Wesentlich werden!

     

„Viele haben ihre Bindung an die kirchlichen Institutionen gelockert, sind aber dabei nicht einfach religionslos geworden“, so lautet der Ausgangspunkt von Stefan Knoblochs Überlegungen. Heutige Religiosität trägt individuellere Züge und pluralisiert sich in einer Vielfalt, die vor noch nicht allzu langer Zeit so nur schwer vorstellbar gewesen wäre. Sie begegnet heute im Gewand der Sinnsuche, in der Suche nach einem sinnvoll gestalteten gedeihlichen Leben, Religionssoziologen sprechen von einer Verschiebung der Religion ins Innere des Menschen.

 

Neue Aufmerksamkeit für Religiös-Spirituelles

Erstaunlich genug: In den letzten 15, 20 Jahren lässt sich in der Gegenwartskultur ein „postsäkularer“ Bewusstseinswandel in der Wahrnehmung von Religion(en) beobachten. Eine neue Aufmerksamkeit für die Gottesfrage – was fehlt, wenn Gott fehlt? –, ein Unbehagen an eindimensionaler Immanenz: „Is that all there is?“ zitiert Knobloch den kanadischen Philosophen Charles Taylor, der seinerseits einen Song der amerikanischen Sängerin Peggy Lee aufgriff. Darin schwinge mehr mit als lediglich menschliches Potential – etwas, was die rein säkulare Sinndeutung sprengt.

Menschen wenden sich intensiver der Wirklichkeit ihres Lebens zu. Ja, angesichts eines wachsenden Gefühls für seine Zerbrechlichkeit hinterfragen nicht wenige die vermeintlich selbstverständliche säkulare Lebenssicherheit und suchen nach postsäkularistischen Alternativen.

Für Knobloch handelt es sich weniger um einen Glaubens- oder Gottesverlust als vielmehr um eine neue, ungewohnte Lebens- und Glaubenssuche. Ja, Menschen können in ihrem biografischen Lebenstext weiterhin nach Transzendenz suchen, auch wenn die Begriffe „Gott“ und „Glaube“ nicht explizit vorkommen. Dies pastoral ernst zu nehmen, ist ein besserer Weg als blosse Appelle, sich mehr Glaubenswissen anzueignen.

 

Wider die Rede vom Glaubens- und Gottesverlust  

Es gelte den Blick zu weiten für die Wirklichkeit heutiger Religiosität statt sie pauschal als nichtreligiös abzutun. Wichtiger Gewährsmann dafür ist der französische Soziologe und Kulturphilosoph Michel de Certeau (1925-1986). Statt von Säkularisierung im Sinne eines Verlusts sprach dieser Jesuit lieber von den veränderten Zu- und Übergängen zum Glauben. Von Umwälzungen im Bereich des Glaubens (des Glaubwürdigen, des Glaubbaren), von einer Mutation der Religiositätsformen und der Auflösung dominanter Glaubenspraxis in eine Vielfalt von Praxisformen, die nicht mit einem Gottes- oder Glaubensverlust verwechselt werden dürfe.

Papst Franziskus – dessen Denken Certeau tief prägte, wie er im ersten grossen Interview mit Antonio Spardaro bekannte –, habe erkannt, dass sich die Erlebens- und Erfahrungsebene der Menschen immer weniger mit der überkommenen kirchlich vermittelten Lebensdeutung deckt. Das bedeute jedoch gerade nicht, dass sie sich jeglichen religiösen Potentials entledigt hätten. Einen massgeblichen Grund der gefühlten Bedeutungslosigkeit des tradierten Glaubensguts sieht Knobloch in der zu geringen Anbindung an zeitgenössische kulturelle Parameter, die das Leben heute bestimmen.

 

Mystagogische Pastoral

Auf der Linie von der Pastoralkonstitution Gaudium et spes gilt es für Knobloch, in den Ereignissen, Bedürfnissen und Wünschen der Menschen unserer Zeit die Absichten Gottes wahrzunehmen: „Das Evangelium liegt nicht wie in Stein gemeisselt ein für alle Mal vor! Es muss in unseren Händen geformt werden. Es schreit danach, Innerhalb unserer heutigen kulturellen Parameter neu erschlossen werden.“ Damit macht Knobloch den mystagogischen Ansatz des Konzils stark, das der menschlichen Wirklichkeit die Relevanz zusprach, aus ihr die Stimme Gottes zu vernehmen.

Die ‚Zeichen der Zeit‘ als Zeichen der Gegenwart des Geistes Gottes zu verstehen und zu deuten, darin besteht das grundlegende Prinzip dieses neuen theologisch-ekklesiologische Denkens des Konzils. Das markiert eine deutliche Abkehr von einer abstrakten Konzeptualisierung des Evangeliums zu seiner konkreten Generierung in der Erlebens- und Erfahrungswelt der Menschen, und zwar nicht nur der Gläubigen, sondern der Menschen unserer Zeit überhaupt!

„Wenn Theologie und Kirche sich wirklich den Brennpunkten des Lebens widmen“, betont Knobloch, „dann nähern sie sich der Art, in der Jesus mit den Menschen umgegangen ist: unprätentiös, offen, an Menschen orientiert und so heilbringend und das Leben fördernd und aufbauend.“

 

Amoris laetitia als Testfall

Konkret buchstabiert Knobloch dies an der Barmherzigkeit als Schlüsselbegriff des Pontifikats von Papst Franziskus und seinem Lehrschreiben Amoris laetita durch. Zu Recht erkennt er darin einen Wechsel vom Primat der Lehre über Ehe und Familie zum Primat einer am Evangelium orientierten Ehepraxis und Beziehungspastoral. Ja, „es ist ein Glücksfall, dass nach Johannes XXIII. und Paul VI. (den Papst Franziskus sehr verehrt), Papst Franziskus heute die Wende einer überfälligen Re-Konzeptualisierung des Konzils herbeiführt, die die bisher liegengebliebenen Konzilsimpulse nicht nur in die Tat umzusetzen, sondern ganz im Sinn des Konzils über diese hinauszuführen versucht.“

Wie stark Barmherzigkeit die Theologie des Papstes bestimmt, zeigt sich etwa am Ende von Amoris laetitia, wo Franziskus herausstellt: „Wir stellen der Barmherzigkeit so viele Bedingungen, dass wir sie gleichsam aushöhlen und sie um ihren konkreten Sinn und ihre reale Bedeutung bringen, und das ist die übelste Weise das Evangelium zu verflüssigen.“ (AL 311)

Schon in seiner Schlussansprache zur Familiensynode 2015 konnte sich der Papst die Bemerkung nicht verkneifen, „die Erfahrung der Synode hat uns […] besser begreifen lassen, dass die wahren Verteidiger der Lehre nicht jene sind, die den Buchstaben verteidigen, sondern die, die den Geist verteidigen; die nicht die Ideen, sondern den Menschen verteidigen; nicht die Formeln, sondern die Unentgeltlichkeit der Liebe Gottes und seiner Vergebung.“

Für Knobloch ist denn auch klar: „Wie sich in den Haustafel [des NT] damalige soziale Vorstellungen abzeichneten und Eingang in die biblischer Tradition fanden, so müsste es auch heute darum gehen, aus den heutigen Beziehungsformen unter Menschen, die in unterschiedlichen Kulturen sehr unterschiedlich sein können, Anforderungen herauszuhören, wie man heute das ‚Evangelium der Familie‘ zu lesen und zu interpretieren hat.“ Schliesslich zeichneten sich in der Geschichte „bezüglich der Lehre der Kirche immer wieder Entwicklungen hin zu einer Revision lehramtlicher Aussagen ab.“

 

Stefan Knobloch: Für eine Theologie und Kirche an den Brennpunkten des Lebens, Grünewald: Ostfildern 2019.