Ein Denkanstoss nicht nur zur Weihnachtszeit

     

„Gibt es angesichts zunehmender Verwertbarkeit noch eigensinnige, widerständige, nicht-funktionale Bildung, der Menschen nachgehen dürfen und können?“ [1]

Zentrale Grösse in der Programmplanung kultureller (Erwachsenen-) Bildung, so ein erstes Ergebnis der Befragung von Zuständigen bei Volkshochschulen und kirchlicher Erwachsenenbildung, ist – neben Aktualität und Nachfrage – das eigene Gespür, die bewusste Entscheidung für Werte und eigene Prioritäten. Für eine Interviewpartnerin bedeutet das, „Menschen die Möglichkeit geben, sich seelisch, geistig, handwerklich, künstlerisch weiterzubilden“. „Kultur ist alles und gar nichts“, meint ein anderer Befragter. „Das fängt für mich bei Sprache, Literatur, Philosophie an, es hat viel mit Kunst, Malerei, Musik zu tun. Also für mich gehört im Prinzip alles das rein, was keine sogenannten Hard-Skills sind.“ Das meint nicht bloss ein ästhetisches, vielmehr ein wichtiges politisches Moment.

 

Gegen die Funktionalisierung und Verzweckung aller Lebensbereiche für berufliche Zielsetzungen liegt der Mehrwert kultureller Bildung in der „Öffnung von unbekannten Räumen, in der Bereitstellung von Pausen oder im kreativen Potenzial von Auszeiten und Lücken“, so eine dritte Interviewpositionierung. Nicht in erster Linie arbeitsfunktionale Kompetenzen stehen in der kulturellen Bildung im Zentrum, vielmehr geht es um Kategorien eines lebenstiefen Lernens, bei dem Selbst-, Persönlichkeits- und Lebenskompetenzen im Fokus stehen. Ist das nicht auch eine Priorität von Seelsorge und kirchlicher Bildungsarbeit? Ja, ist das breite Feld der Lebenswahrnehmung, -gestaltung und -deutung nicht Kernaufgabe einer „gspürigen“ Pastoral und Kirche?

 

Lebenskunstbildung

Die Lebenskunstliteratur boomt. Der Schweizer Autor und Unternehmer Rolf Dobelli hat gerade sein neues Kolumnenbuch „Die Kunst des guten Lebens“ vorgestellt. Philosophen wie Gerd Achenbach und Wilhelm Schmid haben mit Anleitungen zu einer reflektierten Lebensführung grosse Resonanz gefunden. Über zehn Jahre war Wilhelm Schmid jeweils zwei Wochen in einem Spital in Affoltern am Albis tätig als philosophischer Seelsorger. Diese Selbstbezeichnung wählte er in Erinnerung an Sokrates, der seine Tätigkeit, Gespräche mit Menschen über Lebensfragen und Fragen einer Ethik der Sorge um sich und Andere zu führen, Seelsorge nannte[2]. Durchaus offen für die Dimension des Spirituellen und Transzendenten, die die Grenze des endlichen Lebens überschreiten, stand Schmid dort in regem Austausch mit theologischen KollegInnen. Im Unterschied zu deren religiöser Seelsorge spricht er von weltlicher Seelsorge, die Merkmale eines Human Ressource Managements aufweise.

Auch wenn christlich-religiöse Seelsorge gewiss eigene Akzente setzt, ist doch auch sie vom „Übergang von der Norm zur Form“ herausgefordert, den Wilhelm Schmid zu Recht herausstreicht. Angesichts der fortschreitenden Verflüssigung überkommener Lebens(lauf)muster – Stichwort: Individualisierung, Pluralisierung, Multioptionsgesellschaft – bedarf es umso mehr der bewussten, lebenslangen Formgebung.

„Sein Leben war eine endlose Abfolge von Schulstunden, von Zigaretten und Mahlzeiten, Kinobesuchen, Treffen mit Geliebten und Freunden, die ihn im Grunde nichts bedeuteten, unzusammenhängende Listen kleiner Ereignisse. Irgendwann hatte er es aufgegeben, dem Ganzen eine Form geben zu wollen, eine Form darin zu suchen“, lautet ein Schlüsselsatz von Peter Stamms Roman „An einem Tag wie diesem“ (2006). Im Zentrum steht ein 40jähriger Schweizer, der als Deutschlehrer in Paris arbeitet. Stamm liefert damit ein hellsichtiges Psychogramm zeitgenössischer Lebensführung, der die unerlässliche Gestaltung menschlichen Lebens zu einer unauswechselbar eigenen Geschichte nicht gelingen will, die gewissermassen der formlosen Freiheit abzutrotzen ist.

 

Dem Leben eine verbindliche Form und Ausrichtung zu geben, statt von der unendlichen Vielfalt an Möglichkeiten überrollt zu werden und sich ziellos in der Ereignislosigkeit des Immergleichen zu verlieren – das hat letztlich eine im Kern religiös-spirituelle Dimension. Ohne selber irgendwelche religiöse Botschaften zu vermitteln, weist Stamms Rede vom „Ganzen“ unüberhörbar darauf hin.

Für Kirche und Pastoral liegt darin die Chance, das zu profilieren, worin aus christlicher Sicht der Sinn der Suche nach wirklichem, wahrem und gelingendem Leben bestehen kann, ohne sich ausschliesslich auf die Bruchstellen menschlicher Existenz zu fixieren[3]. Ein inspirierendes Beispiel sind die 40 alltagsnahen Anregungen des ökumenischen Lesebuchs „Christliche Lebenskunst“[4]. Darunter verstehen die Herausgeber Peter Bubmann und Bernhard Sill das Bemühen, das eigene Leben bewusst in, mit und unter dem Wirken des Geistes Gottes zu gestalten. Es geht um mein eigenes Leben inmitten der Gemeinschaft des Lebens als Ganzes. Um meinen Lebensrhythmus im Takt der ganzen Schöpfung. Um Zielvorstellungen gelingenden Lebens im Zuleben auf das Reich Gottes. Um Lebensregeln und Lebenshaltungen, die dem Schalom Gottes dienen. Pointiert spricht Bubmann von Lebenskunstbildung, die den Schatz christlich-religiöser Lebensweisheit als Inspirationsquelle für heute neu erschliesst. Zu Recht verweist er dabei auf die Religionshaltigkeit der Alltags- und Gegenwartskultur.

 

Kulturelle Zeitgenossenschaft

Gewiss gibt es sprachliche und kulturelle Barrieren für die gewohnte kirchliche Rede von Gott sowie tradierte religiöse Feiergestalten, die nicht einfach zu überbrücken sind. Im Gegenzug lässt sich in den letzten 10, 15 Jahren eine neue Aufmerksamkeit für Religiös-Spirituelles im Raum der Gegenwartskultur beobachten[5], der im kirchlichen Binnenraum kaum wahrgenommen wird. Ein kulturell sensibler Theologe wie Jan-Heiner Tück weist zu Recht auf „Suchbewegungen“ hin, „welche die Grenzen zwischen Glaube, Halbglaube und Nichtglaube durchlässig werden lassen“[6]. So gebe es „Potenziale zur Verständigung zwischen Gläubigen, Suchenden und Nichtgläubigen“. Sowenig die existentielle Situation von Glaubenden frei ist von Erschütterungen und Anfechtungen, sowenig dürfe aus dem Blick geraten, dass auch Nichtglaubende von einem „Unbehagen an der Immanenz“ eingeholt werden können.

 

Kirchlicher Bildungsarbeit muss es ein Anliegen sein, das kulturelle Bewusstsein in der Kirche wie die Wahrnehmung der religiös-spirituellen Dimensionen der Gegenwartskultur zu schärfen. Gegenläufig zur kulturellen Selbstabkoppelung von Kirche bringen sich die Zürcher Kirchen mit der Verleihung des neuen ökumenischen Filmpreises produktiv ins Zurich Film Festival ein. Nicht von ungefähr führt Papst Franziskus in „Amoris laetitia“ drei lateinamerikanische Schriftsteller an und veranschaulicht mit einer „geglückten Szene“ aus dem Film „Babettes Fest“ die „intensivsten Freuden des Lebens“ (AL 129). „Die Kirche hat kein Monopol auf die Deutung des Lebens, sondern lernt von anderen Disziplinen und Künsten“[7], kommentiert der Würzburger Pastoraltheologe Erich Garhammer.

 

Indem zeitgenössische Literatur und Kunst(einschl. Massenmedium Film) „die Leiden und Freude, die Nöte und Kräfte“ der Menschen von heute verarbeiten (so die Pastoralkonstitution Gaudium et spes 62) und zugleich über die Grenzen des Alltags hinausführen, sind sie unerlässlich für die Verbindung mit der eigenen Zeit, für die Inkulturation des Evangeliums ins Heute. Es ist gewiss „keine immer einfache Sache“, sich auf dieses Außen einzulassen, „aber ohne den Mut zu dieser Begegnung wird das, was Kirche sagt, belanglos und bleibt hinter dem zurück, was sie von der Substanz ihrer Botschaft her zu sagen hätte. Deshalb wird direkt eine Verbesserung der Beziehung der Kirche zur zeitgenössischen Kunst und Literatur gefordert; deren Anstößigkeit ist kein Hindernis, sondern eine Herausforderung.“[8] Nur so lässt sich an die „Sehnsucht nach [Lebens-] Werten“ anschliessen, „die heute selbst in säkularisiertesten Ländern festzustellen ist“ (AL 201), wie Papst Franziskus betont.

 

Wenn Glaubenlernen heisst: eine Sprache lernen, durch die sich religiöse Erfahrungen erschliessen, ja, überhaupt erst „machen“ lassen, kann eine auf Zeitgenossenschaft bedachte Theologie und Pastoral von der Spracharbeit heutiger SchriftstellerInnen nur lernen. Besonders eindrücklich wurde dies – gewiss nicht nur für mich – bei den diesjährigen interdiözesanen Studienwochen für TheologInnen („Vierwochenkurs“) in der Begegnung mit dem Priesterpoeten Andreas Knapp. Es lohnte sich und bereitete zugleich Vergnügen, mit ihm konkret darüber nachzudenken: Was ist Sprache? Wie können wir heute von Gott reden? Da Sprache das wichtigste Handwerkszeug von Seelsorgenden ist – zentrale Handlungsfelder wie Predigt, seelsorgliches Gespräch und Bildung sind sprachliche Vorgänge  –, betrifft das ihre Professionalität.

 

Gewiss ist es nicht falsch, kulturelle Leistungen wie Konzerte in Kirchen, wie in einer aktuellen Studie im Kanton Zürich, als Rechtfertigung für Beiträge des Staates anzuführen. Und doch geht es dabei letztlich um Übernützliches und Mehr-als-Notwendiges. Das kann man bei Meister Eckhart ebenso lernen wie in Alex Stocks „Poetischer Dogmatik“: Dass Gott keine blosse Nutzfunktion für den Menschen ist, spiegelt sich im Raum des Übernotwendigen, das menschlichem Leben erst wirkliche Tiefe verleiht. Kaum zufällig verbindet das Kunst und Dichtung mit Liturgie und Kult: als wohltuend-befreiendes „Taugenichtstun“ widersprechen sie eindimensionaler Funktionalisierung, sprengen sie spielerisch auf. Nicht nur zur Weihnachtszeit.

 

 

[1]Sebastian Lerch: Kultur bildet, nur wozu? Ergebnisse einer Studie über den Mehrwert kultureller Erwachsenenbildung, in: EB Erwachsenenbildung 63 (2017) H.1, 28–30. Vgl. ders.: Lebenskunst lernen. Lebenslanges Lernen aus subjektwissenschaftlicher Sicht, Bielefeld 2010.

[2]Wilhelm Schmid: Das Leben verstehen. Von den Erfahrungen eines philosophischen Seelsorgers, Berlin 2016, bes. 153–170.

[3]Vgl. Christoph Gellner (Hrsg.): „… biographischer und spiritueller werden“. Anstösse für ein zukunftsfähiges Christentum, Zürich 2009; Margrit Eckholt u. a. (Hrsg.): Die grosse Sinnsuche. Ausdrucksformen und Räume heutiger Spiritualität, Ostfildern 2016; Leo Karrer: Glaube der reift. Spiritualität im Alter, Freiburg i. Br. 2017.

[4]Peter Bubmann/Bernhard Sill (Hrsg.): Christliche Lebenskunst. Regensburg 2008. Vgl. Anton Rotzetter: Perspektiven gewinnen. Spiritualität als Lebenskunst, Fribourg 2003; David Plüss u.a. (Hrsg.): Im Auge des Flaneurs. Fundstücke zur religiösen Lebenskunst, Zürich 2009; Aurelia Spendel (Hrsg.): Glaubenskunst. Vom Reichtum christlicher Spiritualität, Ostfildern 2008.

[5]Christoph Gellner: Neue Aufmerksamkeit für Gott. Erkundungen in der zeitgenössischen Gegenwartsliteratur, in: Brennpunkt Leben – Brennpunkt Gott. Handbuch geistliche Begleitung, hrsg. v. Walter Mückstein u. Peter Hundertmark, Ostfildern 2012, 193–219; ders.: „…nach oben offen“. Literatur und Spiritualität – zeitgenössische Profile, Ostfildern 2013.

[6]Jan-Heiner Tück: Das Fragezeichen zulassen. Über die Möglichkeiten der Verständigung zwischen Glaube, Halbglaube und Unglaube, in: NZZ vom 22. Dezember 2012; ders./Tobias Mayer (Hrsg.): Nah – und schwer zu fassen. Im Zwischenraum von Literatur und Religion, Freiburg 2017.

[7]Erich Garhammer: Und er bewegt sie doch. Wie Papst Franziskus Kirche und Welt verändert, Würzburg: 2017, 129.

[8]Hans-Joachim Sander: Theologischer Kommentar zur Pastoralkonstitution zur Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, in: Peter Hünermann/Bernd Jochen Hilberath (Hrsg.): Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil, Bd. 4, Freiburg i. Br.: Herder, 2005, 581–886, 788.