Es gibt keine Sprache mehr für diese Dinge

     

Religion weniger als Fertig- oder Besitzsprache, vielmehr als Suchsprache für das Unaussprechliche im Alltag je neu zu buchstabieren: Darum ging es den Impulsreferaten der Tagung wie den praxisbezogenen Workshops.

Sie vermittelten vielfältige Einblicke, etwa in die aktuelle PreacherSlam-Szene (Andreas Kessler) oder neue Psalmen zeitgenössischer Literatur (Christoph Gellner). Zudem boten sie Gelegenheit zu eigenen Sprach-Experimenten, etwa in der den Himmel auf die Erde ziehenden Textwerkstatt Liturgie (Jacqueline Keune) oder bezogen auf die Welt von Jugendlichen mit „Avocado, WLAN & Co“ (Stephan Sigg). Birgit Jeggle-Merz lud ein zu Sprechversuchen mit liturgischen Texturen („Vom Reich Gottes, von Gnade, Heil und sonstigen Fremdwörtern“), Manfred Belok zur Erarbeitung einer Kurzpredigt („Auf den Punkt gebracht“), Christian Cebulji thematisierte das Verhältnis von Kindertheologie und Sprache („Gott ist der mit den Flügeln“).

In einer Verdichtung der Impulstagung warb Eva-Maria Faber mit Bruno Latour („Jubilieren. Über religiöse Rede“, daraus auch das Titelzitat dieses Beitrags) dafür, Religion als Beziehungssprache neu zu buchstabieren,

 

Was literarisches und spirituelles Sprechen verbindet …

Bewusst wurden Brücken geschlagen zur Gegenwartsliteratur und zur Spracharbeit zeitgenössischer SchriftstellerInnen. Es sind keineswegs nur kirchennahe AutorInnen, die neue religiös-spirituelle Sprechversuche wagen. Kreative Sprachüberschreitungen, die den Wahrnehmungsraum des Wirklichen erweitern, das sichtbar Vorhandene auf ein „Mehr“, ein „Darüberhinaus“ übersteigen. Wie der Dichter und Theologe Christian Lehnert formuliert: „Poesie und Gebet verbindet eine Form des suchenden Sprechens“.

Der Schlusspunkt der Tagung im Centrum 66 führte in die Stille der nahegelegenen Predigerkirche. Begleitet von Eva-Maria Burkard am Cello trugen Urs Faes und Jacqueline Keune Gebetsgedichte[1] vor sowie Reflexionen, was literarisches und spirituelles Sprechen verbindet. Beidem geht es um das Finden von Sprache jenseits eingespielter Formeln und blindgängiger Routinen – im bewussten Hinübergehen aus dem, was man schon kennt und begriffen hat.

 

… Urs Faes und Jacqueline Keune

Der Zürcher Schriftsteller und promovierte Germanist Urs Faes setzte bei der Stille an, beim absichtslosen Warten in der Hoffnung, dass sich da etwas öffnet, etwas eintreten kann. Unerlässlich dafür ist Offensein, Geöffnetsein für das, was in der Stille zufallen kann: „Als hätte die Stille Türen“, so der Titel eines Romans von Urs Faes, in dem es heisst: „Worte können öffnen, Wörter sind wie Türen, aus der Stille, in die Stille.“

Wichtig ist für Faes die Welt in uns, das Lauschen auf das Hallen des Gedächtnisses. In der Stille finden wir ins Erinnern, mehr noch: „ins Sich-versenken zum gekelterten Augenblick, zu den Worten.“ So machten Schreibende und MystikerInnen kühne, gewagte neue Sprachentdeckungen. „Aber alle, die Sprache suchten, machten auch die Erfahrung, dass im Sprechen, in der Sprache auch immer etwas vom Geheimnis der Sprache bleibt: dass sie neben der Mitteilung des Mitteilbaren zugleich auch Symbol für das Nicht-Mitteilbare, für das Unfassbare und Unsagbare ist.“

Die Luzerner Theologin Jacqueline Keune setzte bei Erfahrungen an, die Menschen verstummen machen, ihnen die Sprache verschlagen: „Silbenkeulen erschlagen, Worte machen klein, kanzeln ab, treten klein.“

Umso wichtiger die alternative Spracherfahrung: „Worte machen gross, machen schön, machen fliegen! Worte schlagen Brücken, schliessen Frieden, schaffen Recht. Sprache, das sind Wundpflaster auf Seelen, das sind Lieder, die Schlaf wiegen, und Torheiten, die sich in verliebte Ohren flüstern. – Das sind Horizonte, die Seelsorgerinnen über Betten aufreissen, und Hoffnungssamen, die Seelsorger über Gräber ausstreuen.“

 

Zeitgemässe Gebetssprache

Aus dem Nachlass des Schweizer Kapuziners Anton Rotzetter hat Adrian Holderegger grossteils unveröffentlichte Meditationen und Gebetstexte zusammengestellt[2], die meist für Einkehr-Zeiten entstanden. Ein grosses Anliegen war Anton Rotzetter eine zeitgemässe Gebetssprache, inspirierend und praxisnah belegt dies sein Buch „Sprache an der Grenze zum Unsagbaren“ (2002). Besonders das Hören auf die Bibel und das Staunen angesichts der Schöpfung berühren an Rotzetters spirituellen Gebrauchstexten. So schreibt er die Versuchung Jesu durch den Teufel (Mt 4,6) ins Heute:

 

Auch Gott entzieht sich

dem gierigen Zugriff

[…]

Gott entzieht sich dem Zugriff

meiner Gedanken

er ist stets grösser

meiner Vorstellungen

er ist immer noch kleiner

[…]

Gott ist Gott

er steht nicht zur Verfügung

ist kein Bedarfsgegenstand

keine Droge

kein Argument

 

Er ist nichts

ausser Geheimnis, das sich spiegelt

im Menschen, der ihm gleicht

im Menschen, der sich gibt

im Menschen, der einfach da ist

für alle Geschöpfe

 

Er ist alles

nur nicht mein eigener Glanz

und nicht mein Ego

und nicht mein Besitz

Er ist alles in allem

 

Fort- und Weiterschreibungen der Bibel

Als Eröffnungsband einer neuen, auf eine breite Leserschaft zielenden Reihe „Bibel und Literatur“ hat Georg Langenhorst, ausgewiesener Fachmann auf dem Forschungsfeld Theologie und Literatur, 164 deutschsprachige Gedichte aus den unterschiedlichsten geistigen Hallräumen von Katholizismus, Protestantismus, Judentum, Islam und Atheismus vom 17. bis ins 21. Jahrhundert ausgewählt, die er in knappen Einführungen erschliesst[3]. Die Anthologie umfasst 24 x 4 Texte zum AT von Adam und Eva über Hiob und Kohelet bis zu Jona und Daniel, 17 x 4 Texte zum NT von Jesus über Maria Magdalena und Judas bis zur Kreuzigung und Ostern. Langenhorsts Fazit? Die Bibel ist das Buch der Geschichten, die dazu drängen, weitergeschrieben zu werden: immer wieder anders, immer wieder neu.

 

Sensibilisierung für die Gottsprache Mensch

Im Ringen um eine neue Sprache, um „Gottes gute und auch widerständig-prophetische Stimme aus dem jeweiligen ‚Kirchenknast‘ (Gottfried Bachl) zu befreien und menschennah in Erinnerung zu rufen“, setzt Wilhelm Bruners auf einen bewussten Perspektivenwechsel: „Heute ist die europäische ‚Kirchen- und Katechismussprache‘ für den Glauben ‚in aller Welt‘ eine viel zu hohe und exklusive Hürde geworden, die zu übersteigen die meisten nicht (mehr) bereit sind und auch nicht überwinden müssen. Aber sie haben noch nicht gelernt, Gott in der Alltagssprache ihres täglichen Miteinanders zu hören und zu verstehen. Ihren Hoffnungen und ihrer Sehnsucht fehlt die Sprache.“[4]

Bruners dreht die übliche Fragestellung um. Nicht: Wie heute von Gott reden? Sondern: Wie redet Gott Menschen an? Welche Sprache müssen wir lernen, wenn wir ihn hören und verstehen wollen?

Gut biblisch streicht der Gedichte schreibender Priester, der 18 Jahre in der Dormitio-Abtei in Jerusalem lebte, dort einem Kreis von deutsch schreibenden DichterInnen angehörte und heute in der geistlichen Begleitung tätig ist, heraus:

„Der biblisch erzählte Gott macht täglich seine sprachlichen ‚Hausaufgaben‘ für uns und auf uns hin. Er macht sie täglich in den Geschichten, die Menschen (uns) erzählen, die Menschen einander erzählen. Anders hat Gott nie in der Geschichte gesprochen. Er hat sich nie einer Sondersprache bedient, die der Mensch zu lernen hatte, um ihn zu verstehen […] Durch die konkrete Welt, wie sie mit ihren Brüchen, Verwundungen, in ihrem oft kriegerischen Alltag vorkommt, spricht Gott Menschen und Welt an […] Er ist längst da. Gott hat sich selbst eindeutig in diese Welt eingesagt und eingeschrieben durch die, denen sich Jesus zuwendet, weil er selbst von dort die Gottesstimme hört. In diese Richtung ist zu schauen und zu hören“.

In ihrem selbstrefentiellen „Kirchengebrabbel“ reden nicht wenige Kirchenverantwortliche an Menschen und Gott vorbei. Dagegen setzt Bruners auf eine „Sensibilisierung für die Gottsprache Mensch“!

„Es gibt, davon ist biblisches Sprechen von Gott zutiefst überzeugt, keinen menschlichen Resonanzraum, in dem nicht die (verborgene) Stimme Gottes jederzeit gehört werden kann“ – und wenn es nur ein erstauntes „Ach“ ist. „Sprachaufmerksamkeit ist angesagt, um darin eine göttliche Ansprache zu hören.“

„Gerade aus der Banalität der menschlichen Alltagssprache, aus einer scheinbar gottlosen Welt, aus stotternden Lebensäusserungen, in denen das Wort Gott ausgesprochen keine Rolle (mehr) spielt, scheint sich das Göttliche völlig zurückgezogen zu haben. Es dennoch wahrzunehmen setzt voraus, die Welt und das Tägliche nicht zum grossen Gegner Gottes abzuwerten oder als buchstäblich nichtssagend zu verurteilen.“

Das ist gewiss nicht leicht im „alltäglichen Sprachmüll des atheistischen Geredes und der medialen Welt“, doch gleichzeitig ist „die babylonische Vielsprachigkeit und heutige Sprachverwirrung in ihren vielen Dialekten und Facetten ein grosser Reichtum.“

So ermutigt Bruners, den eigenen Erfahrungen bei der Suche nach der Gottsprache in unserer Welt zu trauen: „Denn gerade diese Alltagssprache spricht oft unmittelbarer als die Hochsprache von den Hoffnungen, aber auch Enttäuschungen der Menschen. Sie ’schmeckt‘ eher die Bitternis der Ängste und der Sehnsucht von Menschen, die Leid tragen.“

Pointiert fasst er seinen mystagogischen Kontrapunkt in die Worte: „die Sprache Gottes in dieser Welt ist so vielfältig, wie diese Welt heute aus vielen Traditionen lebt und immer gelebt hat. Gott ist vielsprachig – es gibt keine Menschensprache, die er nicht spricht.“

Poetisch bringt dies Bruners Gedicht „lautlose eroberung“ zum Leuchten:

 

gott

immer noch

gegenwärtig

oft gebrauchtes

sonntagswort

 

im alltag verborgen

in lebensgeschichten

von mensch zu mensch

erobert es ungesagt

verbarrikadierte

 

herzen

 

Christoph Gellner, Dr. theol., ist Leiter des TBI in Zürich und Fachmann für Theologie und Literatur.

 

 

[1]Drei Gebetsgedichte von Urs Faes enthält der Band: Frei und unverzagt. Gebet der Hoffnung, Stuttgart: Kreuz Verlag 2017. Zuletzt erschien von Jacqueline Keune: Scheunen voll Wind. Gebete und Gedichte, Horw/Luzern:  db-Verlag 2016.

[2]Anton Rotzetter: Der Traum von Himmel und Erde. Worte wie Lieder. Spirituelle Texte, hrsg. v. Adrian Holderegger, Ostfildern: Patmos 2019.

[3]Georg Langenhorst (Hrsg.), „Und er spricht mit leisen Deuteworten …“ 164 Gedichte zu biblischen Themen, Motiven und Figuren, Stuttgart: Verlag Katholisches Bibelwerk 2019.

[4]Wilhelm Bruners: Gottes haudünnes Schweigen. Auf seine Stimme hören, Würzburg: Echter 2019.