Bodies of Memory and Grace. Der Körper in den Erinnerungskulturen des Christentums

     

 

Bereits das Cover des Buches verweist auf einen faszinierenden und ungewöhnlichen transdisziplinären Zugang zum Thema «Körper, Religion und Gedächtnis». Beleuchtet wird die Rolle des Körpers, besonders in der Performanz des religiösen Gedächtnisses, aber auch grundsätzlich in der Betrachtung der Verkörperung der Heilsereignisse im Christentum. Durch dieses Buch werden Räume für «anders bilden» eröffnet, findet Dorothee Foitzik.

 

Am Ursprung des Christentums stehen nicht Texte, sondern der nackte Leib. Die zentralen Heilsereignisse des Christentums sind, so die These der Autorin, elementare Körperereignisse und künden vom Vollzug des Heils im Fleisch und vom Heilwerden des Fleisches. Die Spurensuche bringt faszinierendes, zum Teil auch verstörendes ans Licht. Denn die Autorin schafft Bezüge zwischen den Körper- und Bildwelten christlicher Frömmigkeit und heutigen körperbezogenen Inszenierungen in Kunst und Gesellschaft. Mit der Inszenierung von Erinnerung (body of memory) wird zugleich das Heil (body of grace) vergegenwärtigt, welches den Menschen durch das Leiden Jesu Christi zuteilwurde und -wird.

 

Ein Teil des Buches ist der Frage gewidmet, wie das Leiden und Sterben Jesu inszeniert und erinnert wurde und wird. Wie haben gläubige Menschen die Passion Jesu an und in ihren Körpern erinnert? Das Buch bietet eine Fülle an ikonografischem Material und Erzählungen. Der Rückgriff auf hoch- und spätmittelalterliche Praktiken und ihre Fortführung oder Wiederaufnahme im 19. Jahrhundert sowie die Transposition in die Gegenwart zeigen faszinierende, aber auch verstörende Wege der Erinnerung und die Verkörperung der Passion an den Körpern von Gläubigen (Stigmata, Selbstgeisselungen). Es gibt beispielsweise Einblick in die Geschichte der Bruderschaften der Geisseler und beleuchtet neben der Motivation zur Selbstgeisselung die Bedeutung der Geisselung im öffentlichen Raum für die kollektive Reinigung und Busse.

 

Die interessierte Leserin erhält eine bildreiche und mehrsinnige Einführung in die Praxis der Prozessionen vom Mittelalter bis zur Neuzeit. In der Prozessionskultur zur Performanz des Passionsgeschehens, wie sie in den spanischsprachigen Ländern vielerorts bis zum heutigen Tag in der Karwoche, der Semana Santa, oder im Falle Mexikos auch zur Erntezeit gepflegt wird, werden diejenigen, die die Heiligenfiguren tragen, zu einem Körper, der das Passionsgeschehen erinnert und zugleich aktualisiert. Die zuschauenden Gläubigen verschmelzen durch den Mitvollzug in Gebeten und Gesängen, welche die Prozessionen begleiten, mit den Darstellenden zu einem (Klang-)Körper.

Die Autorin setzt Verkörperungen des Heils aus der Geschichte des Christentums in Beziehung zu modernen Kunstwerken und kann so zeigen, wie in Gemälden von Frida Kahlo, in Performances von Marina Abramovic oder in Skulpturen von Alfred Hrdlicka christliche Motive fortgeschrieben, adaptiert und transponiert werden. Ein besonderes Augenmerk legt die Autorin auf die jeweiligen Bedeutungszuschreibungen von Geschlecht im Sinne von Gender.

 

Gaby – ein erinnerungskulturelles Lehrstück

Das Kunstwerk «Gaby» (siehe Buchcover) ist gemäss der Autorin ein erinnerungskulturelles «Lehrstück» für die Selbstermächtigung der LGTB- und Transgender-Community im Innenraum des Christentums. Die Fotografen Andrew Mroczek und Juan José Barboza-Gubo haben Gaby und andere Transgender-Personen im heutigen Peru fotografiert. Die Bilder sind in Anlehnung an mittelalterliche Abbildungen mit den so genannten «arma christi», den Marterwerkzeugen, inszeniert. Über der Aktivistin Gaby schwebt eine überdimensionale Dornenkrone, ihr weisser Büstenhalter nimmt die Symbolik der «Reinheit» auf. Die dargestellten Frauen verkörpern einerseits das Leiden, das sie angesichts ihrer Diskriminierung durch die Mehrheit der peruanischen Gesellschaft durchleben, zugleich verweisen sie auf ihre Selbstverortung in der christlichen, hier der katholischen, Gemeinschaft der Gläubigen.

Der Serie gaben die Fotografen den Namen «Viergenes de la puerta», sie beziehen sich damit auf die Aneignung und aktualisierende Verkörperung der Passions-Gedächtniskultur. Denn es wird auf die Identifikation mit einer die Frauen stärkenden Erzählung verwiesen. Bei der «Virgen de la Puerta» handelt es sich um eine Marien-Figur, die der Legende nach im 17. Jahrhundert in der peruanischen Stadt Otuzco im Stadttor aufgestellt worden war – zur Abwehr gegen Piraten, die die Stadt zu verwüsten drohten. Die Schutzheilige «Virgen de la Puerta» wird am 15. Dezember durch die Stadt getragen, analog zu den Prozessionen mit den Heiligenfiguren der Passionsgeschichte in der Semana Santa, begleitet von Musikgruppen und zahlreichen Gläubigen. Einer anderen Erzählung zufolge wurde die Verantwortung für die Figur «Virgen de la Puerta» später ausdrücklich den diskriminierten Transgender-Frauen in Lima anvertraut. Dies geschah durch einen Priester, der eine Heiligenfigur und den zugehörigen Kult in die Hauptstadt gebracht haben soll.

 

Praktiken der Erinnerungskultur, die der Volksfrömmigkeit zugerechnet werden können, bergen hier grosse Kraft für von der Mehrheitsgesellschaft diskriminierte Menschen. In der aktualisierten Tradition der andinen Stadt verbinden die Nachkommen der «Virgenes de la Puerta» ihr Leiden unter der Homophobie in der peruanischen Gesellschaft mit ihrer Kraft und ihrem wachsenden Selbstbewusstsein. Im Polen des 21. Jahrhunderts versammelten sich Aktivist:innen der LGTB- und Transgender-Community hinter der Ikone der Muttergottes von Tschenstochau, deren Heiligenschein nun aber in den Regenbogenfarben leuchtet. Menschen erobern sich durch solche Handlungen den Platz in der (kirchlichen) Gemeinschaft zurück.

 

Das faszinierende Buch mit seinem transdisziplinären Zugang erörtert zugleich den kritischen, häufig auch politischen, Dialog zeitgenössischer Verkörperungen und Praktiken der Erinnerungskultur mit zeitgenössischen Kunstwerken. Dadurch werden Räume für «anders bilden» eröffnet, wie dies im Sammelband «Anders Bilden Kirche» in den Beiträgen von Judith Könemann (Religiöse Bildung und «Körper») postuliert und von Andrea Meier (Wenn Kunst und Kirche von- und miteinander lernen. Reflexionen aus der «offenen kirche bern») konturiert wird.

Dorothee Foitzik Eschmann

 

Elke Pahud de Mortanges. Bodies of Memory and Grace. Der Körper in den Erinnerungskulturen des Christentums, Zürich TVZ, 2022