Glaubensräume – Topologische Dogmatik

     

Hans-Joachim Sander, Glaubensräume – Topologische Dogmatik. Band 1: Glaubensräumen nachgehen

Schon ein Blick ins Inhaltsverzeichnis zeigt, dass wir hier nicht eine gewohnte Einführung in die Dogmatik vor uns haben. Eine solche beginnt mit den klassischen Einleitungsfragen zur Dogmatik allgemein, um dann die einzelnen dogmatischen Traktate systematisch zu verhandeln. Im vorliegenden Buch dienen die Einleitungsfragen einzig dem Ziel, den Ansatz einer topologischen Dogmatik zu erläutern. Und letztere hat es in sich. Sie ist aber nicht einfach zu verstehen. Im Rahmen dieser kurzen Besprechung kann ich nur wenige Einsichten aus dem 400 Seiten starken Buch festhalten.

 

Beginnen wir hinten. Sander geht es darum, das Überraschende des Glaubens und der Glaubensinhalte freizulegen. Das geht nur, wenn man anerkennt, dass „glauben“ ein relativer Vollzug ist und dass dieser seine Kraft, seine Lebenstauglichkeit, aber auch seine Widerständigkeit erst dort entfaltet, wo er konkret gelebt wird bzw. werden muss. Glauben ist relativ zu den konkreten Lebens- und Glaubensräumen. Sander bezieht sich hier auf Melchior Canos Lehre von den „loci theologici“, also den theologischen Orten. Und sein Focus richtet sich auf die „loci alieni“, also auf die anderen, die fremden Orte. In diesen fremden Orten muss der Glaube gelebt werden und sich bewähren. An diesen Andersorten verändert sich der Glaube selbst und gewinnt spezifische Konturen. Erst wenn wir diese fremden Orte oder Räume erkunden, wird der Clou von „glauben“ sichtbar. Deshalb dreht sich fast alles um das „Wo“. Während traditionell die Dogmatik unabhängig vom Wo nach dem „Was“ des Glaubens, dem Glaubensinhalt, und nach dem „Wer“, also dem Subjekt, das glaubt, gefragt hat, gelangt man nach Sander erst in der Konfrontation von „glauben“ und seinem „Wo“ zu neuen, überraschenden Einsichten und Zusammenhängen. Die oft befremdlichen Orte (lat. loci; gr. topoi – deshalb topologische Dogmatik), an denen sich menschliches Leben und damit auch christliches Glauben abspielen, prägen die Glaubensvollzüge und die Glaubensinhalte nachhaltig. Wenn wir diese Lebens- und Glaubensräume näher erkunden, zeigt sich uns überraschend Neues, das unseren bisherigen Horizont überschreitet.

 

„… der Lebens-Raum nötigt, über das hinauszugehen, worin man selbst sicher und erfahren ist. Er stösst in etwas Unbekanntes, das gleichwohl mitten in diesem räumlichen Bezug da ist.“ (378)

Wenn von hier aus Glaubensvollzüge und Glaubensinhalte erkundet und erschlossen werden, spricht Sander von Abduktion. Gegen die deduktive Vorgehensweise, die Erklärungen für dogmatische Grundpositionen direkt aus der Schrift, der Tradition oder gar dem Lehramt ableitet, und gegen induktive Ansätze, die bei den Erfahrungen der Menschen ansetzen und von daher den Gehalt von Glaubensaussagen als passgenau erweisen wollen, geht es Sander – gestützt auf den US-amerikanischen Philosophen Charles S. Peirce – um einen abduktiven Weg. Er entführt die Leserinnen und Leser sozusagen in unbekanntes Gelände, an die unbekannten, fremden und befremdlichen Orte (Topoi), an denen Glauben gelebt wird und sich bewähren muss. Dadurch werden bisherige Selbstverständlichkeiten durcheinandergebracht, und die Sachlage wird komplexer. Das ist der Preis, um neue Einsichten zu gewinnen.

 

An vier dogmatischen Grundthemen exemplifiziert Sander diesen Ansatz. Sträflich verkürzend versuche ich, in wenigen Sätzen seine Suchrichtung wenigstens anzutönen.

  • Warum entsteht ausgerechnet im Exil der Glaube an die Welt als gute Schöpfung Gottes? Weil dort die tödliche Übermacht der Grossmächte das Volk im Exil komplett ohnmächtig macht und weil ein souveräner Schöpfergott, der sogar Herr über das Nichts ist (Schöpfung aus dem Nichts), einen Ausweg aus dieser quasi naturgegebenen Erfahrung offenhält.
  • Was bedeutet es für den Menschen, dass er vorwiegend in Städten lebt, dass also eine urbane Bevölkerung sein primärer Lebensraum ist? In den Städten und besonders den heutigen Megacities ballen sich die menschengemachten Probleme, die krassen Unterschiede zwischen Zentrum und Peripherie, die fehlende Verteilungsgerechtigkeit. Ein Fluch scheint auf der Menschheit zu liegen. Die Bibel hält eine spirituelle Ressource bereit, um dem Fluch nicht ausgeliefert zu bleiben, weil Gott ihn in Segen zu wandeln versteht (vgl. bes. die paulinische Rede vom Kreuz).
  • Wie kommt die Kirche weg davon, die Gnade (im Fahrwasser von Augustinus und den traditionellen Gnadentraktaten) als Herrschaftsinstrument zu sehen und über deren Verteilung zu wachen? Nur, indem sie sich radikal zu relativieren beginnt. Dies ist die Errungenschaft des Zweiten Vatikanischen Konzils. Kirche versteht sich nicht mehr als societas perfecta, sondern als pilgerndes Volk. Pilgernde gehen bewusst in die Fremde, um sich neu sehen und kennen zu lernen. Dort, in der Fremde, lässt sich auch die Gnade der Anderen entdecken. Das geht einher mit einer Universalisierung der Gnade und mit dem Glauben an den allgemeinen Heilswillen Gottes.
  • Weshalb lässt das Eschaton alles in einem neuen Licht erscheinen? Weil es der Ort Gottes ist. „Darum geht es bei der Theologie der Letzten Dinge.“ (244) In dieser Perspektive erzählt die Apokalypse des Johannes eine Gegengeschichte, in der die Nichtigkeit des Bestehenden geschildert wird und im Buch des Lebens eine Alternative aufscheint. Apokalypse relativiert alles. Und zwar handfest: Babylon/Rom geht unter, das neue Jerusalem kommt von Gott her. Der urbane Grundzug des Zusammenlebens freilich bleibt – aber göttlich gewandelt.

Schöpfungslehre und theologische Anthropologie, Gnadentraktat und Eschatologie sind damit bereits im Ansatz skizziert. Das macht Lust auf mehr, auf genauere Tiefenbohrungen und systematische Einordnungen, was bestimmt auch vorgesehen ist.

 

Didaktisch wäre es – gerade auch angesichts des sehr anspruchsvollen Buchinhalts – wünschenswert, wenn dem Leser/der Leserin etwas mehr Verstehenshilfen geboten würden. Es gibt Abschnitte von zwanzig und mehr Seiten ohne Zwischentitel; eine feinere Gliederung könnte dem Verstehen dienen. Und inzwischen ist es selbst bei klassischen dogmatischen Handbüchern üblich geworden, gewisse Zusammenhänge mit Schemen oder Schaubildern zu veranschaulichen.

 

„Glaubensräume“ ist der erste Band einer auf vier Bände geplanten topologischen Dogmatik, die Hans-Joachim Sander gemeinsam mit Gregor-Maria Hoff vorlegen will. Wie es weitergeht, wissen wir nicht. Es gibt öffentlich keine Skizze der Themen der nachfolgenden drei Bände. Aber wir dürfen gespannt sein auf die inhaltliche Durchführung dessen, was im ersten Band skizziert wird.

Felix Senn

Hans-Joachim Sander, Glaubensräume – Topologische Dogmatik. Band 1: Glaubensräumen nachgehen, Ostfildern 2019 (Grünewald-Verlag), ISBN 978-3-7867-3021-7