Theologische Bildung – nicht nur in der Ära Franziskus

     

Unmittelbar nach seiner Wahl gab es starke Zeichen und Zeichenhandlungen von Papst Franziskus in Richtung Kirchenreform. Das weckte bei den einen Hoffnungen und bei anderen Befürchtungen. Inzwischen ist es diesbezüglich deutlich ruhiger geworden. Das gesellschaftspolitische, das soziale und ökologische Engagement von Franziskus hält jedoch unvermindert an.

Allerdings – so meint der bergamaskische Soziologe Marco Marzano in seinem Buch „Die unbewegliche Kirche“[1] – bewege sich Franziskus in diesem Bereich weitgehend auf der Linie der bisherigen katholischen Soziallehre und setze nur wenige eigene Akzente und, was zu denken gibt, seine diesbezüglichen Aufrufe in Ansprachen und Enzykliken (Evangelii gaudium, Laudato si) blieben weitgehend Appelle an andere Protagonisten in Wirtschaft und Politik. Er selber könne und müsse die sozialen Probleme nicht selber lösen, während er in innerkirchlichen Fragen in vielen Punkten selber handeln könnte. Das tue er aber nicht, so dass die Appelle an andere wie eine Entkoppelung von Kirche und Gesellschaft wirkten und damit von dringend notwendigen innerkirchlichen Reformen ablenkten. Die Meinungen über das Pontifikat jedoch seien durch die ersten erfrischenden Impulse nach der Papstwahl gemacht: hier der liberale Reformflügel, der in Franziskus nach wie vor einen Hoffnungsträger sehe, dort eine kleine, aber lautstarke reaktionäre Gruppe, die durch dieses Pontifikat die Tradition der Kirche und die gesunde Lehre gefährdet glaube, weil Franziskus wenig Wert auf dogmatische Lehren lege. In Tat und Wahrheit aber lägen sowohl die einen wie die anderen falsch: die einen, weil Franziskus bisher keine einzige innerkirchliche Reform durchgesetzt habe und weil vermutlich in nächster Zeit in Ermangelung einer wirklichen Kirchenkrise (wie z. B. in der Reformationszeit) auch nie eine solche „auch nur ansatzweise stattfinden“ (194) werde; die anderen nicht, weil sich Franziskus in den sensiblen innerkirchlichen Positionen (Sexualität, Familie, Zölibat, Amtsverständnis, Stellung der Frauen…) ganz auf der Linie seiner Vorgänger bewege. Diesen Spagat zu machen, also sozusagen beide Seiten bei Laune zu halten, gelinge Papst Bergoglio nicht zuletzt durch eine „Politik der Freundschaft“. Diese zeige sich darin, dass er sich mit Verantwortungsträgern aus allen Lagern treffe und geflissentlich die sensiblen Punkte – nämlich die inhaltlichen sozialen, ethischen und kirchenpolitischen Differenzen – aus den Gesprächen ausklammere und damit unverbindlich bleibe. Als Beispiele für diese „Politik der Freundschaft“ erörtert Marzano auf der einen Seite das Zugehen von Franziskus auf den russischen Patriarchen Kyrill, auf die charismatischen Pfingstgemeinden sowie auf die Bruderschaft St. Pius X. und die Lefebvre-Anhänger, die alle inhaltlich problematische Positionen vertreten; auf der anderen Seite erinnert er an die Barmherzigkeit von Franziskus gegenüber der Theologie der Befreiung, von der sich die argentinischen Theologie des Volkes, die Bergoglio selbst vertritt und die auch seine beiden Vorgänger ausdrücklich lobten, deutlich unterscheidet.

 

Es ist hier nicht der Ort, diese These von Marco Marzano kritisch zu diskutieren und zu hinterfragen. Ob er mit seiner Analyse des Pontifikats von Franziskus Recht hat, bleibe also einstweilen dahingestellt. (In Klammer gesagt: Mir scheint, dass Marzano die Brisanz und Bedeutung der gesellschaftspolitischen Positionsbezüge und Interventionen von Papst Franziskus erheblich unterbewertet.) Vielmehr möchte ich den Fokus auf die theologische Bildung richten. Unabhängig von ihrer Stichhaltigkeit in Bezug auf Franziskus ist die Entkoppelungsthese des Soziologen für die Rolle theologischer Bildung interessant und herausfordernd. Wenn es nämlich nur einigermassen stimmt, dass durch Entkoppelung von gesellschaftlichen und innerkirchlichen Sachverhalten von den eigenen strukturellen Problemen und von Reformanliegen abgelenkt werden kann – und ich sehe keinen Grund, daran zu zweifeln –, dann fragt sich: Wie muss eine kirchliche Bildung aussehen, die nicht in diese Falle tappt, die den innerkirchlichen Strukturproblemen und dem Reformbedarf nicht ausweicht?

 

Es reicht vor diesem Hintergrund nicht, dass Bildung hilft, theologische und ekklesiologische Zusammenhänge besser zu verstehen. Theologische Bildung ist nicht zielführend, wo sie durch blosses Verstehen zu einem vorschnellen Einverständnis mit den Verhältnissen führt. Im Gegenteil. Und es genügt schon gar nicht, wenn theologische Bildung sich nur mit Sachverhalten befasst, die wir Menschen nicht beeinflussen oder ändern können. Eine Bildung beispielsweise, die auf das Jenseits vertröstet oder allein auf Gottes Handeln baut, ist müssig. Erst dort, wo sie Menschen zum verändernden Handeln ermuntert, wo sie zum Widerstand gegen knechtende Strukturen aller Art befähigt, wo sie auch in der eigenen Kirche zu Freiheit und Befreiung ermächtigt, erreicht theologische Bildung ihr Ziel. Erst so wird klar – und auch das gehört eminent zu jedem Bildungsauftrag –, dass nicht mit zwei Ellen gemessen werden darf: mit der einen in der Gesellschaft, in Wirtschaft und Politik und mit der anderen innerhalb der Kirche selbst. Auf dem Spiel steht hier die Glaubwürdigkeit selbst, und theologische Bildung gelingt nicht zuletzt dort, wo sie Glaubwürdigkeit fördert und erhöht.

 

Mit anderen Worten und aus aktuellem Anlass: Wir können in der theologischen Bildung nicht glaubwürdig für Gleichheit und Gerechtigkeit in Wirtschaft und Politik eintreten und gleichzeitig innerkirchlich z. B. im Amtsverständnis den Ausschluss der Hälfte der Menschheit aus allen verantwortungsvollen Leitungsfunktionen und sakramentalen Vollmachten theologisch rechtfertigen. Hier tut innerkirchlich Veränderung not. Hier muss theologische Bildung zu widerständigem Handeln befähigen. Im Dienste der Glaubwürdigkeit, in Treue zum Evangelium und in Achtung vor der Gleichheit und Gottebenbildlichkeit aller Menschen. – Während ich dies schreibe, steht der nationale Frauenstreiktag unmittelbar bevor. Kirchlich und feministisch-theologisch engagierte Frauen werden dabei sein und dort (wie auch danach rund um die Sonntagsgottesdienste) mit kreativen Interventionen in einen Frauen*KirchenStreik treten und sich innerhalb der Kirche(n) für „Gleichberechtigung. Punkt. Amen.“ einsetzen. Auch solches Engagement hat nach dem genannten Glaubwürdigkeitskriterium einen Bildungsaspekt, ist ein Element gelingender theologischer Bildung.

 

Felix Senn, Dr. theol. ist Bereichsleiter Theologische Grundbildung am TBI in Zürich.

 

[1] Marco Marzano, Die unbewegliche Kirche. Franziskus und die verhinderte Revolution“, Freiburg im Breisgau 2019.