenige, und wer könnte sich anmassen, sich ihnen gleichzustellen, ja, auch nur zu hoffen, hellsichtig und fromm, standhaft und tapfer zu sein wie sie?» Den «dritten Teil der Antwort» fand Bucher noch vor Beginn des Theologiestudiums und auch vor der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Hitler – 2008 erschien seine Studie über «Hitlers Theologie» – in einer, wie er nur andeutet, «Schlüsselszene des Glaubens und auch der Liturgie: in der Verehrung des gekreuzigten Jesus. Es ist nicht gleichgültig, welche Theologie man treibt, es ist nicht gleichgültig, an welchen Gott man glaubt.»

 

Postmoderne: nichts ist selbstverständlich

«Die Kombination aus traditioneller Unverlassbarkeit, moderner Verantwortung und postmoderner Verflüssigung macht […] das Spezifische von Elternschaft heute aus», resümiert der Vater von zwei erwachsenen Töchtern sein «Vater sein». «Elternschaft ist eine einzige Schule der Demut und sie lehrt wie sonst nur noch die eigene Not beten». Ja, sie «ist eine einzige Schule der Selbsterkenntnis und sie lehrt Ehrlichkeit und Tapferkeit. Es ist anstrengend, aber nur gut und gerecht, dass sich auch Väter dieser Konfrontation immer weniger entziehen können. Denn sie ist pures, dichtes, volles Leben […] Elternschaft ist eine Schule der Aufmerksamkeit und sie lehrt Dankbarkeit.»

Angesichts der Revolution der Geschlechterverhältnisse, deren Konsequenzen Bucher für Kirche und Pastoral reflektierte, ist für ihn gesellschaftlich wie auch persönlich klar: «Mit dem Patriarchat ist es vorbei. Das Patriarchat herrscht dort, wo der Mann für sich zwei Positionen beansprucht, die des überlegenen Geschlechts und die des geschlechtsneutralen Menschen […] Das hat lange funktioniert, funktioniert aber heute nicht mehr wirklich […] Ich konnte nicht mehr Vater sein wie der eigene, 1912 geborene Vater, so liebevoll er auch als unübertroffener Erzähler faszinierender Gute-Nacht-geschichten war […] Dass alte Rollenmuster nicht mehr tragen ist nichts wirklich Besonderes, sondern schlicht Teil unserer postmodernen Konstellation: Wir leben in Zeiten, in denen die Vergangenheit nur noch sehr bedingt brauchbar ist, die Gegenwart offenkundig unüberschaubar und die Zukunft ziemlich unplanbar geworden ist […] Quasi selbstverständliche Existenz gibt es für nichts und niemanden mehr. Alle vormals quasi-natürlichen Rollenmuster werden unselbstverständlich, müssen also, wollen sie weiterbestehen, neu entworfen, neu ausgehandelt und neu bedacht werden.»

 

Der Gott Jesu

«Es macht den Gott der Bibel aus, dass vielfältig und in immer neuen, unabgeschlossenen Anläufen von ihm reden muss, wer von ihm reden will», das gilt auch für das Nachdenken Rainer Buchers über Gott. «Er kommt den Menschen nahe und schenkt ihnen dennoch oder gerade darin Freiheit, selbst vor ihm selbst. Er entzieht sich seiner Bemächtigung, selbst durch Jesus. Er ist ein Gott der Nähe und des Sich-Verbergens, der Entdeckbarkeit und des Geheimnisses, der Erfahrung und der Entfernung, des Wissens und des Glaubens. Alle Götter, die dieser Dialektik nicht unterliegen, sind offenbar nicht der Gott Jesu. Das sind etwa alle Götter, die im Munde ihrer Gläubigen Verfügungsmasse eigener Interessen sind, die nicht vom Einzelnen je neu in seinem Leben, in seiner Wirklichkeit ihre Entdeckung einfordern, sondern deren Präsenz behauptet und daher von den anderen Menschen einfachhin eingefordert wird. Umgangen wird damit die grundsätzliche Unverfügbarkeit Gottes für uns Menschen. Das zentrale inhaltliche Kriterium aber, um Gott in den vielen Phänomen und Zeichen der Welt zu entdecken, ist offenkundig die Fähigkeit zu solidarischem Mitleiden.»

Der bei Ottmar Fuchs habilitierte Pastoraltheologe, der zu den Mitbegründern des Theologischen Feuilletons feinschwarz.net gehört, ist «fest überzeugt»: Der Gott, zu dem Bernhard von Clairvaux in der Ketzerbekämpfung zur Zeit der Kreuzzüge und zu dem die islamistischen Attentäter laut ihrer «Geistlichen Anleitung» am 11. September 2001 im Cockpit riefen, «er ist der gleiche Gott», genauer: «ein Macht-Götze des Menschen». «Wo Gott zur Waffe in den Händen seiner Gläubigen wird, wo er Menschenopfer fordert, ist es nicht der Gott des Jesus von Nazareth».

Denn «der Gott Jesu ist ein Gott, der nicht im Grossen und Mächtigen zu finden ist, sondern im Kleinen und bei den Leidenden – und zwar von allen und überall, wo die Aufmerksamkeit der Liebe herrscht.» Es komme nicht auf das Wort ‘Gott’ an, vielmehr auf seinen Begriff: «Jede Religion ohne diese Aufmerksamkeit der Liebe verfehlt Gott dramatisch. Das heisst aber auch: Wo ein anderer Gott handlungsleitend wird, in den Religionen und auch in der Kirche, da stirbt der Gott Jesu.»

Zustimmend zitiert Rainer Bucher Papst Franziskus: «’Wir müssen uns an die Botschaft der Bibel halten: Jeder Mensch ist ein Ebenbild Gottes, ob er nun gläubig ist oder nicht.‘ Das ist ein basales Charakteristikum des Gottes Jesu: Nicht sein Glaube an Gott macht einen Menschen zu einem geliebten Kind Gottes, sondern Gott macht es […] Der theologische Fachausdruck dafür lautet: Gnade. Das heisst: Niemand muss an Gott glauben. Der Glaube ist nicht die Bedingung von Gottes Liebe, sondern das Bekenntnis zu ihr. Das ist die grundlegende Eigenschaft des Gottes Jesu: Er ist Gnade. Das hat aber auch eine harte Seite. Denn die Gemeinsamkeit der Menschen vor Gott ist keine ihrer Leistungen, sondern ihrer Sündigkeit […] Gott ist nicht lieb, sondern die Liebe, und wir alle benötigen sie dringend. Die Konfrontation mit ihr macht vor allem eines klar: wie weit weg das menschliche Leben von ihr ist. Jesus macht aber auch klar, dass noch die grössten Sünder diese Erlösung, also Gottes Gnade, bekommen werden, wenn sie sich ihr nicht verschliessen. Mehr ist nicht nötig: Das ist das Befreiende an Jesu Botschaft […] Im gewissen Sinn ist der Glaube an Gott ein wunderbarer Luxus. Der Glaube an Gott gehört eher zu einer Anti-Ökonomie der Verschwendung als zur Ökonomie der Verzweckung.»

Eindringlich reflektiert Bucher über die Bedingungen des heute kulturell dominant gewordenen Kapitalismus, da brauche es Religion als ein Gegengift gegen die schleichende Gnadenlosigkeit einer gewinnorientierten Verwaltung der Welt: «Vielleicht braucht man ja den Gottesbegriff vor allem, damit genau das möglich ist: ganz da zu sein und doch nicht aufzugehen in dem, was einen umgibt.»

 

Was die kirchlichen Gletscher zum Schmelzen bringt

«Verrat» und «Versprechen» sind Texte zur Kirchenkrise überschrieben. Der Missbrauchsskandal wurde offengelegt, weil «der Gletscher zurückwich, der ihn verdeckte, und mutige Menschen nicht den Blick wandten von dem, was sich da zeigte, ja mehr noch: nachbohrten und nachforschten, was da an die Oberfläche kam». Man könne diesen «Gletscher», so Bucher, unterschiedlich benennen, «Konstantinische Formation», «Pastoralmacht», «Säkularisierung» oder «Ende des katholischen Milieus», doch in entwickelten kapitalistischen Gesellschaften geraten Religionen und die Kirchen generell «unter den individuellen, situativen und jederzeit revidierbaren Zustimmungsvorbehalt ihrer eigenen Mitglieder. Dieser veritable innerkirchliche Herrschaftswechsel zwischen religiösem Individuum und kirchlicher Institution bringt die kirchlichen Gletscher zum Schmelzen: Nicht mehr die Religion beherrscht die Biographien, sondern biographische Bedürfnisse bestimmen die Nutzung von Religion […] Nach Kosmos und Gesellschaft ist nun auch der Körper der Katholiken und Katholikinnen ausserhalb der Reichweite klerikaler Definitionen […] Es scheint, dass damit überhaupt das Modell ‘Kirche’, wie es seit 1600 Jahren bestand und seit Trient immer steiler, weil immer defensiver realisiert wurde, an einem Kipppunkt seiner Geschichte angekommen ist. Die pastoraltheologische Frage in dieser Situation lautet: Wie kann die Kirche die Ernsthaftigkeit des Glaubens, seinen Ruf zur Umkehr darstellen, jenseits der Konstantinischen Formation, jenseits der Pastoralmacht, jenseits des katholischen Milieus und seiner familiaristischen Nachfolgekonzepte [wie die Gemeindekirche] und in grundlegend säkularisierten Zeiten, die den anderen die Hoheit über kirchliche Praktiken geben?»

Welches Versprechen müsste die Kirche heute, am Ende ihrer Herrschaft, im Angesicht ihrer Opfer, vor Gott aus ihrem Glauben heraus geben, fragt Rainer Bucher und erinnert, dass die katholische Kirche im Konzil mit der Pastoralkonstitution Gaudium et spes versprochen hat, ein «allumfassendes Sakrament des Heiles» zu sein, «welches das Geheimnis der Liebe Gottes zu den Menschen zugleich offenbart und verwirklicht» (Nr. 45). Ausbuchstabiert bedeute dieses Versprechen, «dass die anderen der Ort sind, an dem sich erweist, wer wir sind. Die anderen sind in allem, was sie sind, in ihrer Normalität und Nicht-Normalität, der Ort, an dem sich entscheidet, was Kirche ist. Sie erfahren Kirche oder erfahren sie gerade nicht als Zeichen und Werkzeug der Liebe Gottes.»

«Das Grosse bleibt gross nicht und klein nicht das Kleine», heisst es, gut jesuanisch, bei Brecht. 65-jährig verbindet der in Fundamentaltheologie promovierte Rainer Bucher damit die Hoffnung, dass das Erschrecken über den Missbrauchsskandal zum «erschreckten Erwachen» führe, «nicht länger verdrängen zu können, dass die anderen und nicht unsere religiösen Interessen und Befindlichkeiten die eigentliche Prüfstrecke des Christseins und der Kirche sind».

 

Rainer Bucher: Es ist nicht gleichgültig, an welchen Gott man glaubt. Theologisch-biographische Notizen. Echter: Würzburg 2022, 176 Seiten.