Moderner Kirchenbau in der Schweiz

     

 

Es sind zuerst die Zahlen, die echte Überraschung hervorrufen und aus gegenwärtiger Sicht schlicht nicht mehr vorstellbar sind: In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bis Anfang der 1970er Jahre wurden in der Schweiz über 1000 Kirchen und Kapellen neu gebaut, davon über 2/3 von katholischen Gemeinden! Michael Hartlieb stellt den Sammelband «Moderner Kirchenbau in der Schweiz» vor.

 

Die immense und heute Unglauben erregende Zahl an Neubauten war nur eine verständliche Reaktion auf die Nöte und Bedürfnisse der Zeit: Wegen des raschen Bevölkerungswachstums entstanden rund um die grossen Städte neue Quartiere und mit ihnen neue Gemeinden, zudem förderte die Arbeitsmigration aus katholischen Ländern und zunehmende konfessionelle Durchmischung, dass vielerorts zur reformierten Kirche nun noch eine katholische hinzukam – und umgekehrt. All dies erforderte rasche und entschlossene Bautätigkeit, oft auch – das wird heute gerne übersehen – mit einfachsten Mitteln und grossem persönlichen Engagement.

 

«So schnell dreht sich der Wind!», denkt man nicht nur einmal beim Lesen des Buches, im Hinterkopf dabei die Diskussionen um die fortschreitende Säkularisierung, um die Zusammenlegung von Gemeinden zu Pastoralräumen oder um die Möglichkeit der Nachnutzung von Sakralräumen. Von der einstigen Aufbruchstimmung im Gefolge der sogenannten «Liturgischen Reform», die – aus katholischer Sicht – im 2. Vatikanischen Konzil ihren Höhepunkt gefunden hat, scheint heute nur noch wenig übriggeblieben zu sein.

 

Es ist das grosse Verdienst des Buches, dass es die theologische Reflexion eng verknüpft mit der architektonisch-künstlerischen Einordnung exemplarischer Kirchen der Zeit. Unterstützt mit zahlreichen und hervorragend den Text illustrierenden Bildern werden die Jahrzehnte nach 1950 und ihre besondere Prägekraft für die jüngere Kirchenbaugeschichte beleuchtet.

Es ist dabei vor allem interessant nachzuvollziehen, welche Wechselwirkung zwischen den Etappen der Liturgischen Reform, den entstehenden Entwürfen von Kirchengebäuden und den unterschiedlichen Gemeindekonstellationen entstanden. Die wichtigsten Entwicklungslinien dabei sind wohlbekannt: Die Kirchengebäude neuen Typs sollen ermöglichen, dass die Gemeinde «tätig mitfeiern» kann – das hat unmittelbar Auswirkungen auf die Platzierung des «Altars des Mahles» und des «Altars des Wortes», auf die Sakralraumgestaltung insgesamt sowie seine Einbettung in ein umfassenderes Ensemble aus kirchgemeindlichen Gebäuden mitten in der alltäglichen Lebenswelt der Menschen.

Die neue Verortung des Sakralraums in der Welt und nicht als Gegenpol zu ihr lässt der Beitrag vom Herausgeber Johannes Stückelberger auch in Zitaten der Protagonisten der damaligen Kirchenbauentwicklung lebendig werden, so zum Beispiel beim Architekten Walter Maria Förderer. Dieser schreibt in seinem Aufsatz «Zentren politischer Urbanität. Gottesdienst und Kirchenbau in der demokratischen Ära» von 1968: « […] wenn überhaupt noch Kirchen gebaut werden sollen, müssten sie Orte der Auseinandersetzung sein, also mehr als nur Orte gelenkter Meditation und rezeptiver Andacht. […], sondern Orte der Realität inmitten anderer Realitäten; Orte einer Feierlichkeit, die Faktor bleibt im prozessualen Geschehen, nicht ein darüber Erhabenes, ‹Enthobenes›.» (S. 17f)

 

Die Kirche als «Ort der Realität» – die Verwirklichung dieses Ideals weisen die Autor:innen an vielen Gegenständen der Kirche nach. Mit der «Neuen Sachlichkeit», der zeitgenössischen Hauptströmung in der Architektur geht einher, dass das Gebäude an sich einen Grossteil der sakralen Ausstrahlung trägt. Expressivität, Lichtführung, sakraler Eindruck und edle Atmosphäre, erhabene Materialität und haptisches Erleben: Das leistet nun der Kirchenraum selbst und nicht sein Inventar, für die Schweizer Architekten als Vorbild dient hier unter anderem Le Corbusiers Wallfahrtskirche in Ronchamps. Doch ein Beitrag im Buch beleuchtet auch die Auswirkungen der «Neuen Sachlichkeit» auf den Orgelbau: Gebaut werden nun Orgeln, bei denen die einzelnen Stimmen klar durchhörbar sind – im klaren Gegensatz zu den auf symphonischen Effekt hin gebauten, «romantischen» Orgeln früherer Zeit. Nüchternheit, Klarheit, eine gewisse Demut und Zurückhaltung gegenüber dem Prunk früherer Jahrhunderte – das sind die wichtigsten Leitbegriffe und Handlungslinien. Theologisch gesprochen verwandelt sich die «Neue Sachlichkeit» im Raum der Kirche zur anthropologischen Wende – die Gemeinschaft mit ihrer Freude und Hoffnung, mit ihrer Trauer und Angst steht neu im Mittelpunkt und nicht die Verherrlichung des Numinosen vorrangig durch den Klerus.

 

Deutlich wird in allen Beiträgen, dass die modernen Kirchen Kinder ihrer Zeit sind, und gerade dies ist heute ihre grösste Hypothek. Die Architektur der Nachkriegszeit hat in der öffentlichen Wahrnehmung ganz allgemein einen schweren Stand, ist weitgehend ungeliebt und wird kaum beachtet. Aus der Sicht der Denkmalpflege ist es deshalb oft schwierig, der Bevölkerung den Wert eines Kirchengebäudes zu vermitteln oder die Überarbeitung der Innenräume mit Sinn für die ursprüngliche Gestaltungsidee zu betreiben (siehe dazu die erhellenden Beiträge von Johannes Stückelberger oder Bernd Furrer). Doch neben architektonischen Fragen stellen sich natürlich vor allem auch theologische: Wie ist damit umzugehen, dass viele moderne Kirchen praktisch nicht mehr genutzt werden, weil ihre Gemeinden bis an die Nachweisbarkeitsgrenze geschrumpft sind? Wie könnten Nachnutzungskonzepte aussehen, die einen gesellschaftlich-sozialen Mehrwert haben? Wie könnten die vorhandenen Sakralräume weiterentwickelt werden, damit sie den pastoralen Herausforderungen der Gegenwart begegnen? Wie sieht ein künftiger Ort der Kirche in der Welt aus?

Das assoziationsanregende Buch wird somit allen empfohlen, die sich mit solchen pastoralen Fragestellungen beschäftigen und aus der Rückschau auf eine Zeit, die auch nur aus dieser Blickrichtung – zurück – «einfach» erscheint, neue Ideen und Handlungsorientierungen für die Zukunft gewinnen wollen. Dabei hilfreich ist, dass das Buch im Open-Access erhältlich ist, also kostenlos von der Internetpräsenz des TVZ-Verlags heruntergeladen werden kann.

Link: https://www.tvz-verlag.ch/buch/1484-9783290184117/?page_id=1

 

Stückelberger, Johannes (Hg.): Moderner Kirchenbau in der Schweiz. Zürich: TVZ 2022.