Anders. Bildung. Kirche.

     

 

Bildung ist heute eine Frage der Kirche von morgen. So schreiben die Herausgeber des Sammelbands «Anders Bildung Kirche» (Edition SPI 2022). Die AG Praktische Theologie Schweiz hat in diesem Buch wertvolle Impulse zur Reflexion von Bildung in der Kirche zusammengetragen. Dorothee Foitzik empfiehlt das Buch als Grundlage für kollegialen Austausch und Planungen im Bereich der kirchlichen Bildung und Berufsbildung.

Bildungserfahrungen verändern und lassen Theologie und Kirche “anders” werden, davon sind die Autorinnen und Autoren überzeugt. Bildung, Pastoral-, Personal- und Kirchenentwicklung könnten, wenn sie zusammen gedacht werden, ein visionäres Potenzial entfalten. Die Herausgeber wünschen sich, dass die Querverbindungen in den Beiträgen entdeckt und die Reflexionen über Bildung als Chance für die Kirche im Prozess synodaler Erneuerung genutzt werden.

Im Sammelband «Anders Bildung Kirche» werden verschiedene Ebenen von Bildung der Kirche angesprochen sowie Bereiche, «Erfahrungsräume» genannt, in denen der gesellschaftliche und kirchliche Wandel bereits reflektierend und/oder gestaltend aufgenommen wird. Ein starkes Augenmerk wird auf die Professionsbildung gerichtet, vor allem in der deutschsprachigen Schweiz. Akteur:innen von Hochschulen und Instituten im deutschsprachigen Raum reflektieren auf innovative Beiträge zum Thema Bildung oder postulieren notwendige Transformationen. Die Lesenden erhalten auch Einblick in die Arbeit von Bildungshäusern, beispielsweise zum Bibliodrama und zu Angeboten spiritueller Bildung, sowie in die Kulturarbeit einer «Offenen Kirche» (Bern). An diesen Orten wird bereits ein Beitrag zur zeit- und pluralitätsgemässen Glaubensbildung geleistet. Eine Stimme ist aus dem Bereich der Romandie, genauer von der zweisprachigen Universität Freiburg/Fribourg, vertreten, weitere Repräsentant:innen der vielfältigen kulturellen und mehrsprachigen Realität der Kirche in der Schweiz konnten, zum Bedauern der Herausgeber, nicht gefunden werden. Die vorgelegten Überlegungen und Impulse sollten berücksichtigt werden, wenn in der Kirche Schweiz Strategien für die nächsten Jahre entwickelt werden.

Digitalität, Empowerment und Mündigkeit

Bildungsprozesse in kirchlicher Verantwortung können nicht losgelöst von Systemanforderungen, von Trends und Fragen der jeweiligen Zeit entwickelt werden. So sollte Pluralitätsfähigkeit angesichts der Vielfalt der Zugänge zu religiösen und spirituellen Themen und Erfahrungen ein Kompetenzziel kirchlicher Bildung sein («Doing Plurality»). Leitende Intentionen sind das Empowerment und das Ermöglichen mündiger Entscheide, so Wolfgang Beck. Dazu muss Kirche auch die verdeckten Mechanismen der Digitalität sichtbar machen. In Berücksichtigung der «Option für die Armen» sei die soziale Frage der Digitalität immer wieder aufzuwerfen und in Ansätze «digitaler Compassion» zu überführen. (Wie Digitalität Theologie verändert. Theologische Bildung als ekklesiologisches Empowerment).

Michael Hartlieb betont, dass das Angebot des theologischen Wissens neu strukturiert werden muss, um die eigentätige Auseinandersetzung der Lernenden zu ermöglichen. Zukunftsorientierte theologische Erwachsenenbildung braucht zudem Lehr- und Lernformen, die das «theologische Empowerment» fördern. Die zunehmende digitale Strukturierung des Lernumfeldes stärkt exploratives und problemorientiertes Lernen und fördert so die Eigentätigkeit und Selbstorganisation der Lernenden. Dabei ist jedoch zu beachten, «dass sich die individuellen Fähigkeiten im Erfassen und sachlogischen Verarbeiten von digital präsentierten Informationen stark unterscheiden». Die Medienkompetenz der Teilnehmenden muss bei der Konzeptarbeit für theologische Bildungsveranstaltungen sorgfältig in den Blick genommen werden (Die Theologie der theologischen Erwachsenenbildung im digitalen Zeitalter. Von trojanischen Pferden und anderen Überraschungen).

Um die theologische Mündigkeit der Menschen zu stärken, bietet die Digitalisierung im Bildungsbereich viele Möglichkeiten an, betont auch Thomas Schlag. Das Empowerment zur individuellen Mündigkeit lebt im Zusammenhang digitaler Kommunikationswelten aber auch von der Begegnung mit Personen, die selbst eine solche mündige Übersetzungspraxis zu leben versuchen: Hier komme Pfarrer:innen und Seelsorgenden, aber auch Religionslehrerinnen und Religionslehrern eine entscheidende, «würdevoll-pädagogische Aufgabe als ‘public theologians’» zu. Angesichts der zunehmenden Virtualität medialer Orientierungsangebote betont Schlag deshalb die nicht zu überschätzende Bedeutung des «personal verkörperten» Angebots professioneller Bildungspraxis und ermutigt Akteur:innen kirchlicher Bildungsangebote, sich dem notwendigen Kompetenzerwerb in diesem Bereich zu stellen und zu widmen (Theologische Mündigkeit stärken. Bildung und Digitalisierung).

Erfahrungsräume

Unter dem Stichwort «Erfahrungsräume» reflektieren Fachpersonen unterschiedlicher praktisch-theologischer Bereiche auf zeitgemässe und zukunftweisende Ansätze und Impulse der Bildung. Gregor Scherzinger plädiert für eine «Pastoral des Lernens» im Bereich der Diakonie, die er als bevorzugten Bildungsort versteht (Praktisch-theologische Gedanken zum Bildungsort Diakonie). Claudia Mennen verweist auf die Chancen des Bibliodramas. Dort werden religiöse Erfahrungsräume eröffnet und gestaltet, ein neues «Wir» kann entstehen (Glaubenskommunikation mit dem Instrument des Bibliodramas). Andrea Meier erläutert an Beispielen aus dem Umfeld einer «offenen Kirche» im urbanen Zentrum , wie über die Begegnung von Kunstschaffenden und «Kirchenmenschen» auf Augenhöhe gegenseitige, bereichernde Bildungsprozesse ermöglicht werden können (Wenn Kunst und Kirche von- und miteinander lernen. Reflexionen aus der «offenen kirche bern»).

Bernd Hillebrand betont, dass bei der Glaubensbildung durch ästhetische Rituale diese zu den aktuellen Stilen der Menschen passen müssen. Weil sie einem voraussetzungslos wertschätzenden Menschenbild (der «Schönheit») verpflichtet sind, stärken sie Menschen in deren Selbstbewusstsein (Bedingungslos schön! Ästhetische Passung als Ansatz ritueller Glaubensbildung).

Spirituelle Bildung soll, passend zur individuellen Spurensuche und vielfältiger Zugänge, Räume eröffnen, in denen Religion Ausdrucks- und Hilfsmittel zur Verfügung stellen kann, damit Menschen mit dem Transzendenten in Kontakt treten können, befürwortet Wilfried Dettling SJ (Spirituelle Bildung auf dem Prüfstand).

Christian Höger sieht aufgrund empirischer Forschungsergebnisse die bleibende und zugleich dem Wandel unterworfene Bedeutung der Familie als Ort der religiösen Erziehung und Bildung. Aufgabe religiöser Elternbildung ist es, den Eigensinn und die eigenen Rituale, die in Familien existieren, wertzuschätzen, die Eltern in ihren Kompetenzen zu stärken, und den Kindern so einen Zugang zu religiöser Bildung und Erziehung zu ermöglichen (Familie – ein zentraler Ort religiöser Erziehung und Bildung. Empirische Wahrnehmungen und religionspädagogische Aufgaben).

Stichwort «Menschenbildung»

Kirchliche Bildung erhebt zu Recht den Anspruch, einen unverzichtbaren Beitrag zu einer ganzheitlich verstandenen Menschenbildung zu leisten. Im gleichnamigen Kapitel beleuchten Vertreterinnen vor allem aus dem Bereich der Religionspädagogik, welchen Beitrag kirchliche Bildung unter den aktuellen Rahmenbedingungen und angesichts der zunehmenden Digitalisierung zur Entwicklung des kirchlichen Bildungswesens leisten kann. Judith Könemann plädiert für die stärkere Beachtung des Körpers in der Bildungsarbeit, denn »ohne Leib, ohne Körper sind Bildungsprozesse nicht zu denken, denn Bildung ist immer auch auf an Körperlichkeit gebundene Ausdrucksformen wie z.B. die Fähigkeit des Körpers zur Sprache, und an Sprache als Ausdrucksform selbst angewiesen». Jedoch wird die Körperlichkeit selten zum Gegenstand von Bildungsprozessen und noch seltener zum Gegenstand der Reflexion über sie gemacht. Dabei ist gerade für Heranwachsende der Körper ausgesprochen präsent, ist er doch Austragungsort gesellschaftlicher Normierungs- und Diskriminierungspraktiken. Die Auseinandersetzung mit dem Körper ist umso wichtiger, als in Bildungsprozessen emanzipatorisches Empowerment angezielt wird. Eine eminent (kirchen-)politische Notwendigkeit fordert die Auseinandersetzung mit dem ambivalenten Umgang mit «Körper» beispielsweise in kirchlichen Bildungseinrichtungen im Zuge des Missbrauchsskandals (Religiöse Bildung und «Körper»).

Viera Pirker verweist darauf, dass die kompetenzorientierte religiöse Bildung im 21. Jahrhundert zugleich der Persönlichkeits- und Charakterbildung verpflichtet bleibt. Zwar werde «modernes Wissen» nicht nur um seiner selbst willen erworben, sondern muss immer anwendbar sein und integriert werden. Der Schwerpunkt liegt auf dem Bildungsgehalt und dem damit verbundenen Kompetenzerwerb. Religiöse Bildung in der Schule werde daher den Querschnittsaufgaben zugeordnet und arbeite bereits interdisziplinär. Vier Dimensionen sind wesentlich für eine auf Zukunft gerichtete Bildung: Skills/Fähigkeiten, Character/Charakter, Knowledge/Wissen, Meta-Learning/Meta-Kognition. Religiöse Bildung bleibt der Dimension des Wissens verbunden, aber es gilt, die religiösen Wissensbestände und die Theologie in Bildungsprozessen so zu modellieren, dass sie ihr Eigenpotential entfalten können und nicht verzweckt werden. Einige Grundprinzipien religiöser Bildung bleiben auch angesichts eines eher funktional orientierten Bildungsverständnisses und in digital strukturierten Lernumgebungen gültig, darunter die Pluralitätsfähigkeit, die Kultursensibilität, die Diskursivität (Bildung, verstanden als offener Prozess) und nicht zuletzt die Spiritualität.

Pirker nennt zentrale Merkmale einer subjektfördernden Bildungsarbeit, die mit dem Kürzel «f.r.a.m.e.n.» bezeichnet werden: Führung, Resilienz, Achtsamkeit, Mut, Ethik und Neugier. Diese Merkmale sollen das aktuelle Bildungsverständnis neu «einrahmen». (Mehr ist als funktional orientierter Kompetenzerwerb. Religiöse Bildung im 21. Jahrhundert). Kirchliche Bildung kann lernen aus den Diskussionen rund um die Einbindung des schulischen Religionsunterrichtes in eine kompetenzorientiertes Bildungsverständnis und die gesellschaftliche Relevanz.

Dort, wo religiöse Bildung der Verfestigung fundamentalistischer Positionen entgegenwirkt, ist sie gemäss Christian Cebulj zugleich politische Bildung. Sie muss unbedingt gefördert werden (Fundamental statt fundamentalistisch. Religiöse Bildung als politische Bildung).

François-Xavier Amherdt schliesslich verweist darauf, dass Kirche auf der Basis weltkirchlicher Bildungskonzepte gerade in Krisenzeiten eine ganzheitliche Bildung im Sinne der Menschenbildung anbieten kann (Ganzheitliche Bildung in Krisenzeiten).

 

Professionsentwicklung (in) der Kirche

Der zweite Teil des Buches ist der kirchlichen Professionsentwicklung gewidmet, sie wird als wichtiger Beitrag zur Kirchenentwicklung gedeutet. Im Fokus der Professionsentwicklung steht die Befähigung zur Gestaltung des Wandels.

Der zunehmende Verlust des gesellschaftlichen Ansehens der kirchlichen Berufe verunsichert, das kirchliche Professionsverständnisses wird auch nach innen zunehmend als diffus wahrgenommen. Arnd Bünker regt an, die entstehenden Herausforderungen zugleich als Chancen zur Erneuerung zu nutzen, und ermuntert zur kreativen Gestaltung. Spirituell-religiöse Pluralitäts- und Ambiguitätsfähigkeit sind laut Bünker ebenso wichtig wie persönliche Glaubwürdigkeit und Beziehungsfähigkeit. Ein besonderes Augenmerk ist auf die berufsbiografische Entwicklung eines zeitgemässen Berufsethos und eines Habitus zu richten, die den spirituellen Anforderungsbedingungen der gegenwärtigen Gesellschaft entsprechen und das Bestehen angesichts der Konkurrenzangebote ermöglichen. Der Aufbau des Professionswissens, der Umgang mit Theologie und der theologischen Bildung müssen angesichts der notwenigen Veränderungen neu strukturiert werden. Die genannten notwendigen Entwicklungen brauchen zugleich einen bewussten und sensiblen Umgang mit Macht. (Herausforderungen kirchlicher Professionsbildung).

Mit dem Einblick in ihre Studie zu den Biografien, Interessen und Zielen der aktuell an der Universität Luzern Theologie Studierenden leistet Stephanie Klein einen lesenswerten Beitrag zum Thema: «Wer sind die Theologiestudierenden? Zu ihrem Potential für Kirche und Gesellschaft».

Im Zuge der kirchlichen Personalentwicklung gilt es, Fähigkeiten des Change Managements zu erwerben. Kirchliche Mitarbeitende in der Pastoral sollen befähigt werden, den Erwartungen der hochprofessionalisierten Dienstleistungsgesellschaft gerecht zu werden, fordert Barbara Kückelmann. Gezielte Weiterbildungsmassnahmen und Laufbahnplanung sind daher ebenso wichtig wie eine mögliche Spezialisierung im Rahmen grösserer Teams (Mehr Bildung des pastoralen Personals?).

Kirchliche Mitarbeitende, so Christoph Gellner, sollen sich dahingehend aus- und weiterbilden, dass sie sich eher als Ermöglichende denn als Macher:innen verstehen, beispielsweise um auf Augenhöhe und ressourcenorientiert mit den sogenannten «neuen» Freiwilligen zusammenzuarbeiten. Die Befähigung zu dieser Ermöglichungspastoral folgt dem Ansatz der Ermöglichungsdidaktik (Rolf Arnold et al.). Gellner erläutert den Weg hin zur Ermöglichungspastoral anschaulich an einem Beispiel aus dem Weiterbildungsprogramm des TBI für Seelsorgende mit Leitungsverantwortung (Ermöglichungspastoral als Bildungsherausforderung. Anstösse zur Personal-, Organisations- und Kirchenentwicklung).

Bildungsexperte Andreas Schubiger, Präsident der Qualitätssicherungskommission, und Jörg Schwaratzki, Geschäftsführer von ForModula, betonen in einem Gespräch die Vorreiterrolle der kirchlichen Berufsbildung. Denn hier geht es neben dem Erwerb von Professionswissen und der Entwicklung der Professionskompetenz auch um Menschenbildung. Verschiedene Zugänge werden ermöglicht, Lebenserfahrung erfährt Wertschätzung, Bildungsprozesse zielen auf Mündigkeit. Das Professionswissen soll aktiv ins Handeln integriert werden, das Tun wird wiederum reflektiert, der Zugang zu neuem, weiterführendem Wissen wird eigenständig gesucht. Aufbau von Professionswissen erfolgt in der sprichwörtlichen Reflexionsschlaufe. Zugleich herrscht in der kirchlichen Berufsbildung ein vertieftes Bewusstsein von der Bedeutung der Lehrpersonen und anderen Akteur:innen in Bildungsprozessen (Chance Kirchliche Berufsbildung. Ein Gespräch über Innovation und Vorreiterpotential).

Kirchliche Weiterbildung soll in ihrem Kern zur Veränderung ermutigen und befähigen, beispielsweise zum Erproben neuer Seelsorgeformate, zum Ausloten eines neuen Habitus, zum Aufbruch hin zu einer Ermöglichungspastoral. Diese Schritte erfordern jedoch Mut und Innovationswillen, auch auf Seiten der Kirchenleitung (Manfred Belok, Option Bildung. Ziele, Herausforderungen und Aufgaben der pastoralen Fort- und Weiterbildung).

Dem Buch sind Leserinnen und Leser zu wünschen, die an verschiedenen Stellen an der Konzeption und Organisation von Bildungsangeboten und Bildungsgelegenheiten beteiligt sind und/oder die zeitgemässe Aus- und Weiterbildung kirchlicher Mitarbeitender für die verschiedenen Bereiche kirchlichen Handelns im Besonderen verantworten – und so an einer zukunftsorientierten Entwicklung der Kirche mitwirken.

Dorothee Foitzik Eschmann

Arnd Bünker, Christoph Gellner, Jörg Schwaratzki (Hg.) Anders Bildung Kirche. Eine Publikation der Arbeitsgemeinschaf Praktische Theologie Schweiz