«Digital ist besser»

     

 

Die transformativen Prozesse durch die Digitalisierung finden nicht nur punktuell statt, sie umfassen alle Bereiche des Bildungssektors. Michael Hartlieb schreibt zur radikalen Transformation der Bildungsarbeit durch die Digitalisierung.

 

Teil 1 „Digital ist besser“

Wohl selten hat ein Album der jüngeren Popgeschichte einen solch prophetischen Titel gehabt wie das Erstlingswerk der Hamburger Band «Tocotronic». Erschienen ist «Digital ist besser» bereits im Jahr 1994 und damit zu einer Zeit, als die Alltagstechniken unserer volldigitalisierten Welt zwischen Smartphone und Zoom, zwischen Snapchat und Bitcoin noch dem Genre Science-Fiction zugeordnet wurden. Digitalität war, lange vor dem Platzen der Dot-Com-Blase im Jahre 2000 oder dem Aufstieg von Apple, Meta, Microsoft und Google zu den Herrschern über das Wissen, Wollen und Sehnen der Menschheit, noch ein echtes Heilsversprechen.

Wer Tocotronic kennt, weiss natürlich, dass der Titel bereits damals vollkommen ironisch gemeint war. Er konnte aber auch als Aufruf gelesen werden: Lasst Euch nicht von einer schönen Verpackung täuschen. Es ist eine Illusion zu glauben, dass der Fortschritt allein um des Fortschritts willen eine gute Sache ist. Glaubt keiner Technik, die ihren echten Nutzen noch nicht bewiesen hat.

 

Und heute, 28 Jahre später[1], zeigt sich, dass der Titel nichts von seiner prophetischen Interventionskraft verloren hat. Immer noch werden mit der Digitalisierung Heilsversprechen verbunden, immer noch viel zu selten wird die Frage nach der Art und Weise des Fortschritts gestellt, der in ihrem Schlepptau unser aller Leben fortwährend verändert. Dies liess sich in den vergangenen drei Jahren, während der Corona-Epidemie, besonders gut an den Debatten rund um den Bildungssektor verfolgen. Als nach dem ersten Lock-Down offensichtlich wurde, dass die Schulen vielerorts mit der Umstellung auf digitalen Unterricht heillos überfordert gewesen waren, überschlugen sich die Medien mit hämischen Kommentaren und weitreichenden Forderungen in Richtung der Bildungsdepartements. Die unausgesprochene Überzeugung und Logik vieler Artikel war: Digitalisierung ist gut, fortschrittlich und notwendig für die Arbeitswelt von morgen. Wenn unsere Bildungsanstalten bereits heute – während einer Pandemie, die doch alle Kräfte bündeln sollte – so kläglich in der Nutzung digitaler Werkzeuge versagen, dann ist dies doch ein deutliches Zeichen für den mangelnden Willen, die Segnungen der Digitalisierung zu erkennen und zu fördern. Natürlich gab es in dieser konfliktreichen Zeit auch relativierende Gegenstimmen; aber festzuhalten bleibt: Das Digitale wird (auch) im Bildungsbereich von einem gewissen Überlegenheitsnimbus umstrahlt, eine differenzierte Gesamtbeschau  dadurch sehr erschwert.

 

Sehr lohnenswert ist es deshalb, das Buch «4K und digitale Kompetenzen» zur Hand zu nehmen. Auf der Höhe aktueller Forschung rund um das Thema «Digitales Lehren und Lernen» richtet es sich an Leute aus der Praxis, die ihr Bildungshandeln reflektieren und Impulse für den digitalen Unterricht mitnehmen wollen.

Zu Beginn räumt dieses Buch ein grosses Missverständnis aus dem Weg, das sich im Blick auf Digitalisierung gebildet hat: Dass es schon ausreicht, eine irgendwie digitale Lernumgebung zu schaffen, um neue Formen des Lehrens und Lernens zu ermöglichen oder gar zu gewährleisten. Ganz im Gegenteil betont das Buch immer wieder, dass digitales Lehren und Lernen weit mehr erfordert als nur den Einsatz bestimmter Werkzeuge, Plattformen oder Kommunikationsmittel. Um es pointiert auszudrücken: Nur weil eine Person die Werkzeuge «Zoom», ein «Padlet» oder eine Lernplattform mit grosser Sicherheit bedienen kann, ist damit noch lange kein ausreichendes Fundament für ein fruchtbares digitales Lehr-/Lernsetting gegeben. Digitales Arbeiten eröffnet zunächst «nur» den Zugang zu neuen Werkzeugen – wie sich diese dann pädagogisch-didaktisch sinnvoll einsetzen lassen, das steht auf einem anderen Blatt.

 

Und hier kommt die eigentliche Perspektive des Buches ins Spiel. Digitale Bildung wird in diesem nämlich eng verknüpft mit dem 4K-Modell, das seinerseits eine konstruktive Antwort auf die vielfältigen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts in Beruf und Alltag sein will. 4K, das ist die Abkürzung für die vier Kernkompetenzen gegenwärtiger und künftiger Bildungs- und Arbeitswelten, nämlich Kritisches Denken, Kommunikation, Kooperation und Kreativität.[2] Wie man digitalen Unterricht plant und strukturiert, um zu diesen vier Kernkompetenzen zu befähigen, das ist das Anliegen dieses Buches.

 

Frappierend ist dabei, jetzt unabhängig von den Ausführungen des Buches zur Digitalität, wie gut das 4K-Modell zu den Bildungsherausforderungen passt, mit denen gerade auch die theologische Erwachsenenbildung konfrontiert ist. Ein Beispiel hierzu. Häufig ist in jener die Vorstellung zu vernehmen, dass die Teilnehmenden die Kompetenz zum «kritisch-reflexiven Denken» erwerben sollen; es bleibt aber oft unklar, auf welchem Weg dies gelingen soll. Die Teilnehmenden werden dann mit zweifellos hochinteressanten exegetischen Erkenntnissen aus den Bibelwissenschaften konfrontiert, in der Hoffnung, dass dies das kritische Denken anregen möge – aber dabei bleibt dann die individuelle Beschäftigung, ja doch die eigentliche Voraussetzung für den Beginn eines kritisch-reflexiven Denkprozesses, auf der Strecke. Im vorliegenden Buch eröffnet sich zu dieser Fragestellung auf nur zwei Seiten (30f.) ein assoziationsanregendes Panorama, das zum Weiterdenken anregt. Gleiches gilt für die Kompetenz «Kreativität», für die Formen möglicher Entwicklungsprozesse in kürzester Form und dennoch differenziert geschildert werden.

 

Wie das eigene pädagogische Handeln mit digitaler Unterstützung verantwortungsvoll weiterentwickelt werden kann und dabei die 4K berücksichtigt werden, das schildert praxisorientiert vor allem das Kapitel 5. Reflexionsanregend in Bezug auf den eigenen Unterricht und seine Weiterentwickeln ist insbesondere das SAMR-Modell, das ab S. 48 erläutert wird. Der Medieneinsatz im Unterricht wird mit seiner Hilfe als ein mehrstufiger Prozess analysierbar, der von der Substitution (Ersatz eines analogen Mediums durch ein digitales, ohne funktionale Verbesserung des Unterrichts) über Augmentation und Modification bis hin zur Redefinition (grundlegende Veränderung des Unterrichts durch digitale Tools) reicht.

 

Der zweite Teil dieses fünften Kapitels löst die von der Reihe in Anspruch genommene Praxisnähe ein: Eine Vielzahl von Beispielen zeigt Möglichkeiten auf, wie die 4K im Unterricht gestärkt und entwickelt werden können. Es geht um die sinnvolle Einrichtung digitaler Lernräume ebenso wie um die Erstellung von E-Portfolios oder von Lernvideos. Vieles hat man schon einmal irgendwo gelesen oder selbst ausprobiert, aber in dieser Fokussierung auf die Verknüpfung von Digitalität und der Förderung der genannten Kernkompetenzen ist das Buch sehr gelungen. Eine gewisse Quintessenz dieses Kapitels und damit des Buches insgesamt findet sich in Abschnitt 5.5:  Wir befinden uns heute in einer Situation, in der eine Rückkehr in frühere Formen der Bildungsgestaltung letztlich gar nicht mehr möglich ist. Zu eng ist unser aller Leben bereits mit digitalen Techniken verbunden, eine «sortenreine» Trennung von analoger und digitaler Welt praktisch ausgeschlossen. Von daher ist eine Verweigerungshaltung gegenüber dem Digitalen auch nicht angezeigt. Vielmehr müssen sich alle Bildungspersonen dazu aufgerufen sehen, die digitalen Werkzeuge didaktisch möglichst sinnvoll und auch extensiv einzusetzen, um nicht an der Realität vorbei zu unterrichten (S. 57).

 

Bei aller Freude an der Praxisorientierung dieses Büchleins dürfen die Schattenseiten nicht unerwähnt bleiben. Sprachlich ist es an mancher Stelle redundant, oft beginnen auch die Sinnabschnitte so unvermittelt, dass man sich den überleitenden Gedanken erst selbst zurechtlegen muss. An einigen Stellen entsteht zudem der Eindruck, dass mit Copy & Paste gearbeitet wurde – ein sorgfältigeres Lektorat hätte den Lese- und Lerngenuss noch einmal deutlich gesteigert.

 

Manfred Pfiffner, Saskia Sterel, Dominic Hassler: 4K und digitale Kompetenzen. Chancen und Herausforderungen, Reihe 4K kompakt, Bd. 1, Bern: hep 2021.

 

 

Teil 2 „Digitales besser“

Digitale Transformation als Chance – Digitale Transformation als Herausforderung: Diesem ambivalenten Doppel sehen sich heute viele (Weiter-)Bildungsanbieter ausgesetzt. Denn die digitale Transformation hat ja nicht nur Auswirkungen auf den konkreten Unterricht, sondern strahlt auf alle Bereiche des Bildungswesens aus. Die Strukturen auf Seiten der Anbieter, die Rahmenbedingungen des Bildungssystems inklusive der zertifizierten Qualitätsstandards, die Qualifikationsanforderungen des Bildungspersonals – sie alle sind vom Digitalisierungsschub der letzten Jahre betroffen. Die transformativen Prozess finden nicht punktuell statt, sondern umfassen alle Bereiche des Bildungssektors. Dies gerät im Alltag allerdings schnell in Vergessenheit, und so liegt für die Bildungsanbieter die Versuchung nahe, die digitale Transformation nur in einzelnen Bereichen voranzutreiben, während an anderer Stelle noch in alten Prozessen und Strukturen gedacht und gearbeitet wird – bis irgendwann die Reibungsverluste zwischen beiden Welten so gross werden, dass auch handfeste finanzielle Nachteile entstehen können.

 

Der Schweizerische Verband für Erwachsenenbildung (SVEB) hat aus diesem Grund ein äussert hilfreiches Analyse-Tool entwickelt, das auf seiner Website zur freien Verfügung steht.[3] Es richtet sich an Bildungsorganisationen, die sich mitten in der digitalen Transformation befinden und einerseits analysieren wollen, wie weit sie dabei in ihren unterschiedlichen Arbeitsbereichen bereits gekommen sind, und die andererseits überprüfen wollen, ob sie Digitalisierung wirklich als holistischen Prozess verstehen. Das Tool basiert auf dem europäischen DigiCompOrg-Modell und zeigt wie dieses keine direkten Handlungsoptionen auf. Es hält aber dazu an, die unterschiedlichen Kompetenzbereiche oder Prozesse des Arbeitsfeldes in den Blick zu nehmen und benennt in jenem die Orte, wo digitale Entwicklungsoptionen erwartet werden dürfen. So wird etwa durch das Tool viel Wert gelegt auf kooperative Beteiligung an den digitalen Transformationsprozessen, was sich exemplarisch an der Kompetenz 2.2 («Interne Akteurinnen und Akteure besitzen eine Teilautonomie bei der Einführung von digitalen Technologien») oder auch an der Kompetenz 3.1 («Es besteht ein gemeinsames Verständnis und Commitment für die digitale Transformation und deren Umsetzung») zeigt. Damit macht das Tool deutlich, dass Digitalisierung nicht nur als Prozess zu verstehen ist, der irgendwie mit technischer Ausstattung, sondern der auch viel mit aktuellen (Bildungs-)Management-Themen zu tun hat. Transparent wird damit aber auch vermittelt, dass digitale Transformation nicht top-down von der Leitungsebene nach unten verordnet werden kann, sondern tatsächlich die Bildungseinrichtung inklusive aller Mitarbeitenden und aller weiteren Stakeholder umfassen muss – wie exemplarisch Kompetenz 2.5 («Benachteiligung und Ungleichheit werden angegangen») zeigt. Auf den Weg der Digitalisierung müssen alle Menschen mitgenommen werden können, das ist eine Frage sozialer Gerechtigkeit und Fairness.

 

Aus dieser Kurzbeschreibung sollte klar geworden sein, dass sich das Analyse-Tool keineswegs nur an die «Entscheider:innen» in Bildungseinrichtungen richtet, sondern vielmehr an letztlich alle Stakeholder, die in einer Bildungseinrichtung arbeiten, von ihr profitieren oder sie in irgendeiner Weise steuern. Denn: Die digitale Transformation ist ein so umfassender Prozess, dass es auf jede und jeden ankommt, der dabei mitdenken und mitgestalten kann und will.

 

[1] Tocotronic gibt es übrigens immer noch, gerade sind sie wieder vollanalog auf Tour unterwegs …

[2] Zu diesem Modell gibt es übrigens vom hep-Verlag eine eigenständige und wesentlich umfangreichere Veröffentlichung, für einen ersten Einblick reichen die Ausführungen des vorliegenden Buches aber vollkommen.

[3] Siehe unter: https://alice.ch/app/uploads/2022/11/DE_Analysetool_Digitale_Transformation.pdf [Letzter Aufruf am 5.12.2022].