Musikalische Offenbarungen im «Spiritual Jazz»

     

 

Der Vorrang des Wortes

Auch wenn sich die unterschiedlichen Ausfaltungen des Christentums in Europa und auch weltweit in bestimmten Auslegungsfragen des Glaubens der Glaubenspraxis stark unterscheiden, haben sie doch alle eine grosse Gemeinsamkeit: Es gilt der Primat des Wortes. Praktisch alles, was auch nur irgendwie mit dem Glauben zu tun hat, ist in eine schlechthin ungeheure Menge an Worten gefasst: Die Bibel als Urdokument des Glaubens ebenso wie die gesamte Glaubenslehre, die sich in Texten austauschende Theologie ebenso wie die kirchlichen Riten und das Leben der Gemeinden: Worte, Worte, ungeheure Mengen an Worten, die alle versuchen, eine letzte, geheimnisvolle Botschaft vermittelbar zu machen oder sich mit dieser ausdeutend und verstehen-wollend beschäftigen.

 

Einem anderen Weg, dieses Geheimnis auszudrücken, will dieser kleine Essay auf die Spur kommen: dem „Spiritual Jazz“. In den 1960er Jahren war dieser als eine stilprägende Strömung des Jazz entstanden, die mit der kirchenmusikalischen Tradition Europas nur wenig zu tun hatte und eher die existenzielle Verbindung des Musikers mit seinem Instrument transzendierte. Heute erlebt dieses Genre mit jungen Musikern wie Kamasi Washington eine zweite Blüte. Doch schauen wir uns doch zunächst einmal noch näher das Verhältnis der Religionen zu Wort und Musik an, bevor dann mit John Coltrane zunächst der Heros des Spiritual Jazz in den Mittelpunkt rücken wird.

 

Buchstaben, die letztlich eine Leerstelle der menschlichen Sinneserfahrung ausfüllen: Das ist eigentlich eine sehr tröstliche Vorstellung. Dazu passt trefflich, dass dem tiefsinnigen Johannesprolog zufolge ja in Jesus Christus das Wort selbst Fleisch, also Mensch geworden ist. Eine größere Ehrung des Wortes ist (wenngleich das griechische „logos“, das im deutschen als „Wort“ übersetzt wird, wesentlich vieldeutiger ist!) kaum vorstellbar – und sie ist jedem Menschen eingängig, in dessen Geist sich aus Worten und der Phantasie ganze Welten aufbauen. Umgekehrt weiss Johannes, dass sogar das „Wort bei Gott“ ist, und wir sollten tatsächlich hoffen, dass Gott das Wort so liebt wie wir Menschen – denn unsere Gespräche mit ihm in Gebeten und allen sonstigen Lebenslagen: Auch das wieder in der Hauptsache … Sie ahnen es.

Worte müssen in Beziehungen zueinander gesetzt werden, sonst kann man sich nicht verständlich machen. Es braucht einen Wortschatz, über den möglichst viele Menschen verfügen, es braucht Konventionen über den korrekten Gebrauch von Worten, also eine Grammatik, und es braucht nicht zuletzt die stillschweigende Übereinkunft aller Beteiligten, dass sich mit Worten tatsächlich etwas Sinnhaftes aussagen lässt, das zudem menschlich-rationalen Kriterien genügt.

In Zürich befindet sich mit dem Cabaret Voltaire ein Ort, an dem mit dieser Konvention auf berühmte Weise gebrochen wurde: „Dada“ wurde dort aus der Taufe gehoben, auch und gerade als Protest gegen die kriegsführenden Mächte, die mit ihrer Propaganda den 1. Weltkrieg heraufbeschworen hatten. Worte sind nicht unschuldig und naiv, die Strategie der Dadaisten war es, mit ihren Lautgedichten und Textspielereien genau dies deutlich zu machen.

 

Wieder zurück: Es ist leicht zu erkennen, welche Aufgaben aus den Rationalitätsansprüchen der Sprache für die Theologie, für die Art und Weise, vom Glauben zu sprechen, erwachsen – und auch welche ungeheuren Schwierigkeiten: Wie kann man etwas durch Worte begreifbar machen, das letztlich ausserhalb des Sagbaren liegt? Paradox ausgedrückt: Wie bringt man einen Gott, der sich im Hauch eines verwehenden Schweigens (1Kön 19,12) offenbart, in Sprache? Der deutsche Politikberater Erik Flügge hat auf diese Problematik vor einigen Jahren in seinem Bestseller „Der Betroffenheitsjargon. Wie die Kirche an ihrer Sprache verreckt“ hingewiesen. Aber selbstverständlich ist das Problem schon viel älter, genauer gesagt: genauso alt wie das Christentum selbst, zweifelt doch schon der Apostel Thomas ganz eindrücklich an den in Worten an ihn gerichteten Zeugnissen und fordert dagegen handfeste Beweise ein. Die „Antwort“ des Auferstandenen ist so provozierend wie zielführend: Er lässt seinen Apostel die Wahrheit im wahrsten Sinne fühlen, indem er dessen Finger in die vom Speer des römischen Soldaten geschlagene Wunde führt. Merke: „Wer nicht hören will, muss fühlen!“ Oder vielmehr: Worte können eben nicht alles vermitteln, was wichtig und notwendig für das ganzheitliche Verstehen und Aufnehmen einer Botschaft ist; unsere Sinnesorgane spielen dabei eine nicht minder wichtige Rolle.

 

Natürlich hat das Christentum diesen ebenso notwendigen Aspekt der sinnlichen Fühl- und Erfahrbarkeit der anderen Welt immer schon in unterschiedlicher Intensität gewusst und auch intensiv gefördert, ebenso, wie das auch andere Religionsgemeinschaften taten. Der Reichtum der Kirchenausstattung und der liturgischen Feiern mit prachtvollen Gewändern, zahlreichen beteiligten Personen, mit ausgefuchsten Riten und heiligen Gegenständen, auch der Weihrauchduft und die Musik legen beredt davon Zeugnis ab, dass allein das Wort in seiner nüchtern-rationalen schwarz-weiß-Optik normalerweise/fast nie ausreicht, diese unsere Welt zu transzendieren und die geheimnisvolle Glaubensbotschaft in ihrer wortübersteigenden Fülle zu vermitteln.

 

Das Wort lebt durch andere Künste

Dass gleichzeitig immer schon mit unterschiedlicher Vehemenz vorgebrachte Vorbehalte gegenüber Bildern, einem zu prächtigen Kult und auch gegenüber Musik bestanden haben, lässt sich auch aus der inhaltlichen Vieldeutigkeit dieser Künste erklären. Über die Sinnesorgane aufgenommenen stehen sie für die Verantwortlichen der Glaubenssitte im Verdacht, oft einen viel zu schnellen Weg zum leicht entflammbaren Herzen zu finden – mit nicht so leicht abzuschätzenden Folgen für die eingeforderte Geltung der „Richtigkeit“ des Glaubens. Dagegen scheinen Worte doch verlässlicher, eindeutiger und für alle an den Sprechakten beteiligten Personen klar zu sein … Die Musik hingegen kennt natürlich auch bestimmte tonale Konventionen wie die traditionellen Tongeschlechter Dur und Moll oder kulturell geprägte Harmonieempfindungen.

Aber wie Musik in einer bestimmten Situation gefühlt, empfunden, interpretiert wird – das ist doch vor allem die Angelegenheit der Hörenden. Orgelmusik mag beispielsweise der einen Hörerschaft einen Ausblick in den Himmel geben, während die andere durch dieses Instrument oder seinen es Bespielenden – horribile dictu! – geradezu aus der Kirche vertrieben wird.

Musik kann „hören“ und dadurch „fühlen“ lassen, was über das im Wort Ausgedrückte weit hinaus geht. Diese Erfahrung mit einem durchaus spirituellen Horizont teilt sicherlich jeder, der ein Sensorium für diese ganz besondere Kunst hat. Deshalb wäre es zu kurz gegriffen, sie einfach nur als künstlerisches Beiwerk zu verstehen. Sie ist ganz im Gegenteil dazu im Stande, eigene Wege, eigene Perspektiven auf das Unsagbare hin zu erschließen.

Musik kann schließlich sogar als persönlicher Weg genutzt werden, um einen „Zugang zum Himmel“, zur eigenen Existenz, zur ganzen Kontingenz des Daseins zu finden. „Die Musik von Bach!“, so geht es sicherlich vielen bei diesen Gedanken durch den Kopf. Ich möchte hier jedoch ein aktuelleres Beispiel vorstellen, nämlich das im Jahr 1965 vom Jazz-Saxophonisten John Coltrane veröffentlichte Album „A Love Supreme“, das bis heute als Meisterwerk und als eines der wichtigsten Alben des 20. Jahrhunderts gilt. Als Beispiel passt es auch deshalb hervorragend in dieses Essay, weil Coltrane persönlich nur wenig Vertrauen in Worte setzte und Interviews stets mied. Sein Ausdrucksmittel war die Musik, die er aber zum Sprechen zu bringen vermochte wie nur wenige vor oder nach ihm.

 

„A Love Supreme“ – Eine kurze Höranleitung

Bereits der Titel des Albums lässt anklingen, dass hier eine christliche Tiefengrammatik zu erwarten ist, denn „Eine höchste Liebe“, wie er sich übersetzen lässt: Dieser Titel spiegelt vielleicht Coltranes eigene Erfahrung nach seinem Drogenentzug im Jahr 1957 wider, die in einer Hinwendung zum Glauben und zur Spiritualität mündete.

Dass hier nicht nur ein Jazz-Quartett gemeinsam brillant musiziert, zeigt sich auch im Gesamtaufbau des Werkes, das die Form einer Suite hat und vier aufeinander aufbauende sowie miteinander verwobene Teile enthält: Sie heißen „Acknowledgement“ (Anerkennung), „Resolution“ (Entschluss), „Pursuance“ (Streben) und schließlich „Psalm“. Der Beginn des ersten Stücks markiert dabei so etwas wie den Übergang in den heiligen Bereich eines Tempels. Es ertönt ein chinesischer Gong, über den sich Coltranes Saxophon mit einem fanfarenähnlichen Motiv erhebt und damit deutlich werden lässt, dass nun für die kommenden 30 Minuten eine besondere Aufmerksamkeit geboten ist. Ein wirklich „weihevoller Moment“, nicht zuletzt deshalb, weil Coltrane sein Saxophon mit einer würdevollen Eleganz spielt, die zu Tränen rühren vermag. Seine Mitmusiker McCoy Tyner am Piano, Jimmy Garrison am Kontrabass und Elvin Jones am Schlagzeug bilden darüber hinaus mit ihren Instrumenten den perfekten Hintergrund, vor dem das Saxophon eine fast körperliche Materialität annimmt. Einzigartig dann der Schluss dieses ersten Teils: Coltrane wiederholt mantra-artig fortlaufend die Worte „A Love Supreme“ – bevor er nahtlos in den zweiten Teil, Entschluss, übergeht.

Dieser Teil erinnert musikalisch an die überschäumende Freude angesichts der Schöpfung, wie sie in vielen Psalmen des Alten Testaments thematisiert wird. Er ist eher konventionell geraten, mit einer klaren Struktur und einer Melodie, die mitgesummt werden möchte. Der nächste Teil, Streben, nimmt dann deutlich Fahrt auf. Rasende Tempi und ein Schlagzeuger in Höchstform bilden den dynamischen Pol der Suite und rauben schlichtweg den Atem. Alles verausgabt sich, gibt sich im tiefsten christlichen Sinn hin, bevor es im letzten Stück, Psalm, zu einem wahrhaft meditativen Ausklang kommt. Alle Struktur löst sich nun in reinem, wehmütig-sehnsüchtigem Klang auf. Wieder „spricht“ das Saxophon mit einer fast menschlich anmutenden Stimme und klingt dabei wie eine in Gebetsform vorgetragene Litanei. „A Love Supreme“ verabschiedet sich schließlich leise.

 

Kein Fazit, sondern eine Ermutigung

Coltrane starb wenige Jahre nach der Veröffentlichung seines Meisterwerks an Leberkrebs und konnte die weitere Entwicklung des sogenannten „Spiritual Jazz“ nicht mehr mitprägen. Sehr lebendig ist jedoch diese ungewöhnliche Spielart einer geistlichen Musik, die ausserhalb von Kirchenräumen gehört werden möchte, aber bis in die Gegenwart geblieben.

 

Für Furore sorgt seit einigen Jahren der aus Los Angeles stammende Kamasi Washington, dessen Erstling „The Epic“ fast drei Stunden Musik enthält und zur Einspielung eine zehnköpfige Band, ein 32-köpfiges Orchester und einen zehnköpfigen Chor benötigte – der Albentitel ist also keineswegs willkürlich gewählt! Das im Jahr 2018 erschienene Album „Heaven and Earth“ ist vielleicht sogar noch interessanter. Hier thematisiert Washington eindrucksvoll seinen Kampf um Anerkennung und Freiheit. Die Erfahrung, dass im 21. Jahrhundert in den USA und weltweit das Leben als ein Angehöriger der „People of Color“ immer noch starke Auswirkungen auf die persönliche Entfaltung des Lebens hat, findet so einen starken Ausdruck, inklusive fast kämpferischer Ansagen durch Titel wie „Fists of Fury“. Der Weg zur Freiheit, erzählt im Buch Exodus, das ist eine der menschlichen Urerfahrungen, die sich auch in Musik wunderbar ausdrücken lassen.

 

Wenn diese nur sehr kurzen Überlegungen eines erreichen möchten, dann dies: Dazu ermutigen, mit offenen Ohren durch die Musiklandschaft zu streifen und selbst offen zu sein für ungewöhnliche Perspektiven auf Spiritualität und die musikalische Suche nach menschlicher Transzendenz.

Michael Hartlieb