Weisheitlich-spirituelle Resonanzen

     

 

Rudolf Englert unterscheidet in seiner an der Universität Regensburg vorgetragenen Vorlesungsreihe «Geht Religion auch ohne Theologie?» vier idealtypische Ausprägungen von Theologie:

  • die wissenschaftliche Theologie
  • die lehramtliche Theologie
  • die weisheitlich-spirituelle Theologie
  • die Laientheologie des Volkes, etwa die Kinder- und Jugendtheologie, deren Ansatz Friedrich Schweitzer für eine «Theologie von, mit und für Erwachsene» fortgeschrieben hat, die bei der Wahrnehmung und Wertschätzung der Theologie von Erwachsenen ansetzt, diese als selber denkende und sich in Glaubensfragen selbständig orientierende Subjekte ernst nimmt.

Auch wenn es weiterhin alle diese vier Formate braucht, will ich hier mit Blick auf die theologische Breitenbildung eine Lanze für die spirituell-sapientiale Theologie brechen. Was ist damit gemeint?

 

Mehr weisheitlich-spirituelle Theologie!

Englert führt für dieses Theologieformat exemplarisch den durch eine enorme Breitenwirkung bekannt gewordenen Benediktiner Anselm Grün an. Ich verbinde damit die ebenso lebensnahen, erfahrungsgesättigten wie um theologische Klärung und Reflexion bemühten Veröffentlichungen von Fulbert Steffensky, Gotthard Fuchs oder Huub Oosterhuis, die gewiss mehr als «geistliche Stärkung» bieten. Gemeinsam geht es ihnen allen um die (Neu-) Erschließung der christlichen Theologie- und Spiritualitätstradition in Anknüpfung an Fragen, Hoffnungen und Sorgen der Menschen von heute.

Anders als die wissenschaftliche und lehramtliche hat die sapientiale Theologie daher geringe(re) Relevanzprobleme und grössere Chancen Resonanz zu finden, betont Englert. «Zumindest da, wo es ihr, wie im Falle Anselm Grüns, gelingt, christliche Kernbotschaften aus ihrer Verkapselung in eine theologische Binnensprache herauszuholen», vermag sie weit über den Kreis der Gemeindechristen hinaus religiös interessierte Menschen zu erreichen, ja, ihnen neu zu denken zu geben.

Mit Papst Franziskus zeigt die lehramtliche Theologie etwa in Evangelii gaudium (2013), Laudato si (2015) oder Amoris laetitia (2016) deutliche Übergänge zur weisheitlich-spirituellen, teilweise auch zur wissenschaftlichen Theologie, stellt Englert zu Recht heraus. Ebenso gab und gibt es Ansätze einer Verschränkung von Dogmatik und Lebenskunst, von Theologie und Biografie – etwa bei Gunda Schneider-Flume, Karl Rahner, Edward Schillebeeckx, Johann Baptist Metz oder Eva-Maria Faber.

Für Dorothee Sölle drücken sich Religion und Theologie gleichermassen im Erzählen und Dichten, Bekennen und Beten sowie Denken und Reflektieren aus – Jesus muss ein ungemein eindrücklicher Weisheitslehrer gewesen sein, ein der poetischen Sprache mächtiger Geschichtenerzähler und Lebensmeister in prophetischer Tradition, der Gleichnisse schuf, die Weltliteratur wurden.

 

Neue Aufmerksamkeit für Religiös-Spirituelles

Englert plädiert dafür, die Zwischenräume zwischen positivem Glauben und religionskritischer Bestreitung auszuloten. Nicht länger steht in der Gegenwart der Gegensatz zwischen säkularistischer Religionsvergleichgültigung und christlichem Gottesglauben im Vordergrund, sondern das, was sich zwischen diesen Polen ereignet. Aktuelle Beispiele aus der Gegenwartsliteratur verdeutlichen das.

Einer der interessantesten Vertreter neuer Nachdenklichkeit hinsichtlich Gott, Religion und Transzendenz ist der katholisch sozialisierte Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger (geb. 1929). Gegenüber der religionskritischen Zurückweisung des Gottesglaubens in den 1950er, 1960er Jahren fällt in seinen Gedichtbänden seit den 1990er Jahren eine überraschende Neuakzentuierung auf.

Neben vielfältigen Bezugnahmen auf das biblisch-theologische Sprach- und Motivreservoir ist jetzt vom Lob des Alltäglichen die Rede, vom kontemplativen Staunen über die Vielfalt und Komplexität der Natur, vom Rätselhaften, Staunenswerten und Wunderbaren von Ich und Welt – Ulrike Irrgang spricht zu Recht von «agnostischer Schöpfungsfrömmigkeit» bei Hans Magnus Enzensberger.

Erstaunlich genug: Mit Erfahrungen der Gratuité, von «Gnade» («auch so ein Fremdwort, selten zu hören») und Verdanktheit («das Beste nämlich fällt uns / umsonst in Schoss und Mund») wirft dieser «Metaphysiker einer negativen Theologie» (so Biograf Jörg Lau über Enzensberger) neu die Frage nach einer Schöpfungsinstanz auf, ohne diese transzendente Dimension benennend festzulegen.

 

Überliefertes auf neue Resonanzen hin abklopfen 

«Nimbus» (1995) ist ein erhellendes Beispiel, wie Enzensberger theologische Wendungen aufgreift und neu befragt. Gerade im Religiös-Spirituellen gibt es gewachsene Ausdrucksformen, die Einzelnen die Deutung ihrer Erfahrung erleichtern, ja, sie allererst ermöglichen, wie Englert zu Recht betont.

Ein religiöses Weltbild, dem ein Wort wie «Nimbus» zugehört, gehört der Vergangenheit an. Als Zitat aus dem Lexikon kommt die damit gemeinte «Gegenwart des Göttlichen im Irdischen» heute meist nicht mehr im eigenen, sondern fremdem Sprachgebrauch vor. Doch gerade weil es nicht mehr den Charakter unhinterfragter religiös-kultureller Selbstverständlichkeit aufweist, gibt es neu zu denken:

Auch eines von diesen Worten,

die sich davongemacht haben, lautlos.

«Nebelhülle der Götter auf Erden,

Strahlenglanz.»

 

Nur unter Meteorologen

fällt es noch, gelegentlich,

wenn tiefhängende Regenwolken

über die Chemiesteppe ziehen.

 

An solchen Tagen gehe ich gern

ins Museum, oder, im Hochsommer,

in eine Kirche, wo es kühl ist,

und betrachte ungläubig

 

die Heiligenscheine.

 

An besonderen Präsenz- und Gedächtnisorten wie Museen oder Kirchen begegnen Gegenbilder und Gegenentwürfe zur Gegenwartserfahrung der vom Menschen ins Werk gesetzten Umweltzerstörung, wie sie die zweite Strophe mit den «tiefhängenden Regenwolken» über der «Chemiesteppe» aufruft.

Als Cumulo-Nimbus bezeichnen Meteorologen die Gewitterwolke, die massive Schauer und Hagel, ja, im Zuge des Klimawandels immer häufiger Wirbelstürme, Fallböen und Tornados bringen kann.

Dagegen lebt es sich im kühlen «Strahlenglanz» der «Heiligenscheine» in der Kirche gewiss angenehmer. Zumindest vermag die Bilderwelt der Kirche betrachtendes Staunen auszulösen, die Wahrnehmung einer Spur, ja, die Ahnung eines «Mehr», das den transzendenzverriegelten Alltag aufzubrechen verspricht – wieweit sich dies tatsächlich einstellt, lässt Enzensberger in der Schwebe.

 

Staunen über das, was ist

In «Genügsame Metaphysik» (2013) wird ein Verständnis von Metaphysik stark gemacht, das sich von «Esoterik» abgrenzt, dem die Sinneserfahrung transzendierenden «Übersinnlichen» jedoch so sehr zugeneigt ist, dass es beim unscheinbaren und zugleich faszinierenden Laubfrosch ansetzt:

Esoterik: nicht nötig. Das Übersinnliche:

gern, aber lieber portofrei und ganz in der Nähe.

Der Laubfrosch zum Beispiel. Nicht aus Blech

ist er, sondern feucht und kühl. «Natürlich»,

sagt der Nobelpreisträger, «hervorgegangen

aus Keimbahn, Glibber und Kaulquappe»,

aber wie er da atmet, glotzt und hüpft

und, wie Stanley, der Dichter sagt, «viel zu laut

für seinen kleinen Leib quakt:

Irrelevant, irrelevant, irrelevant»,

das geht über Swedenborgs Hutschnur.

Mit Hilfe einer Zitatmontage stellt Enzensberger dem rein naturalistischen Blick auf die Welt, wie ihn der Nobelpreisträger vertritt, den dichterischen Blick auf den Laubfrosch entgegen. Zitiert wird aus dem Gedicht «Frog» des amerikanischen Schriftstellers Stanley Moss, den Enzensberger ins Deutsche übersetzt und bekannt gemacht hat. Das Wunder des Laubfroschs – in anderen Gedichten: des Menschen – übersteigt jedes Verstehen. «Nicht neben oder über der Natur, dem Gegebenen oder Diesseitigen ist das Wundersame zu finden, sondern im Gegebenen selbst», erläutert Ulrike Irrgang.

Metaphysischen Fragen wird hier nicht das Totenglöckchen geläutet, vielmehr wird ihnen ein neuer Bedeutungsraum erschlossen. Zielte Meta-physik traditionell auf das «hinter der sinnlich erfahrbaren Welt Liegende», betont Enzensberger eine wahrnehmungsbasierte, im Staunen gründende Meta-physik, die sich «genügsam» darauf konzentriert, das Wunderbare im sinnlich erfahrbaren Wirklichen zur Sprache zu bringen. Die Unterscheidung von «Diesseits» und «Jenseits» wird damit «irrelevant» – der lauthals quakende Frosch weist die Eindimensionalität rein naturalistischer Weltbetrachtung als genauso «irrelevant» zurück wie die esoterischen Jenseitsvisionen eines Emanuel Swedenborg.

 

Geliehene Worte für ein Darüberhinaus

Über sieben Wochentage von der Diagnose bis zum Spitaleintritt verbindet Ruth Schweikert (geb. 1965) in ihrem Krebstagebuch Tage wie Hunde (2019) das «diffuse Konglomerat aus Ängsten und Scham», das sie selbst erlebte, mit Sterbens- und Überlebenserzählungen Anderer. Angesichts ihrer deutlich wahrnehmbaren Reserve gegenüber konfektionierten religiösen Deutungen fällt umso mehr ins Gewicht, wie die Schweizer Schriftstellerin Transzendentes mithilfe spiritueller Poesie benennt.

Eindringlich schildert sie die «umgekehrte Geburt» des mit nur 19 Monaten verstorbenen Sohnes einer Freundin, der ihr jäh «die Fragilität der menschlichen Existenz vergegenwärtigte». Daraufhin hört sie an die Hundertmal das «so beseelte wie populäre Kirchenlied» Amazing Grace nach, das die Eltern für die Abdankung auswählten. Es besingt eine Gnade, die das Fürchten lehrt und doch von Ängsten erlöst. Eine staunen machende Gnade, die sich im «In-Acht-Nehmen» des Augenblicks offenbart, wie vom Barockdichter Andreas Gryphius verdichtet: «Der Augenblick ist mein // Und nehm ich den in acht // So ist der mein // Der Jahr und Ewigkeit gemacht.»

Die ihr wichtige «Aufmerksamkeit für das Fragile, Beiläufige, Nebensächliche; für das unerwartete Glück» verdeutlicht Schweikert am Ende mit Leonhard Cohens Anthem: «Da ist ein Riss in allem, das ist der Spalt, durch den das Licht einfällt – durch feinste Haarrisse dringt es, das Licht, in die Dinge und macht ihre Kostbarkeit sichtbar». Ihren besonderen Wert erhalten sie gerade im Wissen um die Ungesichertheit menschlichen Daseins, im Innewerden «der eigenen Sterblichkeit»

Christoph Gellner

 

Rudolf Englert: Geht Religion auch ohne Theologie? Herder: Freiburg i. Br. 2020.

Ulrike Irrgang: «Das Wiederauftauchen einer verwehten Spur». Das religiöse Erbe im Werk Gianni Vattimos und Hans Magnus Enzensbergers, Grünewald: Ostfildern 2019.