Religionspädagogische Tagung Luzern 2019

     

Von der Wahrheit und anderen Lügen

Das erste Referat hielt Prof. Dr. Elke Pahud de Mortanges, Professorin für Dogmatik und Dogmengeschichte an der Universität Freiburg im Breisgau und Lehrbeauftragte für Gender Studies an der Universität Freiburg i. Ü. Sie zeigte auf, dass Religionen und religiöse Systeme Antworten auf die Grundfragen des Menschseins geben, auf das Wohin und Wozu des Menschen. In der Regel treten Religionen mit dem Anspruch auf, eine Wahrheit für alle Menschen anzubieten, bezogen auf das Menschsein schlechthin.

Im Hinblick auf das Verständnis von „Wahrheit“ unterschied die Referentin zwei Paradigmen, denen sich theologische Ansätze zuordnen lassen, das Paradigma A der „Propositionale(n) Wahrheit“ und das Paradigma B der „Konstruktive(n) Wahrheit“. Im Paradigma A wird der Begriff „Wahrheit“ als Tatsachen-Begriff genutzt und bezeichnet meist ein Gebäude aus Sätzen und Lehren. Das Verhältnis zu den Religionen/Wahrheiten der „Anderen“ bestimmt sich im Paradigma A durch die Abgrenzung. Wir haben die Wahrheit ganz. Deshalb brauchen wir die Wahrheit der Anderen eigentlich nicht. Diese haben die Wahrheit nur, insofern sie so sind wie wir bzw. an unsrer Wahrheit partizipieren (Stichwort: anonymes Christentum, was an Heiligem und Wahrem dort zu finden ist).

Das Paradigma B der „Konstruktive(n) Wahrheit“ hingegen versteht Wahrheit als einen Such-Begriff. „Wahrheit“ wird unter dem Gesichtspunkt der Viabilität betrachtet. Ein auktorialer Standpunkt ausserhalb der Wirklichkeit existiere nicht (mehr).

Das Christentum, wie auch andere Religionen, biete eine Topografie auf dem Weg der Suche und der Bewährung (und auch des Scheiterns) der Antworten. Religionssysteme und kulturelle Systeme wie Kunst, Literatur, Film etc. bieten Versuche an, Theologisieren ist „map making“. Erzählungen, Riten und Lehren sind Vermessungen der Welt. Sie sind Kartographie der Wege, die Orientierung bieten, Sinn vermitteln, von Hoffnung erzählen. Diese Erzählungen beharren auch angesichts von Situationen der Ohnmacht auf dem Möglichkeitssinn. Aus dieser Perspektive hat die Wahrheit der Anderen das gleiche Recht auf Existenz wie die meine. So verstanden haben sogar Lügen einen eigenen Wert als sogenannte kontra-faktische Wahrheit, wenn sie Hoffnung schaffen, wie dies im Fall des Protagonisten Jakob in der Erzählung von Jurek Becker geschieht[1].

 

Wahrheit auf Bewährung. Religionspädagogische Resozialisation einer Übermütigen

Im zweiten Referat bot Dr. Andreas Kessler, Studienleiter Religionslehre und Lehrbeauftragter an der Universität Luzern, einen vertieften Zugang zum Thema aus religionspädagogischer Perspektive. Mit dem Bild der „übermütigen Wahrheit“, verstanden als Gegenständlichkeit, schloss er an das vorher bestimmte Paradigma der „propositionalen Wahrheit“ an.

Anhand zweier Kurzfilme zeigte er auf, dass es von den unterschiedlichen Standorten aus zwischen Menschen zu sogenannten „Vergegnungen“ statt Begegnungen kommen kann. Dies gilt speziell in der Kommunikation von erwachsenen Menschen mit Kindern und/oder Jugendlichen, wenn sie vor dem Hintergrund eines Verkündigungsauftrags das Gespräch über Fragen des Menschseins und der Transzendenz suchen, aber beispielsweise deren Präkonzepte nicht erheben. In der „Vergegnung“ besitzt die verkündigte „Wahrheit“ keine Anschlussfähigkeit zu den lebensweltlichen Erfahrungen.

Vom Standort der „übermütigen“ Wahrheit läuft Verkündigung Gefahr, supra-rational-faktische Welten zu schaffen, weil sie die lebensweltliche Wahrnehmung eher verdoppeln als sie zu deuten. Die „übermütige“, weil gegenständlich verstandene, Wahrheit sei jedoch für viele Menschen ins Gefängnis der Bedeutungslosigkeit geraten. Die Religionspädagogik kann einen Versuch der „Resozialisation“ anbieten, wenn sie die Bearbeitung der Wahrheitsfrage im Modus des Fragens, des elementaren Ringens, im Dialog in Bescheidenheit wagt.

Aus religionspädagogischer Perspektive verstehe sich Wahrheit in „Hoffnungsgestalt“. Christliche Traditionsbestände seien Hoffnungsmythen, die auf Verlebendigung, auf kreativen Umgang damit und auf Beheimatung drängen. Die „Wahrheit auf Bewährung“ kann sich jedoch nur im Bewusstsein der Uneindeutigkeit und Ambivalenz des Menschen und des Nachdenkens über Gott bewähren. Sie bewährt sich in der Aktualisierung der Theologumena in ihrer Symbol- und Bildhaftigkeit, dies in Analogie zur Poesie, die Menschen ergreift oder berührt.

Ausgehend vom speziellen Wahrheitsanspruch, den das Christentum von der Inkarnation ableitet, entwickelte Kessler den Gedanken, man könne Inkarnation als konstruktive Wahrheit verstehen. Er verwies auf die Deutung, dass Gott in der Inkarnation auf seine Attribute der Macht endgültig und unwiderruflich verzichtet habe und der Mensch in Freiheit und Überforderung sich selbst aufgetragen ist. In Jesu Wirken zielten die Interventionen immer darauf ab, Menschen zu ermöglichen, in ihren Lebenserzählungen ein neues Kapitel aufzuschlagen. Inkarnatorisches Christentum interessiere sich prinzipiell für die Lebenserzählungen der Menschen, es integriere Menschen in Erzählgemeinschaften und begrenze die Erzählungen, die die Lebenserzählungen der anderen gefährdeten. Es provoziere auch im Blick auf gesellschaftlich normierte, autonomiegefährdende Narrationen und wirke insofern nicht-diskriminierend und anti-ideologisch.

 

Vertiefung in den Workshops vom Nachmittag

In sieben Workshops hatten die Teilnehmenden die Möglichkeit, sich mit verschiedenen Aspekten des Blicks auf Wahrheit(en) und des Umgangs mit Wahrheit auseinanderzusetzen.

Im Atelier „Kunst und Wahrheit. Ästhetisch-theologisches Lernen mit Engel(bilder)n“ ging Dr. Andreas Kessler der Wahrheit des Symbols „Engel“ auf die Spur, ohne jedoch die Engel theologisch zu „Gegenständen“ zu machen. Engel werden in den Künsten vielfach dargestellt und interpretiert, die Bilder und künstlerischen Gestaltungen eröffnen so einen Raum für die Wahrheit des Symbols.

Die Gesprächsrunde zum Hauptreferat mit Prof. Dr. Elke Pahud de Mortanges bot Raum zum Nachfragen, kritisch Diskutieren, Weiterfragen und Vertiefen. Man vertiefte beispielsweise die Frage: Wer hat Macht, um welcher Wahrheit zum Recht zu verhelfen?

Im Atelier „Was ist das Wahre an der Bibel?“ mit Dr. Winfried Bader, Dozent für Altes Testament am TBI, wurden biblische Texte gelesen und im Spannungsfeld der unterschiedlichen Wahrheiten diskutiert: „Wahrheit – was ist das?“ (Joh 18,38, Basisbibel). Die Bibel erzählt von Gott in Bildern und Ereignissen der Weltgeschichte. Ist es wichtig, dass etwas historisch „wahr“ ist – im Sinne von „dokumentarisch belegt“ -, um Zugang zum Glauben an den „wahren“ Gott zu eröffnen?

Bezogen auf den Umgang mit religiöser Vielfalt in Jungwacht Blauring (Jubla) zeigte Bundespräses Valentin Beck auf, im Atelier mit dem Titel «Glauben leben» als gemeinsamer Nenner. Seit Jahrzehnten führt die Jubla interne/externe Diskussionen, wie implizit/explizit Glaubensfragen thematisiert und Kirche-Sein verstanden werden können, ohne das Gleichgewicht zwischen konfessioneller Offenheit und Verbundenheit zum Christlichen zu verlieren. Die aktuelle Haltung und ihre praktische Umsetzung wurden anhand des neuen Hilfsmittels «schub.glaubenleben» aufgezeigt und ausprobiert.

Im Gottesdienst sind christliche Glaubenswahrheiten in Handlung übersetzt, sie sind konkret, hier und jetzt mitten in einer Gemeinschaft. Dr. Gunda Brüske vom Liturgischen Institut ging mit den Teilnehmenden des Ateliers „Wenn Gottes Dienst wahr wird. Gottesdienst feiern in Wahrheit und Wahrhaftigkeit“ der Frage nach: Kurze Impulse und praktische Übungen dienten dem Transfer in die Praxis, beispielsweise zur Gestaltung von Gottesdiensten.

Benno Bühlmann, Lehrer an der Kantonsschule Alpenquai Luzern, geht davon aus, dass im konfessionsneutralen Unterricht die «Wahrheitsfrage» letztlich nur im respektvollen Dialog angegangen werden kann. Im Atelier „Meine Religion – deine Religion, meine Wahrheit – deine Wahrheit – wie gehen wir damit um?“ wurden deshalb vielfältige methodische Ansätze vorgestellt, die auch auf andere Arbeitsfelder mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen übertragbar sind.

Religiöses Lernen gewinnt Relevanz, wenn es gelingt, Botschaft und eigenes Leben zusammen zu bringen. Beim Theologisieren mit Kindern soll genau das ermöglicht werden. Judith Furrer Villa, Leiterin der Fachstelle Religionspädagogik Bern, führte ein in die Methode „Godly Play/ Gott im Spiel“ und zeigte exemplarisch auf, wie das Theologisieren Zugänge zur eigenen Lebenswahrheit eröffnet.

 

Begleitet wurde die Tagung von Frau Dr. Tika Statis alias Beatrice Mock, Theaterpädagogin, Schlofftheater Rorschach. Sie eröffnete die Tagung mit humorvollen Hinweisen auf den populärwissenschaftlichen Umgang mit Wahrheit und Wahrheiten, News und Fake News. Die Statistik spielt bei der vermeintlichen Glaubwürdigkeit einer Aussage keine unbedeutende Rolle. Die Statik hingegen stellt die Frage nach der Tragfähigkeit.

Als Schlusspunkt der Tagung arbeitete Frau Dr, Tika Statis zusammen mit Teilnehmenden an der „konstruktiven Wahrheit“, an einer greifbaren Konstruktion mittels konkreter Menschen und tragfähiger Aussagen. Sichtbar wurde die Ambivalenz: Aussagen haben ihre Wahrheit in ihrer Zeit, sie werden nicht falsch mit dem Lauf der Zeit aber sie passen nicht mehr, wenn sich der Bezugsrahmen ändert. Auf der anderen Seite stand die Aussage, dass die Fragen nach dem Wohin und Wozu bleiben gleich relevant – und in der jeweiligen Aktualisierung des Mythos haben auch die Antworten bleibende Relevanz.

 

Während des Vormittags konnten sich die Teilnehmenden an einem Medientisch zum Thema, organisiert von Urs Stadelmann, Kirchliche Medien (LU), und Peter Weskamp, relimedia (ZH), informieren und kompetent beraten lassen.

 

Religionspädagogische Tagung Luzern

Die Religionspädagogische Tagung ist eine gemeinsame Veranstaltung des Theologisch-pastoralen Bildungsinstituts (TBI), des Religionspädagogischen Instituts (RPI) und der Professur für Religionspädagogik der Theologischen Fakultät der Universität Luzern.

Seit 2001 findet an der Universität Luzern rund alle zwei Jahre eine religionspädagogische Weiterbildung statt. Sie richtet sich an Fachleute, die in der katechetischen bzw. religionspädagogischen Praxis tätig sind. Ziel ist es, zu ausgewählten Themen theoretische Inputs zu vermitteln und gleichzeitig auch den Praxistransfer zu reflektieren.

 

Die Religionspädagogische Tagung Luzern 2019 wurde organisiert von:

  • Dr. Veronika Bachmann, Dozentin am Religionspädagogischen Institut Luzern
  • Dorothee Foitzik, Bereichsleiterin „Kirchliche Weiterbildung“ am Theologisch-Pastoralen Bildungsinstituts der deutschschweizerischen Bistümer
  • Samuela Schmid MTh, Wissenschaftliche Assistentin Religionspädagogik an der Theologischen Fakultät der Universität Luzern

 

Hier finden Sie Bilder zur Tagung

 

Dorothee Foitzik Eschmann, Bereichsleiterin Kirchliche Weiterbildung am TBI

 

[1] Jurek Becker, Jakob der Lügner, Suhrkamp 2013, ISBN 978-3-518-37274-6

Der Roman erschien erstmalig 1969 in der DDR. Das Buch erzählt eine Geschichte aus dem Ghetto während des Krieges. Der Protagonist Jakob berichtet seinen Mitmenschen von der bevorstehenden Befreiung durch russische Truppen und beruft sich dabei auf Nachrichten aus einem Radio. Das Radio hat er frei erfunden, der Besitz eines Radios ist Ghettobewohnern streng verboten. Es ist keine Geschichte vom Widerstand, sondern Jakob ist eher ein „Lügner aus Barmherzigkeit“.