Seelsorge: die Kunst der Künste

     

Im Rückgriff auf die Metaphorik von Gott als Arzt (Ex 15,26) und Christus als Medicus stellte Papst Gregor (540-604) in seinem Standardwerk zur Ausbildung und Formung von Seelsorgenden aus dem Jahr 590 heraus: Was für die ärztliche Heilkunst gilt, müsse in noch höherem Masse für die Seelsorge gelten! Die Sichtweise der modernen Medizin bis hin zur Psychosomatik kann dabei noch nicht vorausgesetzt werden. Doch dürfte ein Verständnis von Seelsorge als ‚cura animarum‘, die biografisch-geschichtliche, geistig-kulturelle und gesellschaftlich-politische Dimensionen, insofern jede Menge Leibsorge einschliesst, auch heute Zustimmung finden.

Seelsorge als Kunst der Künste: Damit wird ein Anspruch benannt: die vieldimensionale Sorge um Leib, Geist und Seele weist eine höhere Komplexität auf als die ärztliche Heilkunst, die sich auf die körperliche Gesundheit konzentriert. Dafür braucht es die richtige Kenntnis als auch das nötige Können, Wissen und praktische Erfahrung, ein anforderungsreiches Kompetenz- und Rollenprofil.

 

Bergen und freigeben

Seelsorge als „die Kunst der Künste“ verknüpft Leidenschaft mit Professionalität: So heisst es programmatisch im lesenswerten 100. Band der „Studien zur Theologie und Praxis der Seelsorge“[1]. Gleich eingangs verweist der emeritierte Würzburger Pastoraltheologe Erich Garhammer auf eine Turminstallation, die Friedhelm Mennekes von dem englischen Künstler Martin Creed an der Jesuitenkirche St. Peter in Köln anbringen liess unter dem Titel: „Don’t worry“.

Die meisten Besucher der ausgedehnten Wellness-Landschaft des nahegelegenen Agrippa-Bades assoziierten damit wohl das Lebensgefühl der Erlebnisgesellschaft: „Don’t worry, be happy“. Wer sich die Mühe machte, die Aufschrift auf den anderen Turmseiten zu entdecken, konnte in verschiedenen Sprachen lesen: „Sorge dich nicht“ – ein Wort Jesu aus der Bergpredigt (Mt 6,25f).

Diese Installation, so Garhammer, „ist eine Intervention: Seelsorge soll zunächst wahrnehmen, dass wir uns viele Sorgen machen, aber in einem Punkt allzu unbesorgt sind, nämlich was die Reich-Gottes-Sorge angeht. Reich-Gottes-Sorge beinhaltet zwei prinzipielle Dimensionen: Gratuität und Barmherzigkeit. Gratuität, d.h. das Wichtigste können wir nicht selber machen und uns auch nicht verdienen, d.h. wir alle leben aus der Vergebung und die einzig zulässige Hierarchie, die es geben kann, ist das Mehr an Barmherzigkeit […] Seelsorge im Sinne von Reich-Gottes-Sorge ist also kein Aktivismus, kein Verschulungsprogramm, keine Beschäftigungstherapie, sondern Eröffnung eines Raumes, wo ich und die anderen Luft bekommen und atmen können, ganz im Sinne von Reiner Kunzes Gedicht ‚Pfarrhaus‘.

 

Wer da bedrängt ist findet

mauern, ein

dach und

muss nicht beten

 

Seelsorge ist also zunächst Schutzraum, Asylort ohne Nötigungsdruck zum Frommsein und ohne Bekehrungshintergedanken. Seelsorge ist Ermöglichung zum Aufatmen, zum Luftholen, wo eigentlich alle Zeichen auf Durchdrehen stehen (Zerfass). Seelsorge treibt die Dämonen aus, den Dämon: ‚du musst funktionieren‘, den Dämon ‚du musst okay sein‘, überhaupt den Dämon ‚du musst‘ […] Theologie und Praxis von Seelsorge wollen etwas von diesem Paradox der Seelsorge inszenieren: Handeln ist kein Erdrücken, Freiraum geben aber auch keine interesselose Distanz. Seelsorge ist ein Paradox: das Junktim zwischen Naivität des Herzens und Professionalität der Methode.“ (16f., 19)

 

Orte zeitgemässer Nähe

Unmöglich, die in dem Jubiläumsband in Blick genommenen Handlungsfelder und Orte von Seelsorge hier zu resümieren. Die weiter steigende Bedeutung etwa der Spitalseelsorge, der christlichen Hospiz- und Palliativkultur wie der Notfall-Seelsorge, sie geben auch bei uns in der Schweiz zu reden. Im säkular und pluralistisch geprägten Gesellschaftskontext markieren interkulturelle und interreligiöse Seelsorge in öffentlichen Institutionen ganz neue Herausforderungen, dies beleuchtet der PRISMA-Beitrag von Dorothee Foitzik.

Die Zukunft der Seelsorge – darauf bezogene wichtige Einsichten des Bandes will ich kurz referieren – ist eng verknüpft mit der künftigen Sozialgestalt von Kirche. Martin Lörsch umschreibt sie mit dem früheren Freiburger Erzbischof Robert Zollitsch als „pilgernde, hörende und dienende Kirche“ (90).

Seelsorgende sind Schlüsselpersonen der Kirchenentwicklung, stellt Christine Schrappe heraus. Als Teil ihrer Berufsbiographie haben nicht wenige eine Schwerpunktverlagerung erlebt „weg vom Mühen um Belehrung und Rekrutierung hin zu einem Verständnis der begleitenden und mystagogischen Seelsorge“.

Im Zuge der Errichtung grösserer pastoraler Räume arbeite heutiges hauptberufliches Seelsorgepersonal in neuen pastoralen Zielkonflikten: „Kirche ereignet sich nicht nur in Gemeinschaft, sondern auch in der Dienstleistung […] Gemeinde als basisnahe erlebbare Sozialform soll erhalten bleiben, gleichzeitig soll ortsübergreifende Netzwerkarbeit die Präsenz von Kirche im Sozialraum erhöhen. Nähe erhalten und Weite gestalten, Tradition wertschätzen und Innovation ermöglichen: in diesem Spannungsfeld befinden sich Seelsorgende, wenn sie sich an einem Tag zwischen Trauergespräch und Religionsunterricht, rundem Tisch ‚soziale Stadt‘ und abendlicher Planung der Fronleichnamsprozession im Liturgieausschuss bewegen.“ (91f.)

Seelsorge und Pastoral sind nach wie vor nicht ohne Gemeinde vorstellbar, unterstreicht Martina Blasberg-Kuhnke: „ Die Gemeinde bildet aber längst nicht mehr den einzigen und privilegierten Ort der Seelsorge in einer kultur- und religionspluralen Gesellschaft.“ (155) Gemeindekatechese z.B. kann nicht mehr von der kontinuierlichen ‚Betreuung‘ von der Wiege bis zur Bahre ausgehen, vielmehr werden auch diskontinuierliche Glaubenswege wahrgenommen und begleitet, religiöse Bildungsprozesse sind heute zielgruppen- und milieuorientiert anzugehen.

Mittlerweile haben ganz neue Orte zeitgemässer Nähe, formulieren Thomas Schüller und Michael Böhnke, pastoraltheologische Aufmerksamkeit erhalten: Bahnhöfe, Gefängnisse, Flughäfen, Innenstädte als Orte einer Geh-hin-Pastoral oder auch kirchliche Bildungs- und Auszeithäuser, Klöster und Zentren geistlichen Lebens, wo Menschen in ihrem Leben angetroffen werden können. Mit diesen neuen Gelegenheiten von Kirche verbindet sich die Erwartung, „kirchenferne Milieus, die durch Pfarrgemeinden nicht mehr erreicht werden können, wieder zu erreichen“ (74).

 

ÜbergangsbegleiterInnen gefragt

„Die grosse Mehrheit der Gläubigen widersetzt sich den pastoralen Hereinforderungen und gemeinschaftsbezogenen Vereinnahmungsversuchen und sucht die rituelle Lebensbegleitungskirche.“ (92) Die kasualienbezogene Kirchlichkeit der Mehrzahl der Kirchenmitglieder deutet Christine Schrappe wertschätzend so: „Der Referenzpunkt ist nicht die kirchliche Gemeinschaft, sondern die eigene Biografie und die Familie. Von Seelsorgenden wird qualitätsvolle, anlassbezogene, biografierelevante Begleitung als professionelle Dienstleistung erwartet. Seelsorge ist immer weniger an territorial verfasste Organisationsräume und vorgegebene Zeiten gebunden. Orte und Handlungsfelder von Seelsorgenden verflüssigen sich.“ (93)

Pastorale Bilder von ‚Herde‘ oder ‚Weinberg‘ taugen immer weniger, da sie Überschaubarkeit und eingrenzbare Territorien suggerieren, während zeitgenössische Pastoral von Entgrenzung und offenen polyzentrischen Netzwerken geprägt wird. Umso wichtiger sind Seelsorgende als ÜbergangsbegleiterInnen, die Menschen und Gruppen helfen, anstehende Veränderungen positiv zu gestalten. Wie den Kirchen an den persönlich relevanten Übergängen im individuellen Leben noch immer grosse Kompetenz zugetraut wird, sind ÜbergangsbegleiterInnen gefragt, die die kirchlichen Umbruchs- und Abschiedsprozesse spirituell und fachlich-praktisch begleiten, zukunftsgerichtete Visionen von Kirche entwickeln und neue Priorisierungen vorzunehmen helfen.

Gefragt sind Netzwerkbeauftragte und pastorale RaumpflegerInnen, so Schrappe, die den Blick auf grössere Lebensräume lenken, sich um den Aufbau tragfähiger Kommunikationsstrukturen sorgen und Betroffene zu Beteiligten ermächtigen. „Statt (pastorale) Menüs zu planen, in der Hoffnung, dass diese ‚schmecken‘, geht der erste Blick in den ‚Kühlschrank‘ (vorhandene Ressourcen) und auf die eingeladenen Gäste und deren ‚Mitbringsel‘.“ (98) Pontifex-Qualitäten sind gefragt, wenn es darum geht, Pfarreien, Verbände, soziale Einrichtungen, freie Initiativen für Kooperationen zu gewinnen. Scheinbar zufällige Begegnungen erfordern hohe Sensibilität, Auskunftsfähigkeit in kurzer Zeit und sprachliche Anschlussfähigkeit „zwischen Tür und Angel“ (101).

„Das Bild des Seelsorgers wandelt sich mit der Vervielfältigung der Biografien“, beobachtet Katharina Karl. „Lange schon gibt es keine kirchliche Normalbiografie mehr, die Akteure der Pastoral sind ‚Kinder ihrer Zeit‘, die den Anspruch an individuelle Verwirklichung und Stimmigkeit mit in den Beruf bringen und eigene Glaubensstile entwickeln.“ (124) Zu den etablierten pastoralen Berufsgruppen kommen neue kirchliche Tätigkeitsprofile hinzu. Damit dies möglich wird, darf das pastorale Personal nicht in die „alten Schläuche“ vorhandener Berufsbilder und Stellenpläne gepresst werden, fordert Christoph Jacobs. Zur Weitung der Seelsorgebilder gehört nicht zuletzt die von Johann Pock aufgeworfene Frage, was das Spezifische der priesterlichen Rolle im Kontext der vielen Seelsorgerinnen und Seelsorger sein kann.

Angesichts all dieser Verflüssigungen plädiert Katharina Karl dafür, Abschied von dem einen Leitbild zu nehmen. Das paulinische Wort „allen alles zu werden“ (1 Kor 9,19) stelle eine Überforderung dar, wenn Ausbildung und Erwartungen suggerieren, dass Seelsorgende in der Lage sein müssten, „sich chamäleonartig allen und allem anzupassen und alles in gleich hoher Qualität zu beherrschen […] Eine Ausdifferenzierung des Berufsbildes wird in die Breite gehen und Nischen eröffnen, um situativ und kontextuell Begegnungsräume zu schliessen, in denen alle am Seelsorgegeschehen Beteiligten mit ihren Biografien vorkommen.“ (130)

 

[1]Erich Garhammer, Hans Hobelsberger, Martina Blasberg-Kuhnke, Johann Pock (Hgg.), Seelsorge: die Kunst der Künste. Zur Theologie und Praxis von Seelsorge, Würzburg 2017, 7.