Verlern-Prozesse gestalten – Bildung für eine Kirche im Umbruch

     

Die Kirche erlebt einen fundamentalen Umbruch. Verunsicherungen, aber auch neue Handlungsperspektiven kommen dabei ins Spiel. Die Kirchenleitung reagiert darauf u.a. mit neuen Anstrengungen im Bildungsbereich.

 

Kirche im Umbruch: Bildung als Reaktionsmuster

Wie in gesellschaftlichen Veränderungsprozessen gilt auch in der Kirche: Wissen ist eine zentrale Ressource für die Bewältigung von Transformationen; Bildung stellt dieses Wissen zur Verfügung. Nicht zuletzt sind auch Arbeitsmotivation und die Identifikation mit der Kirche notwendig, um Veränderungsprozesse zu gestalten. Auch hier gilt Bildung als Schlüssel zum Erfolg. Sie kann motivieren und Identifikation stärken.

Es ist also kein Zufall, dass die katholische Kirche ihre Bildungsangebote überprüft und die Bildungseinrichtungen neu organisiert. In der Deutschschweiz wird dabei dem Theologisch-pastoralen Bildungsinstitut eine impulsgebende Bedeutung zugemessen. Die Erwartungen sind hoch aber die Herausforderungen sehr komplex.

Wer in einer Situation tiefgreifenden Wandels wirksam und nachhaltig bilden und damit an der „Bildung des Wandels“ teilhaben möchte, muss diesen Wandel und seine Anforderungen gut verstehen.

 

Fundamentaler Wandel und Diskontinuität

Die gegenwärtigen Transformationsprozesse tragen Züge radikaler Diskontinuität. Es geht also nicht um einfache Anpassungen, wenn z.B. bei knapperen Mitteln eine im Wesentlichen gleiche Leistung erbracht werden soll (Bildung als Massnahme zur Effizienzsteigerung). Die Veränderungen betreffen längst die Fundamente. Mit reinen Optimierungsübungen ist hier nichts mehr zu machen. Genauso wenig reicht es, Bildung als top-down-Implementierung von neuen Pastoralprogrammen zu konzipieren. Dies würde ja voraussetzen, dass die Leitungsebene der Kirche noch eine unhinterfragte Autorität besässe, mit der sie die Richtung des Wandels in Kirche und Pastoral einfach vorschreiben könnte. Eher sieht es aber so aus, dass weder eine solche Autoritätsposition noch eine greifbare Gestaltungsidee für den Wandel vorliegen.

Die Diskontinuität des Wandels betrifft schliesslich das Kirchenbild selbst. Alte Vorstellungen verlieren an Plausibilität und neue Kirchenbilder sind kaum erkennbar bzw. so vielfältig, dass ein Konsens nicht sichtbar ist. Bei all dem geht es nicht nur um grosse ekklesiologische Entwürfe. Es geht um die alltagsrelevanten und tagtäglich handlungsleitenden Kirchenbilder in Gesellschaft, bei Kirchenmitgliedern und Kirchenmitarbeitenden. „Mismatch“ besteht hier auf allen Ebenen: pastorale „Kundenerwartungen“ passen nicht zum Seelsorgeangebot, Leitungsvorgaben werden vom Personal mit Unverständnis quittiert, die Sehnsucht nach klarer Orientierung scheitert stets von neuem an der Komplexität der Situationen.

 

Alte Kirchenbilder und veränderte Erwartungen

Zugleich zeigt sich eine Gefangenschaft in alten Kirchenbildern. Diese sind tief verwurzelt, aber sie verlieren an Funktionalität. Einige Beispiele: Die Realitäten von Religiosität und Spiritualität haben sich in der Schweiz massiv verändert. Dennoch sind kirchliche Stellenausschreibungen verblüffend immun gegenüber diesem Wandel. Wer die Stelleninserate von vor zehn oder zwanzig Jahren mit den heutigen vergleicht, gewinnt schnell den Eindruck: Wiedervorlage. Man reibt sich verwundert die Augen: Landpfarrei, Agglomerations- oder Stadtpfarrei – den neuen Pfarrer stellen sich offenbar alle gleich vor. Hier wirken Berufsklischees in den Köpfen und Routinen der Verantwortlichen nach, die weit von den tatsächlichen pastoralen Bedürfnissen entfernt sind. Dass die alten Berufsbilder längst obsolet sind, zeigt auch die Kampagne „Chance Kirchenberufe“. Sie macht deutlich, dass die kirchlichen Berufe kaum profiliert darstellbar sind und nur von Einzelpersonen mit ihren je eigenen Schwerpunktsetzungen illustriert werden können.

Weitere „mismatches“ betreffen ein traditionelles Geschäftsmodell der Seelsorge: die Heilsvermittlung durch Sakramente. Was im Kontext einer weit verbreiteten Sorge um „ewiges Leben“ noch vermittelbar war, ist heute schwer an den Mann und an die Frau zu bringen. Die Kirchenstatistik zeigt jedenfalls, dass die einst unbedingt heilsrelevanten Sakramente massiv an Nachfrage verloren haben. Auch neuere Deutungsversuche der Sakramente, z.B. die Eucharistie als Mahlgemeinschaft der Gemeinde zu betonen, verlieren an Plausibilität. Denn auch die Gemeindeidee findet, gemessen an den Zahlen der Gottesdienstbesucher und Pfarreiaktiven, immer weniger Anklang.

Damit zeigt sich auch in einem dritten Feld eine Diskontinuität: Die dominante Sozialform der Kirche, die Pfarrei, erleidet massive Bedeutungsverluste. Dennoch wirkt das Pfarreidenken immer noch nach, trotz grösserer Organisationsformen der Pastoral. Der Abschied vom Pfarreikonzept mit seinen spezifischen Funktionen und Rollen bleibt zäh.

 

Veränderungskomplexität

Gerade die Seelsorgenden sind hier mit komplexen und widersprüchlichen Situationen und Erwartungen konfrontiert. Dennoch müssen sie tagtäglich Handlungsspielräume offenhalten und gestalten. Hier gilt es zu bilden – und auszuhalten, dass es dabei nicht darum geht, auf ein neues Kirchenbild hinzubilden, weil es dieses nämlich gar nicht gibt.

In dieser Situation mit eher chaotischen statt linearen Veränderungen müssen sich kirchliche Bildungsangebote bewähren. Dabei gilt auch für diese Angebote selbst Diskontinuität. Das einfache Fortschreiben und sanfte Weiterentwickeln bestehender Bildungsformate kommt an ein Ende. Blosse Anpassungsleistungen bei Formen und Inhalten reichen nicht mehr aus.

Wenn Bildung für kirchliche Mitarbeitende einen echten Beitrag zur Bewältigung der bestehenden Transformationsherausforderungen bieten soll, sind viele Ebenen zu berücksichtigen.

 

Verlernen als Bildungsziel

Zentral wäre zu akzeptieren, dass Bildungsprozesse nicht mehr als „Einfügungsprozesse“ in kirchliche Selbstverständlichkeiten und Handlungsroutinen funktionieren. Gerade diese lösen sich ja mehr und mehr auf. Dennoch ist Handlungsfähigkeit notwendig. Es geht dabei aber nicht um die Bewältigung eines Übergangs von alten zu neuen Sicherheiten, sondern um die Bewältigung des Wandels von alter Sicherheit zu anhaltender Unsicherheit. Wer hier Handlungsspielräume gewinnen möchte, muss vor allem lernen, sich von langjährig antrainierten Sichtweisen und Handlungsgewohnheiten zu lösen. Sonst fliesst immer mehr Energie in das Bemühen um den Erhalt letzter Biotope kirchlicher Vergangenheit. Dies mag hier und da gelingen, aber es verhindert die Fähigkeit der Kirche zur zeitgenössischen Solidarität mit den Menschen, deren Alltag ja auch in ständigen Veränderungen besteht – mit allen Chancen und Risiken. Kurz, das erste Bildungsziel heisst: Verlernen.

 

Verlernen braucht Zeit

Verlernen braucht Zeit. Dies muss sich in der Bildung niederschlagen. Verlernprozesse benötigen Zeit für Erfahrungen und für ihre Interpretation. Diese darf nicht nur in „Trauerarbeit“ erstarren, sondern muss auch das Erleben von „Freiheitszuwachs“ durch neue Handlungsspielräume ermöglichen.

 

Üben als Bildungsform

Verlernen braucht Übung. Lange eingeübte Selbstverständlichkeiten und Routinen müssen aktiv verlernt werden – wie die Gewohnheitsmuster von Rauchern, die lernen müssen, dass dem Kaffee nicht automatisch eine Zigarette folgen muss. Das Verlernen beginnt im Kleinen des Pfarreialltags, in den Mikro-Gewohnheiten und Rollenselbstverständlichkeiten, die es zu beobachten, zu analysieren und zu verändern gilt. Das braucht Wiederholungen und Übungen. Verlernen ist harte Bildungsarbeit, die die Betroffenen ganzheitlich herausfordert.

 

Verlernen verlangt Spiritualität

Verlernen ist mehr als nur Kopfsache. Es geht um Gefühle, die das tägliche Handeln begleiten, und um den Habitus, der mit einer bestehenden Rolle verwachsen ist. Nicht zuletzt geht es um Spiritualität. Bildung als Verlernprozess ist eine sehr spirituelle Aufgabe und absolut nicht frei von persönlichen Risiken.

 

Verlernen braucht Aussicht auf Neues

Niemand gibt Liebgewordenes ohne Hoffnung auf Ersatz ab. Die Aussicht auf Neues muss realistisch sein. Dies verlangt eine Grundhaltung in der Kirche, dass sich wirklich etwas ändern darf und soll, und schliesst die Offenheit dafür ein, Altes wirklich aufgeben und sich auf Neues einlassen zu wollen.

 

Experimentieren braucht Vertrauen

Offene Veränderungssituationen, deren Entwicklung niemand voraussagen kann, benötigen Vertrauen als Voraussetzung für Bildung. Niemand kann sich auf Neues einlassen, wenn es dazu im Umfeld keine Kultur des Vertrauens gibt. Diese signalisiert den Willen zur Veränderung ebenso wie Offenheit für Experimente und deren mögliches Scheitern. Wer Personal in Bildungsprozesse schickt und zugleich Veränderungen und ihre Risiken fürchtet oder nicht bereit ist, in Vertrauen zu investieren, sollte Bildung lieber umgehen.

Wenn die Kirche angesichts der Transformationsprozesse auf Bildung setzt, so ist das gut. Aber es braucht einen Vertrauensvorschuss und Mut.

 

Arnd Bünker, SPI