Dem Kopfautomaten den Stecker ziehen

     

Die Gedichte von Marianne Vogel Kopp laden ein zu achtsamer Selbstbegegnung und kontemplativem Beten. Ihre lyrischen Meditationen ermutigen zu eigenständiger religiöser Erfahrung und bieten inspirierende Wegmarken einer zeitgemässen Spiritualität, findet Christoph Gellner.

 

kein wunder

fliehen viele

die in die stille gehen

zurück ins getriebe

 

sie erschrecken

über den tumult

der losbricht

im bewussten schweigen

 

nicht zum aushalten

die argen erinnerungen

die ungeklärten emotionen

das heulende selbstmitleid

 

völlig aussichtslos

hier leise warten

nichts als beobachten

kommen und gehen lassen

 

zweifel überfluten

wogen von gegenwehr

erfinderisch die ausflüchte

 

das wird nie was

nichts wie weg

 

Die in Spiez lebende, freiberuflich vorwiegend als Seminarleiterin für Enneagramm tätige reformierte Theologin Marianne Vogel Kopp (*1959) hat ihre neue Sammlung von spirituellen Gedichten als Übungsweg in sechs Schritten angelegt: «Neue Denkräume ertasten», «Meinen Innenraum gewahren», «Schattenräume erkunden», «Den Herzraum überlassen», «Im Zwischenraum wirken», «Ganz da sein». Ihre Schreibarbeit ist unverkennbar weniger poetisch als vielmehr spirituell motiviert, erkennbar werden Innensichten eines persönlichen Erfahrungswegs, der die schmerzhafte Konfrontation mit eigenen Dunkelzonen nicht ausblendet, ja, in deutlich heutiger Sprache zu einer «gründlichen und furchtlosen Inventur in unserem Inneren» ermutigt.

In der Tradition christlicher Mystik aktualisiert der folgende lyrische Text gleich zwei Grundgedanken Meister Eckharts: gegen alle religiösen Bemühungen, Gott handhabbar zu machen, betonte der mittelalterliche Lebemeister, dass wahre Frömmigkeit auch noch ‘Gottes ledig’ werden müsse. Dass wir alle unzulänglichen Vorstellungen und Bilder von Gott – den besessenen Götzen, den man unter die Bank schieben kann – um Gottes willen lassen, Gott Gott sein und wirken lassen – damit wir Menschen immer mehr sein Ebenbild (Gen 1, 26f.) werden. Insofern ist Eckhart Urheber des Begriffs «Bildung» in dem ursprünglich hohen Sinn, dass Gott in uns und wir in ihn hineingebildet werden:

 

ich weiss nur

dass ich dich

nicht fasse

gott

 

du bist nicht ewige

du bist nicht schöpfergeist

nicht gnädiger

du bist nicht brunnquell

nicht allweise

du bist nicht himmlischer

nicht machtvolle

noch friedefürst

 

erst wenn ich

dich lasse

herauslasse

aus meiner sprache

aus meinen bildern

bildest du dich mir ein

wirst du in mir bild

erwach ich

sprachlos

als dein ebenbild

 

In grosser spiritueller Offenheit sind den sechs «Gedankenräumen» erfahrungsnahe, praxisbezogene Zitate zeitgenössischer spiritueller Lehrer:innen wie Thomas Merton, Jorge Bucay, Thomas Keating, Richard Rohr, Katharina Ceming und Annette Kaiser vorangestellt. Meister Eckhart und Angelus Silesius folgend umkreisen Marianne Vogel Kopps spirituelle Gedichte als Zielvision die «leichtigkeit / ‘sunder warumbe’ [=ohne Warum, grundlos] zu leben / unbekümmert / gelassen und frei / sorglos und leicht / ruhig und freudig / abgelegt / alles eigeninteresse», ja, «ohne grund / einfach so»:

 

weniger

wird

mehr

 

reduktion

schafft

glück

 

stille

klingt

wie musik

 

weggeben

weggehen

weglassen

 

reduzieren

minimieren

fokussieren

 

die perle

bleibt

 

einfach

leben

 

Marianne Vogel Kopp: dem heiligen lauschen. Gedichte aus der Stille. TVZ: Zürich 2022, 118. S.