Neu ins Staunen kommen

     

Diesen Sommer konnte ich nicht nur Wim Wenders (* 1945) berührenden Dokumentarfilm über Papst Franziskus «Ein Mann seines Wortes» (2018) sehen, sondern auch sein in Zusammenarbeit mit Peter Handke entstandenes Meisterwerk «Der Himmel über Berlin» (1987). Ein immenser Publikumserfolg, obwohl es in seiner Machart weit ab vom marktgängigen Mainstream rangiert.

«Ich glaube, dass man sich durch Märchen den Blick öffnen kann und dass die Wirklichkeit nur mit geöffnetem Blick zu verändern ist», umschrieb Wim Wenders sein cineastisches Credo. «Wenn wir lernen könnten, uns zu verwundern wie Kinder, könnten wir mit diesem wunderbaren Blick die Probleme neu angehen.» Von heute aus gesehen spirituell brisant: lange bevor die Rede von der «postsäkularistischen Situation» aufkam, findet dieser Kultfilm berührende Bilder, um Menschen jenseits des transzendenzverriegelten Zeitgeists ins Staunen zu bringen, was Menschsein ausmacht.

Lied vom Kindsein

Zwei Engel, Damiel, gespielt von Bruno Ganz, und Cassiel, dargestellt von Otto Sander, durchstreifen Berlin – die 1986 noch geteilte Stadt mit dem Engel auf der Siegessäule, der Mauer und weiteren Schauplätzen ergibt einen eigenen Film im Film… Innerhalb eines Wimpern- oder Flügelschlags, zugleich unsichtbar für die Menschen, sehen die beiden nicht nur alles, sie hören auch alles, selbst die geheimsten Gedanken, Wünsche und Träume der Menschen. Was den Blick dieses Engel-Duos auszeichnet, ist eine liebevolle Einstellung voll Zuneigung und Menschenfreundlichkeit.

In einem Interview erläuterte Wim Wenders, er glaube nicht an Engel als Himmelboten. Der Engel sei für ihn «das Symbol des Kindes in uns»: «Ich glaube, dass jeder von uns einen Engel in sich trägt. Er symbolisiert das Kind, das man jemals war, aber das man vergessen hat, die verlorene Unschuld, die durch die erwachsene Weisheit ersetzt wurde. Darum sehen im Film nur die Kinder die Engel.» Zugleich gebe es «immer schon Kindheitsbilder von Engeln als unsichtbaren, ständig anwesenden Begleitern», «die alte ‘Sehnsucht nach Transzendenz’ sozusagen». Sie bezeichnen «den Himmel» in der alten religiösen Bedeutung von heaven, der für mehr steht als sky als dem sichtbar vor Augen liegenden physischen Himmel – für eine verborgen-spirituelle „Perspektiefe“ darüber hinaus.

Ausdrücklich will Wenders’ Erzählkonzept den Grundfragen, die wir uns als Kinder stellten, wieder auf die Spur kommen: «Es sind die Kinder, die Fragen stellen:  ‘Warum bin ich ich und nicht du?’ Erwachsene stellen diese Frage nicht mehr; sie haben Verpflichtungen. Anstatt dessen stellen sie sich die Frage, wie sie ihr Brot verdienen können. Das ist zweifellos der Grund, weshalb ich Filme mache: Weil ich mir noch immer die Fragen stelle, die meiner Meinung nach die wesentlichen Fragen sind.»

In poetischer Sprache verdichtet dies Peter Handkes «Lied vom Kindsein», seine vier Strophen ziehen sich als lyrische Off-Kommentare durch den ganzen Film. Es soll, so Handke, «zum Sterblichwerden anstecken» und zeichnet den Weg vom Kindsein zur Erwachsenenexistenz nach. Den Anfang macht ein ungebrochen-vorreflexives Lebensgefühlt grenzenloser Offenheit, dann folgt die Zeit der Fragen:

Als das Kind Kind war,

wusste es nicht, dass es Kind war,

alles war ihm beseelt,

und alle Seelen waren eins.

[…]

Wie kann es sein, dass ich, der Ich bin,

bevor ich wurde, nicht war

und dass einmal ich,

der Ich bin, nicht mehr der,

der Ich bin, sein werde.

 

Bei der Zirkusvorstellung hockt Damiel – anders als sein skeptischer Engelkollege Cassiel – inmitten der Kinder, er teilt ihre kindlich- intuitive Verwunderung, staunend gebannt verfolgt er das Treiben in der Manege. Erhellend kommentiert Damiels Stimme aus dem Off diese turbulente Szene:

 

Als das Kind Kind war,

spielte es mit Begeisterung,

und jetzt,

so ganz bei der Sache wie damals nur noch, wenn diese

Sache seine Arbeit ist.

 

Die vierte Strophe unterstreicht das Verbindende zwischen Kindheit und Erwachsensein: Ein Zugang zur kindlichen Einstellung Dingen, Pflanzen und Menschen gegenüber ist immer noch möglich, Energie, Kraft und Zielstrebigkeit aus Kindertagen wirken weiter, halten noch immer in Bewegung:

 

Als das Kind Kind war

genügten ihm als Nahrung Apfel und Brot,

und so ist es immer noch.

Als das Kind Kind war,

fielen ihm die Beeren wie nur Beeren in die Hand,

und jetzt immer noch,

machten ihm die frischen Walnüsse eine rauhe Zunge,

und jetzt immer noch,

hatte es auf jedem Berg die Sehnsucht nach dem immer höheren Berg

und in jeder Stadt die Sehnsucht nach der noch grösseren Stadt,

und das ist immer noch so,

griff im Wipfel eines Baumes nach den Kirschen in einem Hochgefühl

wie auch heute noch

hatte Scheu vor jedem Fremden und hat sie immer noch,

wartete es auf den ersten Schnee und wartet so immer noch.

Als das Kind Kind war,

warf es einen Stock als Lanze gegen den Baum

und sie zittert da heute noch.

 

Die ewig-zeitlose Geistesexistenz vertauschen

Von Anfang an weckt die mit Federn geschmückte Trapezkünstlerin Marion, gespielt von Wenders Lebensgefährtin Solveig Dommartin, Damiels Interesse. Allein schon durch ihren gefährlichen Beruf bezaubert sie ihn, der als Engel nie in Gefahr ist selbst abzustürzen. Engel kennen keine Angst, Damiel macht nun buchstäblich Ersterfahrungen mit der ganzen Ambivalenz menschlicher Emotionalität.

Beiden gemeinsam sind «Wings of Desire», so der englische Titel des Films (französisch: «Les Ailes du desir»). Kaum zufällig treffen die beiden an dem für Kinder freundlichsten Ort des Films zusammen: im Zirkus, wo die Artisten für eine Kindervorstellung üben. Marion schwingt mit Engelsflügeln am Trapez hin und her: die erste Farbeinstellung des sonst durchweg in Schwarzweiss gehaltenen Films!

Damiel begleitet sie über das Zirkusgelände und ist in ihrer Nähe, als sie im Wohnwagen traurig vor sich hin sinniert: «Bei den Farben sein!», hören wir Marions Gedankenstimme. «Sehnsucht nach einer Welle von Liebe, die in mir emporstiege…» Mit zwei Fingern fährt Damiel langsam Marions Nackenlinie entlang – ein Versuch, mit der Artistin in Kontakt zu kommen, der zugleich seinen Wunsch nach einer leiblichen Existenz artikuliert. Mit der rechten Hand umfasst Marion ihre linke Schulter, als habe sie Damiels Berührung gespürt. Die zweite Farbeinstellung des Films akzentuiert denn auch ihre Rückenansicht zu einer erotisch aufgeladenen Nacktaufnahme.

 

Am Ende des Films schreibt Damiels Hand in einer ähnlichen Einstellung wie das erste Bild des Films, nur jetzt in Farbe: «Ich weiss jetzt, was kein Engel weiss.» Zwischen diesen beiden Szenen spielt sich seine Menschwerdung ab, die schliesslich im farbigen Teil des Films kulminiert. Der Wechsel zur Farbe markiert seine Verwandlung, anders als die Menschen können Engel keine Farben sehen. Während die Schwarzweissaufnahmen der Darstellung seiner durchgeistigten Existenz dienen, vermitteln die farbigen Bilder eine lebendige Vorstellung von der Lust zu leben und zu lieben.

Damiels Menschwerdung setzt denn auch damit ein, dass der Engel darüber klagt, dass ihm die ewige Geistesexistenz zu viel werde, er möchte endlich die ganze Schwere der Existenz spüren:  «Es ist herrlich, nur geistig zu leben und Tag für Tag für die Ewigkeit von den Leuten rein, was geistig ist, zu bezeugen – aber manchmal wird mir meine ewige Geistesexistenz zuviel. Ich möchte dann nicht mehr so ewig drüberschweben, ich möchte ein Gewicht an mir spüren, das die Grenzenlosigkeit an mir aufhebt und mich erdfest macht. Ich möchte bei jedem Schritt oder Windstoss ‘Jetzt’, und ‘Jetzt’ und ‘Jetzt’ sagen können und nicht wie immer ‘seit je’ und ‘in Ewigkeit’ […] Endlich ahnen, statt immer alles zu wissen. ‘Ach’ und ‘Oh’ und ‘Ah’ und ‘Weh’ sagen können, statt ‘Ja und amen’!»

 

Typisch Mensch

 

Was Damiel an Menschen gefällt ist, dass sie «ahnen» und «staunen». Engel wissen alles, als himmlische Wesen können sie jedoch nichts erleben. So wächst in Damiel das Verlangen, endlich das zu erleben, was Menschen vorbehalten ist: die leibliche Erfahrung der sinnlich-materiellen Welt. Zeitlichkeit und Endlichkeit sind der Preis und die Bedingung glückverheissender Weltzugehörigkeit.

 

Im Grenzstreifen an der Mauer eröffnet er Cassiel, dass er durch den Fluss steigen werde: «Alter menschlicher Spruch, oft gehört, den ich heute erst verstehe. Jetzt oder nie: Augenblick der Furt. Aber es wird kein anderes Ufer geben: die Furt gibt es nur, solange wir drinnen im Fluss sind. Hinein in die Furt der Zeit, die Furt des Todes! Herab von unserem Ausguck der Ungeborenen! Zuschauen ist nicht herabschauen, es geschieht auf Augenhöhe.» Als Cassiel sich umdreht, sieht er, dass Damiels Schuhe bereits Abdrücke auf dem frisch geharkten Boden hinterlassen.

 

In der nächsten Filmsequenz, das Bild ist farbig, liegt Damiel auf der anderen Seite der Mauer. Er erwacht und schleckt ein wenig von dem Blut an seinem Kopf: «Schmeckt! Jetzt begreif’ ich einiges!» Was für eine Erfahrung, strahlt er über das ganze Gesicht, sie beweist ihm, dass er Mensch geworden ist. Kaum zufällig findet die Menschwerdung Damiels am Ende ihre Vollendung im Staunen. Nach der gemeinsamen Liebesnacht mit Marion sind Damiel ganz andere Flügel gewachsen als die gewohnten:

 

Ich habe in dieser Nacht

das Staunen gelernt.

 

Erst das Staunen

über uns zwei,

das Staunen

über den Mann und die Frau

hat mich zum Menschen gemacht.

 

«Aber Achtung», verdeutlicht Wenders’ Drehbuchentwurf: «Solche Verwandlung kommt nicht von nichts – der Menschwerdung vorgehen mussten Müdigkeit, Trauer, Verlassenheit, Ortlosigkeit, Entbehrung, Sprachlosigkeit, Schmerz. Heimgefunden habe ich in der Klage. Zusammengefunden haben wir in der immer ruhigeren, immer stilleren, zweistimmigen Erzählung unserer Not.»

Als Sinnbild der notwendigen gemeinsamen Beziehungsarbeit folgt in der Schlusssequenz noch einmal eine Hochseilnummer: Marion turnt hochoben am Vertikalseil, das Damiel, nun dem Boden verhaftet, gespannt hält. Er verfolgt Marions Bewegungen mit grösster Aufmerksamkeit: Ein falsches Nachlassen der Seilspannung oder ein zu frühes Anspannen und Marion kann herunterfallen.

«Die Flügel anhaltender Sehnsucht, ‘wings of desire’, helfen das labile Gleichgewicht zu überwinden. Die Gefahr des Abstürzens, des Zerbrechens bleibt; es gibt keine Sicherheit. Dynamische Stabilität ist nur mit gegenseitiger Aufmerksamkeit und gemeinsamer Anstrengung zu erreichen», kommentiert der katholische Theologe Thomas Kroll, der 2019 die ökumenische Jury am Filmfestival in Locarno präsidierte. Er bezeichnet Wenders’ Spielfilm als ausgezeichnetes Beispiel «säkularer Mystagogie». Und in der Tat: «Warum sollte die Verwunderung des ehemaligen Engels und die Faszination der Zuschauer und Zuschauerinnen an den Bildern, warum sollte das Staunen angesichts des Films und dessen vielfältigen Anregungen, Herausforderungen und Transzendenzen  nicht zum Staunen vor dem absoluten Geheimnis des Lebens führen (können)?»

 

Der Beitrag fusst auf folgenden Quellen: Der Himmel über Berlin. Ein Filmbuch von Wim Wenders und Peter Handke, Frankfurt/M. 1987 – Hinter den Augen ein eigenes Bild. Film und Spiritualität, hrsg. v. Michael Kuhn u.a., Zürich 1991 – Thomas Kroll, Der Himmel über Berlin – Säkulare Mystagogie? Berlin 2008.  Zur Einordnung: Christoph Gellner, «…nach oben offen». Lite