Dank an die religiös Indifferenten

     

 

Wer sind sie: die Menschen, die nicht in die Alternative von gläubig oder nicht-gläubig passen? Die sich fern halten von kirchlichen Institutionen und ihren Glaubenssystemen? Der frühere Bischof von Poitiers ist bei den «religiös Uninteressierten» in die Schule gegangen. Das Resultat? Ein Blickwechsel, den Christoph Gellner inspirierend findet.

 

In Meinungsumfragen muss man meist mit Ja oder Nein antworten. Diejenigen, die weder «dafür» noch «dagegen» sind, sondern «anderswo», werden rasch als Parteigänger oder noch nicht erklärte Gegner behandelt. Doch Albert Jean-Marie Rouet weiss um die Unzulänglichkeit solcher Schablonen, gerade auch in religiös-spiritueller Hinsicht: «Das spirituelle Leben und die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft sind mittlerweile zwei voneinander getrennte Dinge, und beide gehen in letzter Instanz aus der souveränen Entscheidung des oder der Einzelnen hervor.»

 

Ohne Karte losgehen

Der emeritierte Erzbischof von Poitiers (Frankreich) will bewusst «ohne Karte» aufbrechen, um diese neue Welt jenseits der vorgefassten Kategorien von Gläubigen und Ungläubigen zu erkunden: «Indifferenz geht nicht notwendig mit plattem Materialismus einher. Sie bewahrt sich eine Offenheit für ein Über-sich-selbst-Hinaus und einen Ruf. Doch dieser Ruf richtet sich an keine etablierte Religion. Er richtet sich an etwas ausserhalb oder neben ihnen», beschreibt er empathisch die religiös Indifferenten – «Uninteressierte» nennt sie der der deutschsprachigen Übersetzung des 2013 im französischen Original erschienenen Buchs hinzugefügte Untertitel.

Eberhard Tiefensee lobte Rouets selbstkritisch-konstruktiven Essay als «eine starke Anfrage an das bisherige kirchlich-missionarische Agieren». Kaum zufällig erinnert der Alt-Bischof daran, dass «Dialog im Sinne des Konzils» nicht nur Begegnung und Austausch meint, sondern einen Übergang, der eine selbst-missionierende Veränderung in den Blick nimmt: «Wer sich auf den anderen einlässt, wird sich seiner selbst lebendiger bewusst». Dialog erwächst aus einer «Selbsthingabe, die sich den Überraschungen aussetzt, die mit dem Anderssein des anderen verbunden sind.» Schon der Buchtitel [frz. L’etonnement ce croire, wörtlich: Das Staunen zu glauben] ist Programm: «Blickwechsel und Umkehr zum Leben, dank ‘der Anderen’» (Gotthard Fuchs).

 

Eine Anfrage an das bisherige kirchlich-missionarische Agieren

«Es geht nicht darum, den Glauben vorzuschlagen, sondern mit diesen Menschen einen Glauben zu entdecken, der uns allen vorausliegt», setzt sich Rouet kritisch vom Brief seiner Mitbischöfe an die Katholiken Frankreichs «Proposer la foi dans la société actuelle» (1996) ab. Religiöse Indifferenz betrachtet Rouet als Spezialfall jener Indifferenz, die ein Charakteristikum des «postmodernen» Menschen in seinem (Über-) Lebenskampf sei. Sie resultiere aus den heutigen Lebensbedingungen, sei eine Reaktion auf die Fragmentierung der individualistisch-pluralistischen Konsumgesellschaft.

Von daher versteht Rouet Indifferenz als Schutzwall, als eine Vorsicht, die eine Person vor Zwängen von aussen bewahrt und vor Vorschriften, die sie nicht mitentschieden hat. Aus dem Selbstschutz kann auch «Rückzug in die Gefühllosigkeit» oder aggressive Verteidigung des Privatbereichs werden. Gleichzeitig bewahre sich diese Indifferenz «eine spirituelle Dimension, erkennbar an spontaner Grosszügigkeit, in dem Wunsch nach einem intensiven Privatleben und, erstaunlicherweise, im Empfinden einer Leere, der eigenen Winzigkeit, des eigenen ‘Nichts’». Unter dem Phänomen der Indifferenz verbergen sich existentielle Fragen, die jedoch nicht in die «grossen» Fragen (etwa nach dem «Sinn des Lebens») münden, sondern auf die individuelle Alltagsexistenz ausgerichtet bleiben.

 

Es braucht eine neue Einstellung

Indifferenz werde meist wie ein Symptom behandelt wird, nicht wie eine Frage. In dieser Sichtweise ortet Rouet mehrere Unzulänglichkeiten hergebrachter kirchlicher Verkündigung:

«Die erste Unzulänglichkeit besteht darin zu meinen, der Sinn erwüchse aus der Antwort – und nicht aus der Frage.»

«Die zweite Unzulänglichkeit besteht in der Meinung, eine gute Vermittlung von Kenntnissen über die Religion würde genügen, um Geschmack daran zu bekommen, zu leben und zu glauben.»

«Die dritte Unzulänglichkeit betrifft den Blick, den die Kirche auf die Personen richtet. Allzu oft noch hockt sie beleidigt auf dem Aventin, von dem aus sie urteilt, bevor sie Anteil nimmt, mit-lebt, sich Freude und Trauer zu eigen macht […] Die Aufmerksamkeit für das ganze Leben der Menschen, verbunden mit der Zuwendung zu dem, was es im Innersten ausmacht, braucht eine neue Einstellung», die weniger institutionell, stärker auf die Sorge jedes Einzelnen ausgerichtet ist.

 

Wie gelingt mein Leben?

Durch ihre massive Präsenz sei die Indifferenz eine Anfrage an den Glauben: «Es gilt herauszufinden, warum er kein Begehren (désir) mehr auslöst.» Indifferenz bildet so etwas wie eine schützende Tonschicht zwischen Oberflächen-Pragmatismus und dem verborgenen Wunsch nach gelingendem Leben, der in der Tiefe unentdeckt bleibt: «Es geht um nichts weniger als das, was einen Menschen lebendig macht, mithin seinen Elan, sein Verlangen». Dass Menschen Vertrauen aufbringen, um ihr Leben zu führen, Vertrauen auf Werte, auf die Liebe, ist gar nicht selbstverständlich. Rouet nennt solches Lebensvertrauen «’ersten Glauben’. Er ist das Erdreich, in dem sich der religiöse Glaube verwurzeln kann. Denn der erste Glaube öffnet der einzelnen Person einen Horizont, der sie weitet und über sich selbst hinausführt.»

Oft höre man, wie den Indifferenten der Vorwurf gemacht wird, sie interessierten sich nicht für die wesentlichen Fragen, begnügten sich also mit einer oberflächlichen und banalen Existenz. Doch ist es nicht wesentlich, fragt Rouet zurück, sich um das zu sorgen, was der Existenz eine konkrete und dauerhafte Anerkennung verschafft? Ein Mensch wisse recht gut, was in ihm pocht: das Verlangen zu existieren, anerkannt zu werden in seinem Einzigsein.

Schon der Theologe Pseudo-Dionysius, der eine Synthese aus Platon und christlichem Glauben anstrebte, wusste: «Selbst ein Mensch, der nach dem schlechtesten Leben strebt, begehrt doch überhaupt nach Leben, und zwar dem, das ihm als bestes erscheint, und deshalb hat er Anteil am Guten, sofern er da Streben selbst hat, Leben erstrebt, und zwar ein bestes Leben beabsichtigt.»

 

Erstaunter Glaube

Das berührt sich eng mit dem, was der Pariser Jesuitentheologe Christoph Theobald «Lebensglaube» nennt. Im Zeichen einer «Leben zeugenden Pastoral» (Pastoral d’engendrement), deren Vorbild Jesu absichtslose Gastfreundschaft und Zuwendung zu den Menschen ist, denen er begegnete und sagte: «Dein (!) Glaube hat Dich gerettet» (Lk 17,19), fordert Theobald, den pastoralen Scheinwerfer auf diesen elementaren Lebensglauben eines jedes Menschen auszurichten. Darauf, wie Menschen ihren Glauben an das Leben finden, Vertrauen ins Leben investieren, ja, ihrem Leben Kredit geben.

Haben wir uns schon einmal gefragt, weshalb Jesus so grossen Wert darauf legt, dass die von ihm Geheilten selbst die ersten Schritte in ihrer neuen Verantwortung für ihr Leben tun, fragt Rouet und gibt selbst die Antwort: Jesus bindet sie nicht an sich, vielmehr glaubt er an sie, gibt sie frei und ermächtigt sie, in Freiheit ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Damit zielt er über das hinaus, was sie in sich selber verschliesst. «Auf diese Weise schenkt Jesus ihnen Hoffnung durch das Vertrauen, das er ihnen bekundet. Er gibt sie sich selbst zurück, macht die Schicht, mit der sie sich schützen, durchlässig und berührt ihr Herz.» Nur so, von innen her, ist die Öffnung der Indifferenz möglich.

Wie gelangt man vom ‘ersten Glauben’ zu einem christlichen Glauben? Nur durch Vertrauen und ein respektvolles Lernen vom Anderen, ja, eine Haltung der Geschwisterlichkeit («auf Augenhöhe») und der Geduld. Was voraussetzt, sich denen gegenüber, die sich indifferent nennen, nicht indifferent zu zeigen. «Erinnern wir uns», beschliesst Rouet seine der deutschsprachigen Ausgabe hinzugefügte Relecture seines Buchs acht Jahre nach der Publikation des französischen Originals, «an den ersten Satz, den Jesus zu seinen Jüngern sagt, die keine besondere Bildung mitbrachten: ‘Ich werde euch zu Menschenfischern machen.’ (Mt 4,19) Er geht von ihrem Menschsein und von ihrer alltäglichen Arbeit aus. Angesichts der Indifferenz scheint mir das interessant zu sein.»

 

Albert Rouet: Erstaunter Glaube. Dank an die religiös Uninteressierten, hg. v. Hadwig Ana Maria Müller und Reinhard Feiter, Matthias Grünewald Verlag: Ostfildern 22023, 143 S.