Kirche die aus sich herausgeht

     

Die ausgetretene Kirche – Kirche, die aus sich herausgeht

 

Ist es nicht auch die Kirche, die zunehmend aus dem Leben der Menschen austritt?

Christoph Gellner schreibt über zwei Buchneuerscheinungen mit kritischen Befunden und ermutigenden Richtungsanzeigen.

 

Die ausgetretene Kirche

Der Titel macht neugierig auf das Buch von Rudolf Vögele. Der Untertitel präzisiert, worum es dem Leiter des Ressorts Pastoral im Generalvikariat Zürich-Glarus geht: „Mein Plädoyer für ein anderes Verständnis von ‚glauben‘“. Subjektiv-biografisch geprägte Darlegungen wechseln sich ab mit fundierter Reflexion über Gott, Kirche und Glauben im Heute.

Die Lektüre des lesenswerten Bändchens zeigt: Der programmatische Titel ist wohl gesetzt, verdichten sich darin doch kritische Diagnose und konstruktiver Therapieanstoss zu einer zukunftsgerichteten Pastoral: „Die Kirche ist aus dem Alltags- und Glaubensleben der Menschen ausgetreten. Menschen verlassen die Kirche, weil diese für sie keine Rolle mehr spielt.“

 

Pastoral der Entdeckung und Ermöglichung

Sympathisch wirkt, dass der Präsident der deutschschweizerischen Pastoralamtsleiter-Konferenz, der auch Mitglied der Pastoralkommission der Schweizer Bischofskonferenz ist, gleich eingangs deutlich macht: „Wer heute vorgibt, ein ‚Rezept‘ oder ein Konzept zu haben, wie Kirche – ob katholisch, reformiert, freikirchlich oder sonst wie geartet – sich entwickeln müsse, um in Zukunft erfolgreich zu sein, ist in meinen Augen ein falscher Prophet. Ich habe keines – und finde, das ist auch gut so!“ Was er anbiete, seien „lediglich Gedankenanstösse, Impulse, Provokationen, um wieder dahin zu kommen, wo alles Theologisieren und Evangelisieren beginnt: beim Fragen und Suchen“.

Angesichts der schleichenden Exkulturation der Kirche aus den Lebenswelten heutiger Menschen plädiert Vögele für eine andere Ausrichtung pastoralen Denkens und Planens: „Es geht mir darum, ein anderes Verständnis von ‚glauben‘ bzw. gläubig sein zu entwickeln, bei dem nicht so sehr im Vordergrund steht, Gott zu verkünden (im Sinne von: die Unwissenden belehren), sondern vielmehr darum, Gott zu entdecken – in meinem eigenen Leben und im Leben der anderen.“

Leitend ist der mystagogische Ansatz von Papst Franziskus, der im Interview bekannte: „Ich habe eine dogmatische Sicherheit: Gott ist im Leben jeder Person. Gott ist im Leben jedes Menschen.“

Dies läuft auf eine Pastoral der Entdeckung und Ermöglichung hinaus: So wie im Raum der Pädagogik viele heute einer Ermöglichungsdidaktik das Wort reden, die mehr Begleiten statt Belehren fordert, fördert eine charismenorientierte Ermöglichungspastoral die Subjekthaftigkeit eines jeden Christen, einer jeden Christin. Das setzt ein partizipativ-dialogisches Leitungs- und Seelsorgeverständnis, das setzt Mitsprache und Mitbestimmung voraus – vor allem das Vertrauen, das alle ein Charisma haben, das es aufzuspüren gilt. Um es zum Einsatz bringen zu können, braucht es Frei-Räume.

 

Den Hunger und Durst nach Spiritualität stillen

Die Stärke der Überlegungen von Rudolf Vögele (Jahrgang 1959) liegt im Ich-Sagen. So wie er Papst Franziskus lobt, dass er Impulse und Reformanliegen des Zweiten Vatikanischen Konzils neu zur Geltung bringt, spielt Vögele immer wieder persönliche Kirchenerfahrungen und Beobachtungen aus seinem Umfeld ein, die die Ausstrahlung und Reputation von Kirche kritisch beleuchten. „Es gehört heute schon eine ordentliche Portion Glück dazu, in einer Pfarrei oder Gemeinschaft mitzuleben, die einem auch Halt im Glauben und in der spirituellen Weiterentwicklung gibt“, stellt er nüchtern fest.

Viel zu oft höre er, gerade von suchenden und fragenden Menschen, so Vögele weiter, dass man in der katholischen Kirche „zum Grossteil ‚geistlich unterernährt‘ bleibt. Aus der angeblichen Feier geht man viel zu oft wieder hinaus ohne grösseren spirituellen Gewinn, ohne Bereicherung für die eigene Lebensgestaltung.“ Bei Menschen in seinem Freundes- und Bekanntenkreis wie in seinem Arbeitsumfeld spüre er immer wieder, „dass da noch eine Sehnsucht ist nach Gemeinschaft, nach Spiritualität, nach Beheimatung. Die Leere, die eine Kirche, die aus ihnen ausgetreten ist, hinterlassen hat, wird manchmal auch als schmerzlich empfunden.“

 

Eigenständigkeit und Mündigkeit im Glauben

Selber in der Erwachsenenbildung engagiert, ist Vögele wichtig, Eigenständigkeit und Mündigkeit im Glauben zu fördern. Wer Suchenden und Gläubigen auf Augenhöhe begegnen will, muss ihnen auch die Freiheit lassen, ihre eigene Ausdrucksform des Glaubens zu leben, sich selbst spirituell zu formatieren. Zugleich ermuntert er Kirchenleute Impulse anzubieten: „mit der richtigen Sprache zur richtigen Zeit am richtigen Ort“. Religiosität und Gläubigkeit seien nicht allein an der Zugehörigkeit zur Kirchensteuergemeinschaft oder am aktiven Engagement im Gemeindeleben festzumachen.

Ausdrücklich regt Vögele an, sich auf die Begleitung und Glaubensvertiefung von Erwachsenen zu konzentrieren und zuzulassen, „sich von althergebrachten Gottesvorstellungen zu emanzipieren, sie ‚aus der Hand zu geben‘, damit nicht eine immer kleinere ‚Herde an traditionsverbundenen Schafen‘ das Bild von Kirche prägen, sondern viel mehr Führerinnen und Führer auf dem Weg Gottes, der nicht in die Enge, sondern in die Weite führt (Psalm 18,20).“

Eine Schlüsselfrage für Vögele ist das Engagement von Freiwilligen: das erfordere ein neues Verständnis der tragenden Rolle eines jeden Getauften. Eine Kirche, die auf Partizipation, auf Mitverantwortung und den Reichtum des Glaubens aller Getauften setzt, brauche eine Veränderung überkommener Haltungen und Rollenmuster. Vor allem brauche es Hauptamtliche, die ChristInnen begleiten, befähigen und ermächtigen, ihre Berufung und Sendung zu leben und zu gestalten.

Vögele ist überzeugt: „Wer keine Freiwilligen findet, der will auch keine!“ Kaum weniger pointiert seine Feststellung: „Nicht alle Menschen schätzen und mögen eine Kirche, die sich gibt wie eine Schildkröte: lahm, alt aussehend, abgeschirmt, und nur selten aus sich herausgehend …“

 

Wider die kirchliche Introversion

Das ist das entscheidende Stichwort von Stefan Silber: „Eine Kirche, die aus sich herausgeht: Papst Franziskus fordert dies nicht nur, sondern lebt auch sichtbar, was damit gemeint ist.“ In Evangelii gaudium (2013) bestehe der Papst „auf einer Kirche der offenen Türen, gastfreundlich, aber auch bereit zum Hinausgehen, zum Verlassen der kirchlichen Gebäude, Institutionen und Sicherheiten“.

Der Untertitel von Silbers Buch unterstreicht die von Franziskus geforderte „pastorale Umkehr“: „Was die Kirche ist und sein kann, zeigt sich darin, was sie für die Menschen bedeutet.“ Was erwarten sie in der Gegenwart von Kirche? Welche Relevanz besitzt die Kirche für die aktuellen Herausforderungen der Menschheit? Das sind die Leitfragen des Paderborner Theologieprofessors mit Jahrgang 1966.

Inspiriert von der lateinamerikanischen Befreiungstheologie bemüht sich Silber im Blick auf Europa um kontextuelle Antworten auf hiesige Herausforderungen. Die Erfahrungen anderer Kontinente können dabei nur Anstösse sein und Anregungen geben.

Unmöglich, die ganze Themenpalette von Silbers umfangreicher Buchpublikation zu referieren. Ich beschränke mich auf die Punkte, wo sich Silbers Überlegungen mit denen von Vögele berühren, diese weiterführen und ergänzen.

Eine „selbstbezogene Kirche will Jesus in ihrem Innern festhalten und lässt ihn nicht hinausgehen“, zitiert Silber aus der programmatischen Bewerbungsrede von Kardinal Bergoglio im Vorkonklave. Evangelii gaudium spitzt das programmatisch zu: Die Kirche müsse „mehr der Evangelisierung der heutigen Welt als der Selbstbewahrung“ dienen (EG 27). Silber verdeutlicht: „Dies ist keine fremde Welt: Gott ist schon vor uns in ihr anwesend.“ Gut mystagogisch streicht der Papst heraus: „Diese Gegenwart [Gottes] muss nicht hergestellt, sondern entdeckt, enthüllt werden.“ (EG 71)

„Um nicht einer Art kirchlicher Introversion zu verfallen“ ist es Franziskus um „eine unaufschiebbare kirchliche Erneuerung“ zu tun: „Die Reform der Strukturen, die für die pastorale Neuausrichtung erforderlich ist, kann nur in diesem Sinn verstanden werden: dafür zu sorgen, dass sie alle missionarischer werden, dass die gewöhnliche Seelsorge in all ihren Bereichen expansiver und offener ist, dass sie die in der Seelsorge Tätigen in eine ständige Haltung des ‚Aufbruchs‘ versetzt und so die positive Antwort all derer begünstigt, denen Jesus seine Freundschaft anbietet.“ (EG 27)

 

Liquid Church

Silber konkretisiert dies an aktuellen Beispielen. Die beiden wichtigsten geistlichen Übungen der von Christian Herwatz in Berlin entwickelten Strassenexerzitien, die heute auch in anderen Städten weltweit praktiziert werden, sind Beobachten und Begegnen. „Die theologische Idee hinter dieser Exerzitienform ist: Der fremde Ort kann zum Brennenden Dornbusch werden.“ Es geht um geistlich-spirituelle Erkundungen der Welt: „Sie tauchen die Wirklichkeit jenseits der Kirchenmauern in ein neues Licht und können so auch die eigene pastorale und kirchliche Tätigkeit verändern.“

Die Idee der „Fresh expressions of Church“-Bewegung (siehe www.freshexpressions.ch) ist, nicht Menschen in die Kirche einzuladen oder die Kirche bloss zeitgemässer zu vermarkten, sondern im Alltag in sogenannten kirchenfernen Räumen vom Glauben zu sprechen und dort neue kirchliche Glaubensgemeinschaften entstehen zu lassen. Diese neuen liquiden Formen des Kircheseins sollen die traditionellen ergänzen, nicht ersetzen. Zugleich sind sie ein gutes Beispiel für die heute vielfältig zu beobachtende Verflüssigung von Kirche über die territorial orientierte Solid Church hinaus.

Nicht zuletzt verweist Silber auf die verschiedenen Formen aufsuchender Sozialpastoral wie etwa die Arbeit eines anglikanischen Theologen und Psychologen, der eine Streetgang von Jugendlichen in New York auf ihrem Weg aus Gewalt und Drogenhandel hin zu einer sozialen Bewegung mit politischen Zielen begleitete. Auch in der Diakonie geht es nicht darum, Menschen an die Kirche als Institution zu binden, vielmehr Menschen freizusetzen, damit sie ihren eigenen Weg gehen können.

 

Pastorale und missionarische Umkehr

Aktuelle kirchliche Strukturreformen, die sich meist nur an den geringer werdenden Zahlen der verfügbaren Priester orientierten, betont Silber, greifen ohne die von Papst Franziskus geforderte „pastorale und missionarische Umkehr“ (EG 25) zu kurz: „Der Massstab für den Wandel der Kirche befindet sich ausserhalb ihrer selbst. Es sind die Zeichen der Zeit.“ Es gelte immer wieder die Fenster zu öffnen und die Türen aufzumachen, um diese Zeichen der jeweils heutigen Zeit zu erkennen. Um mit den Menschen und der Welt in Kommunikation zu treten, müsse sich Kirche auf die öffentlichen Debatten und ihre säkulare Sprache einlassen. Solches nicht-religiöse Sprechen müsse jedoch stets rückbezogen werden auf eine theologisch reflektierte explizit religiöse und gotthaltige Sprache, um den christlichen Mehrwert gegenüber säkularistischer Eindimensionalität verdeutlichen zu können.

 

Rudolf Vögele: Die ausgetretene Kirche. Mein Plädoyer für ein anderes Verständnis von „glauben“, Edition NZN bei TVZ: Zürich 2017, 153 S.

Stefan Silber: Kirche, die aus sich herausgeht. Auf dem Weg der pastoralen Umkehr, Echter: Würzburg 2018, 288 S.