Beim Leben in die Lehre gehen

     

 

Eine Weisheitstheologie für das 21. Jahrhundert macht Klaas Huizing in seinem unkonventionellen Grossentwurf christlicher Dogmatik stark: eine «Lebenslehre», resonant für das aktuelle Lebensgefühl heutiger Menschen. Ein anregender und heraufordernder Neuansatz, findet Christoph Gellner.

 

Klaas Huizing, evangelischer Theologe in Würzburg, der auch mit Belletristik wie dem Jesusroman «Mein Süsskind» oder einer kleinen Kunstgeschichte christlicher Gesten «Handfestes Christentum» hervorgetreten ist, legt eine innovative Gesamtdarstellung systematischer Theologie vor, die die biblische Weisheitstheologie für eine Neubestimmung der christlichen Rede von Gott fortschreibt.

Mit Aleida Assmann versteht er Weisheit als «Wissen um ein gelingendes Leben, eine Ars vivendi und moriendi (=Kunst des Lebens und Sterbens) unter den Bedingungen menschlicher Unvollkommenheit und Gebrechlichkeit. Wissen und Handeln sind deshalb untrennbar verbunden.» Indem sich Weisheit der «Imagination» und «Fiktion» bedient, macht sie «neue Spielräume, neue Chancen sichtbar» und trägt so zur Veränderung des Bestehenden bei, besitzt also innovatives, kreatives Potential.

 

Beim Leben in die Lehre zu gehen bedeutet, es zuerst zu bejahen

Wie schon im AT steht in Huizings weisheitlicher Lebenslehre die Leibgebundenheit des Menschen im Zentrum, dazu gehören Kreativität und Lebendigkeit im Sinne von Resonanzfähigkeit bzw. -offenheit, Freude und Genuss. Schöpfungstheologie und theologische Anthropologie bilden denn auch den Schwerpunkt von Huizings leibsensibler, genussfreudiger Theologie, die die Liebe zum Leben feiert. Ausdrücklich lädt er ein: «Werden Sie ein andächtiger Geniesser. Finden Sie Ihren Platz und ihre eigene Lebensform in einer resonanten Welt!»

Biblischer Schlüsseltext ist für Huizing das bildkräftige Weisheit-Gedicht von Spr 8,22-31, ein Stück Dichtertheologie par excellence: Uranfänglich hat Gott als Anfang seiner Werke die Frau Weisheit gewebt, die ihn spielend, tanzend und scherzend zum kreativen Schöpfungshandeln animiert. Mit den Augen von Spr 8, so Huizing, «lesen wir die Welt als Nahrung und Wohnstätte, die Genuss und Geschmack macht. Lebendigkeit, Kreativität, Entwicklungspotential sind das Webmuster der Welt. Ein ganz neues Bildprogramm.»

Ethisch gewendet bedeutet dies: Genuss stärkt die Kräfte des Bewahrens der Grosszügigkeit der Schöpfung und macht zugleich sensibel für das Leiden der Kreatur. Wie kommt es zur Weltliebe, zu einem neuen Verhältnis zur Tier-, Pflanzen- und Umwelt? Huizing ist überzeugt: «Erzählte, szenisch stark gebaute Geschichten, Theopoesien, ermuntern stärker dazu, unsere Weltwohnung auch für spätere Generationen zu schützen als kluge Manifeste. Weil diese Erzählungen Szenen vor Augen malen, in die sie leiblich eingebunden werden, erfahren sie die Weltliebe atmosphärisch dicht.»

Weisheitliche Gottesfurcht, betont Huizing, darf nicht als autoritäre Gehorsamsforderung, sondern muss als wohlwollende Ermutigung zur Klugheit und zum Kampf gegen das Böse gelesen werden. Die Weisheit ist nicht nur Schöpfungsmittlerin, sie hat innerweltlich auch einen Lehrauftrag, um über die Ambivalenzen der Lebenswelt (trotz und auch wegen der erfahrbaren Kreativität, Lebendigkeit und Entwicklungsfähigkeit) aufzuklären, für einen weisheitlichen Lebensvollzug zu werben und zugleich das Böse zu hassen, indem sie Handlungen, die das Gemeinwohl aus dem Fokus verlieren, Lügen öffentlich anzeigt und durch Überzeugungsarbeit für Alternativen wirbt.

 

Zurück zum Leib!

Zeit- und kultursensibel entfaltet Huizing die grossen Themen christlichen Glaubens im Gespräch mit zeitgenössischer Literatur und bildender Kunst sowie im ständigen Bezug zur Leibphänomenologie des Philosophen Hermann Schmitz, der in grosser Nähe und Sympathie zum Religionswissenschaftler Rudolf Otto steht und die Erfahrung des Heiligen als eigentümliche Atmosphäre der leiblichen Betroffenheit qualifiziert – mit seinem neuen Alphabet der Leiblichkeit wollte Schmitz, so Huizing, nichts weniger als den Menschen ihr wirkliches Leben begreiflich machen.

Als Pointe seiner Lebenslehre streicht Huizing heraus: «Der Leib ist das Urmedium der Resonanz und Ausgangspunkt für unsere Wahrnehmung, unser Spüren, unser Erleben. Ich lerne mich überhaupt erst kennen durch leibliche Betroffenheit. Es ist das leibliche In-der-Welt-Sein, das dem Menschen Erfahrungen des Heiligen ermöglicht.» Zugänge zum Transzendenten erschliessen sich im leiblichen Spüren. Von daher kann Huizing zuspitzen: «Religion ist Betroffenheit von Göttlichem als affektiver Betroffenheit mit unbedingtem Ernst.»

Mit Verweis auf eine eindringliche Formulierung aus Navid Kermanis Buch Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen. Fragen nach Gott (2022) – «Allein schon im Atmen liegt das ganze Leben mit all seinen Widersprüchen: Zwang und Freiheit, Schmerz und Freude, Zufall und Vorsehung, Beklemmung und Erlösung» – betont Huizing: «Leibliche Lebendigkeit verdichtet sich im geschenkten Urexistential des Atmens. In theologischer Deutung wird in jedem Atemzug Gottes Geist erfahrbar.»

 

Salomonisches Lernen

Leib meint weniger den über die fünf Sinne wahrnehmbaren Körper als vielmehr leibliche Regungen (z.B. Angst, Ekel, Wollust, Müdigkeit, Hunger), die wir spüren, wenn Gefühle als Atmosphären andrängen. Zugunsten der leiblichen Resonanzoffenheit empfiehlt Huizing, sich keinen Panzer der Coolness zuzulegen, irritierbar und betreffbar zu bleiben. Andächtiger Genuss, dem immer auch Ehrfurcht beigemischt ist, macht dankbar und demütig, zugleich leidsensibel für gefährdetes Leben.

Für die internationale biblische Weisheit versteht sich, dass es vielfältige Realisationsformen und Praktiken des Heiligen gibt – auch ausserhalb der Kirchenmauern. Seine theologischen Reflexionen lockert Huizing daher mit mehreren Essays auf, die «Wege und Realisationsformen des Heiligen» in Literatur und Kunst erschliessen. Augenöffnend das Kapitel über den Schweizer Schriftsteller Gerhard Meier als Poeten weisheitlicher Schöpfungsfrömmigkeit. Huizings Affinität für Theopoesie wird in seinen Bibelexegesen fruchtbar, die sich, nicht selbstverständlich für einen Dogmatiker, auf der Höhe aktueller Reflexion der Eigentümlichkeiten literarischer Narration und Fiktionalität bewegen: «Poesie ist dem Glauben zu Eigen wie der Atem dem Leben», zitiert er Christian Lehnert. «‘Gott’, das ist eine riesige Galerie von Bildern, fiktiv und schön, die soviel sichtbar macht, wie sie verbirgt.»

Wichtig ist zu sehen: Huizing wuchs in einem streng calvinistischen Milieu nahe der niederländischen Grenze auf und forderte mit «Schluss mit Sünde» anlässlich des Reformationsjubiläums 2017 «eine neue Reformation». Gegen die den anthropologischen (Erb-) Sündenpessimismus vor allem im Raum protestantischer Theologie macht er nun den anthropologischen Optimismus der Weisheit stark.

Sein wichtigster Beleg? Statt wie in der vorherrschenden Auslegung Gen 3 müsste Gen 4 als die eigentliche Sündenfallgeschichte angesehen werden. Sie stellt zugleich die alttestamentliche Urform der Rechtfertigungslehre dar, bleibt Kain doch auch nach dem Brudermord an Abel als Gottes Geschöpf mit dem Kainsmal unter Gottes Schutz. Weisheitlich zielt Gen 4 auf einen klugen Umgang mit Aggressionsgefühlen, auf präventives Lernen, sich von aggressiven Atmosphären zu distanzieren. Neutestamentlich kommt Jesus als Weisheitslehrer, ja, als Plakat der christlichen Liebe ins Spiel.

 

Weihnachtschristentum

Wie schon Matthias Morgenroth plädiert Huizing für ein Weihnachtschristentum, in dem nicht Sünde und Tod im Mittelpunkt stehen, sondern die Geburt, die durch Jesus Christus in die Welt gekommene neue Freiheit: «Das Christentum startet mit der Krippe, nicht mit dem Kreuz; dieser Neuanfang wird als Geburt höherer Ordnung, als neuerliches Menschwerden des Menschen gedeutet: Dieses Kind in der Krippe bietet den Neuanfang eines Lebens, das sich später als plakatiertes Bild gelingenden Lebens, als Gleichnis für die Menschwerdung des Menschen zur Identifizierung anbietet – im Blick auf dieses Leben wird durchsichtig, wie Leben gelebt werden kann.»

Statt notorischen Kreisens um sich selbst steht Jesus – formuliert Huizing abkürzend-verdichtend in den «Results» – für die Macht der Liebesatmosphäre Gottes, die sich nicht länger an Ehre und Status orientiert, vielmehr «Selbstzurücknahme, Opferbereitschaft und Statusverzicht zugunsten eines friedlichen, gewaltfreien aber auch genussreichen Lebens in unserer Weltwohnung einsetzt».

Die Lebenslehre des von den Evangelisten plakatierten Jesus – Lukas ist Huizing am nächsten – steht ganz im Zeichen der Freude, was er eingehend an Lk 1 + 2 demonstriert. Die Philosophin Hannah Arendt konzipierte von der «Geburtlichkeit des Menschen» her ihre Anthropologie und verwies dabei ausdrücklich auf Weihnachten: «Dass man in der Welt Vertrauen haben und dass man für die Welt hoffen darf, ist vielleicht nirgends knapper und schöner ausgedrückt als in den Worten, mit denen die Weihnachtsoratorien ‘die frohe Botschaft’ verkünden: ‘Uns ist ein Kind geboren.’» Huizings Fazit? «Kreativität ist Natalität, wird – Hannah Arendt erweitert den Begriff entsprechend – erfahrbar in jedem schöpferischen Prozess.»

Jesus Christus als «Plakat der christlichen Liebe» ist die einzigartige Verdichtung der göttlichen Liebesatmosphäre: Lukas inszeniert eine Atmosphäre der Freude, die als Weitung gespürt wird. Nicht zufällig beginnt dieses Evangelium mit der Freude der Geburtlichkeit, der Freude eines neuen Anfangs. Das Christentum ist daher im besten Sinne Geburtlichkeitsreligion, feiert jedes Weihnachten das Wunder eines Neuanfangs: «Gotteskindschaft ist der Fokus einer Theologie der Geburtlichkeit. Was ein lebendiger, kreativer, entwicklungsfähiger Mensch sein kann, wird von hier aus erzählt.»

 

Mehr als Salomo! Und auch mehr als Jona!

In Lk 10,17-20 ruft Jesus zu einer Freude ohne Statusehrgeiz oder Machtallüren auf: Nicht die ruinöse Konkurrenz, wer der beste Exorzist ist, ist massgebend, sondern «die Vorfreude auf eine alle gleich auszeichnende Gestimmtheit im himmlischen Frieden, die aber auch innerweltlich im anbrechenden Gottesreich nahe ist». Was echte Freude ist, wird in den drei Gleichnissen Lk 15 erkundet: die Freude über ein wiedergefundenes Schaf, eine verlorene Drachme und den verlorenen Sohn. In diese Reihe gehört für Huizing auch die literarische Höhenkammerzählung über den Zöllner Zachäus (Lk 19,1-10): Vielleicht zum ersten Mal fühlt sich der kleinwüchsige Aussenseiter als Mensch gemeint, weil Jesus zu ihm hochschaut und mit ihm feiern will. Lukas inszeniert Jesus als einen inklusiven Weisheitslehrer in prophetischer Tradition, der die göttlichen Heilszusagen über allzu enge Grenzziehungen hinaus lenkt – gerade darum heisst es von ihm: Hier ist mehr als Salomo! Und auch mehr als Jona! (Lk 11, 31f.)

Das Christentum endet nicht mit Karfreitag, sondern mit Ostern. Für Klaas Huizing zeigen die Oster-Narrationen des NT: «Das Leben endet nicht tragisch.» Bei allem Streit, wie das Kreuz anstelle der überkommenen Sühnopfer- und Satisfaktionstheologie neu zu deuten ist oder wie wir uns die Auferstehung vorstellen können: «Soviel ist sicher: Jüdisch-christliche Literatur ist Tragödienkritik. Alles wird gut. Ob die gespürte Nähe des Neuen sich auf die Lesenden überträgt und Freude auslöst, die Kräfte freisetzt für die Etablierung einer [christlichen] Gegenkultur, hängt wesentlich ab von der Grandezza der inszenierten [biblischen] Texte», aktualisiert er das protestantische Schriftprinzip.

Selbst wenn man Huizings Deutungen nicht gänzlich teilen mag: Der durch «Kleine Rekapitulationen» sowie «Antworten auf E-Mails nach der Vorlesung» gut aufbereitete 568-Seiten-Grossentwurf – mit Anmerkungen und Bibliografie im Anhang – macht auf jeden Fall Lust, theologisch (neu) zu denken.

 

Klaas Huizing: Lebenslehre. Eine Theologie für das 21. Jahrhundert,

Gütersloher Verlagshaus 2022, 775 S.