Eine radikale Theologie des Unbedingten

     

 

Auf verschlungenen Wegen ist Michael Hartlieb dem inzwischen ins Deutsche übersetzten Buch des US-amerikanischen Autor John D. Caputo „Die Torheit Gottes. Eine radikale Theologie des Unbedingten“ wiederbegegnet und hat es mit grossem Gewinn gelesen.

 

Es gibt Autoren oder Bücher, die verfolgen einen über Jahre. Immer wieder werden sie erwähnt oder empfohlen, aber die letzte Motivation zum vertieften Kennenlernen oder zur Lektüre mag sich nicht einstellen. Wie gross ist dann der Frust, wenn es endlich doch zum «Showdown» kommt – und sich herausstellt, dass man das Buch lieber schon fünf Jahre früher gelesen hätte … Ein solcher ist persönlich für mich «Die Torheit Gottes» von John D. Caputo, einem US-amerikanischen Theologen und Religionsphilosophen. Erstkontakt hatte ich mit dem Autor vor einigen Jahren bei einer Akademietagung, als ihn der Pastoraltheologe Michael Schüssler als hochinteressanten Denker vorstellte, der die grossen «kontinentalen» Strömungen des 20. Jahrhunderts – Phänomenologie, Hermeneutik und Dekonstruktion – für eine «radikale» Theologie fruchtbar macht. Dazu gleich mehr. Dann stiess ich bei der Recherche zu einem anderen Buch zufällig auf eine Beschreibung, wie «Die Torheit Gottes» ihren Weg in den deutschen Sprachraum gefunden hatte (bis heute sind nur wenige Bücher von Caputo übersetzt): Als Übersetzungsprojekt einiger Seelsorgepersonen aus Deutschland während der Corona-Zeit, auf das dann auch Caputo selbst mit grosser Begeisterung reagiert. Verschlungene Wege fürwahr – und Wege, die mich endlich dazu motivierten, das schmale Büchlein selbst zur Hand zu nehmen.

Bereits das Inhaltsverzeichnis lässt aufhorchen, zumal wenn man selbst Theolog:in ist: «Theologie beginnt mit Atheismus». Huch, was ist denn damit gefordert? An gleicher Stelle wird sogar zu einer «Theologie des Vielleicht» aufgerufen – um damit sicher einige zu verwirren, die von theologischen Fachvertretern äusserst meinungsstarke Positionen zur je eigenen Theologie gewohnt sind.

 

Was also hat dieses Buch für ein Anliegen?

Als Vertreter der sog. «schwachen» oder «radikalen» Theologie möchte Caputo mit der Hilfe der philosophischen Methoden Jacques Derridas zunächst einmal die aufgeblähten und herrschaftlichen kirchlichen Vorstellungen, die mit dem Begriff «Gott» oder «Reich Gottes» verknüpft sind, auf ihre Wurzel (lateinisch «radix», daher «radikale» Theologie) dekonstruieren. «Dekonstruktion» klingt in mitteleuropäischen Ohren ähnlich wie «Destruktion», Caputo legt jedoch grossen Wert darauf, dass es ihm gerade nicht um Zerstörung geht sondern um die Eröffnung neuer Zugängen zum Christentum für denkende Menschen der Gegenwart.  Im Vorwort bzw. in den ersten Kapiteln seines Buches zeigt er deshalb auf, auf wie problematische Weise die «hohe Theologie» christliche Begriffe und Vorstellungen gekapert hat. Gott ist oft genug immer noch der Mächtige mit zahlreichen Attributen der Macht, der am Ende der Zeiten seinen präexistenten Sohn Jesus Christus als Weltenrichter mit dem Schwert auftreten lässt. Gott und Vorstellungen wie das «Reich Gottes» werden dadurch, so der Vorwurf Caputos, von der Theologie auf ein irgendwie bestehendes «Sein» festgelegt, mit dem gerechnet und das berechnet werden kann. Gott wird dadurch selbst Verfügungsmasse der Theologie, wird leicht zum Herrschaftsinstrument und dadurch unglaubwürdig.

 

Gottesvorstellungen entsprachlichen

Caputo plädiert im Gegensatz dazu, Gottesvorstellungen zu entsprachlichen, zu entattributieren und sie als Chiffre für das «Unbedingte» des Daseins, unseres Daseins zu begreifen. Vom «höchsten Wesen» der «hohen Theologie» neuplatonischer Prägung wird Gott (hier kommt das atheistische Moment aus dem Inhaltsverzeichnis in Spiel) in Caputos Denken zu einem «schwachen Vielleicht». Schwaches Vielleicht, das lässt an den Agnostizismus denken. Es gehört zu den Stärken des Buches, das solche potenziellen Missverständnisse von Caputo konsequent thematisiert werden. Nein das «schwache Vielleicht» ist eng verknüpft mit Caputos Vorschlag, wie wir heute auf angemessene Weise von Gott denken können: Gott wird dabei zu einem «Ereignis, das uns bedrängt, für andere öffnet und verändert.» Ein Ereignis ist etwas, das sich nicht kontrollieren, nicht einhegen, nicht unterdrücken lässt – im Gegensatz zu Begriffen wie «Gott» oder «Reich Gottes», deren Verständnishorizont mindestens ein Stück weit kontrolliert werden kann. Um mit Michael Schüssler im Nachwort zu sagen: «Das Ereignis Gottes kann letztlich nicht in ein Bekenntnis oder eine Glaubensformel eingesperrt werden.» (S. 164).

Nun lässt sich fragen, was denn ein solches Verständnis für die Kirchen bedeutet. Lassen wir Caputo kurz selbst zu Wort kommen: «Die kurz gefasste Antwort lautet, dass die Kirchen das Unbedingte [im Sinne dessen, woran wir üblicherweise denken, wenn wir «Gott» sagen, M.H.] enthalten und dass es dort eine Quelle heilsamer Unruhe ist, die kreativ durcheinanderbringt – oder so sollte es zumindest sein.» (S. 17). In gleicher Weise ist es auch nicht das Anliegen Caputos, die Fundamente und Traditionen des christlichen Glaubens – Bibel, Glaubenssätze, Frömmigkeitspraxen usw. – einfach so über Bord zu werden. Sie sind vielmehr als «Theopoesie» neu zu entdecken und zu erschliessen, also als menschliche Annäherungen an das Unbedingte und die Ereignisse, die jenes in vergangenen Leben und in unseren heute gezeitigt hat und weiterhin zeitigt.

 

Natürlich dürfen auch kritische Anfragen an das Buch erlaubt sein. Christlicher Glaube lebt nicht zuletzt aus der Erfahrung des (dauerhaften) Angesprochen-seins durch Gott, das «Du», das in eine Beziehung münden kann. Wie passt das zum vorgeschlagenen Ereignischarakter Gottes? Wie verhält sich dieser überhaupt zum konkreten Befreiungshandeln, das ja eine Zentralperspektive der Bibel ausmacht? «Schuldet» Gott seiner leidgeprüften Schöpfung nicht in gewisser Weise Gerechtigkeit im «Reich Gottes»? Doch halt: Tappt dieser Gedanke nicht schon wieder genau in die Gottes-Falle, die Caputo so eingängig beschreibt: Dass wir recht infantil Gott mit Aufgaben beladen, die wir selbst lösen sollten?

 

An diesen Fragen wird deutlich, wie anregend die Lektüre dieses Büchleins ist. Gerichtet ist es übrigens an eine breite Leserschaft. Wo mehr Fachwissen notwendig ist – zum Beispiel hinsichtlich der Analyse-Methoden Jacques Derridas- steuert dieses Caputo mit einer gewissen Freude an trockenem Humor bei. Der – für eine deutschsprachige Leserschaft – sehr untheologische Schreibstil ist Offenbarung und Bürde zugleich. Offenbarung, weil durch die lockere US-Hochschulsprache oft ungeahnte Assoziationen möglich werden – Bürde, weil nicht jeder Witz zündet und man schon irgendwann verstanden hat, welches Probleme Caputo mit bestimmten Protagonisten aus Theologie und Kirche hat. Trotzdem: Dieses Buch ist uneingeschränkt empfehlenswert für alle, die sich auf eine Theologie mit Wagnischarakter einlassen wollen.

 

Caputo, John D., Die Torheit Gottes. Eine radikale Theologie des Unbedingten, 2. Auflage, Ostfildern: Matthias Grünewald 2022, 167 Seiten.