Eine weitreichende pastorale Wende – Vom Gesetz zum Gesicht

     

Mehr als nur einen neuen Ton in der Kirche macht der namhafte Pastoraltheologie Paul M. Zulehner aus: AMORIS LAETITIA weise über die Ehe- und Familienpastoral weit hinaus und markiere eine neue Pastoralkultur, die sich bemüht das Evangelium ins Leben heutiger Menschen einzuweben (Rezension: Christoph Gellner).

 

Tuchfühlung mit den Realitäten, Wertschätzung der Entwicklungen der Gegenwartskultur als Orte des Wirkens Gottes in der Welt von heute: In seinem engagierten Essay arbeitet Paul M. Zulehner die von Papst Franziskus stark gemachte zeit- und leidsensible Pastoralkultur heraus, deren jesuanische Grundmelodie die Barmherzigkeit ist. In Anlehnung an die orthodoxen Ostkirchen mit ihrer Unterscheidung zwischen Akribie und Oikonomie atme AMORIS LAETITIA „den Geist einer therapeutisch gewendeten Kirche“, streicht der Wiener Pastoraltheologe positiv heraus.

Franziskus gehe nicht davon aus, wie er die Menschen haben möchte, sondern wie sie faktisch sind. Er ermutigt zur Freude der Liebe, übersieht aber nicht die Schattenseiten: „Evangeliumskonforme Anteile der Entwicklung erhalten Unterstützung, dunklen Entwicklungen wird ohne moralische Anklage, vielmehr aus Sorge um das Gelingen der Liebe, prophetisch der kritische Spiegel des Evangeliums vorgehalten.“ Dazu gehört nicht zuletzt auch das politische Engagement der Kirche, dass Wirtschaft und Gesellschaft das Leben in Familien mehr fördern als behindern.

Seelsorgerliches Ziel ist nicht gesetzesgeleitetetes, hartherziges Ausschliessen, sondern fürsorgliches Integrieren. Es reicht nicht und entspricht vor allem nicht der Logik des Evangeliums, „nur moralische Gesetze anzuwenden, als seien es Felsblöcke, die man auf das Leben von Menschen wirft“ (AL 305). Im Mittelpunkt steht also nicht das Gesetz, sondern das Gesicht, d.h. der betroffene Mensch mit seiner einmalig-unverwechselbaren Geschichte. Um dem je besonderen Einzelfall gerecht zu werden, braucht es eine Pastoral der Unterscheidung und der Integration ins volle, auch sakramentale Leben der Kirche. Die ist nicht länger primär an Defiziten interessiert, am Aufspüren von Versagen, sondern würdigt Fragmente des schon gelebten Ideals und freut sich am bruchstückhaften Gelingen. Die Begleitung durch erfahrene Seelsorger und Seelsorgerinnen kann dies wirksam unterstützen und entfalten im Respekt vor der unvertretbaren Eigenverantwortung jedes Einzelnen: „Wir sind berufen, die Gewissen zu bilden, nicht aber dazu, den Anspruch zu erheben, sie zu ersetzen.“ (AL 37)

Alles in allem also in der Tat ein weitreichender Perspektivenwechsel, der nicht nur die Ehe- und Familienpastoral berührt, insb. die Pastoral rund um Scheidung und Wiederheirat, die Zulehner eingehend behandelt. Man kann nur wünschen, dass die von Franziskus angestossene synodale und „pastorale Dezentralisierung der bislang uniformierten, künftig aber kulturell verbunteten und dennoch im Evangelium geeinten universellen, also wahrhaft katholischen Weltkirche“ gelingt.

Neben der Notwendigkeit qualifizierter Aus- und Weiterbildung für die von Franziskus gewünschte Pastoral der Begleitung beleuchtet Zulehner kritisch auch blinde Flecken im päpstlichen Schreiben wie die Gender- und Homosexuellenthematik, die Alleinlebenden, die der Papst nur negativ als „ehelos“ beschreibt, sowie den kirchlichen Familiarismus: „Eheleute sind nicht auf ihren Partner, sondern sauf Christus getauft. Ihre Zugehörigkeit zum Volk Gottes relativiert ihre Familienzugehörigkeit. Dass Familien in der Kirche einen guten Platz haben, macht die Kirche selbst noch nicht zur Familie. Diese Definition schmeckt bestimmt manchen bürgerlichen Christen, die gern unter sich bleiben. Manche Pfarrgemeinden bestehen deshalb aus gut situierten intakten Familien mit mehreren Kindern. Die anderen müssen oftmals darum kämpfen, dazuzugehören.“ (Rezension von Christoph Gellner)

Paul M. Zulehner: Vom Gesetz zum Gesicht. Ein neuer Ton in der Kirche: Papst Franziskus zu Ehe und Familie AMORIS LAETITIA, Patmos: Ostfildern 2016.