Gott ist grösser

     

Was hat Theologie als Wissenschaft, der es um gelingendes Leben der Menschen zu gehen hat, zu den Zukunftsherausforderungen beizutragen? Drei Generationen von Theologinnen und Theologen nehmen persönlich Stellung. Subjektiv ausgewählte Zitatsplitter aus dem inspirierenden Band.

Die Gnade der Unterbrechung

Spirituell sensibel wirbt der emeritierte Fundamentaltheologe Jürgen Werbick für die Gnade der Unterbrechung: „Die kürzeste und vielleicht treffendste Definition von Gnade ist Unterbrechung […] Das ist die gnadenhaft-erlösende Unterbrechung des Menschenlebens, dass Gott in es hineinkommt und seine ‚Herrschaft‘ in ihm, mit ihm anfängt – damit sich die Herrschaft der Mächte nicht hemmungslos-heillos fortsetzt in unserem Leben, je für uns und in einem Miteinander, das so sehr der gnadenhaften Unterbrechung bedarf.“

Lebensnah verdeutlicht Werbick, was dieses gnadenhafte Unterbrochen-Werden sein kann: „die Unterbrechung des blossen Weitermachens, des Getriebenseins von dem, was die Bibel ‚Mächte‘ nennt; die Unterbrechung unseres Geredes, in dem sich unsere menschlich-allzumenschlichen Selbstverständlichkeiten und Unmöglichkeiten ewig in uns weiterwälzen; die Unterbrechung unseres alltäglichen oder auch des wissenschaftlich hochgerüsteten, naturalistisch kostümierten Fatalismus; die Unterbrechung unserer ethischen Überanstrengung durch all das, was zum Himmel schreit – und wovor wir doch, weil wir es kaum noch hören können, die Ohren zuhalten.“ Im Anschluss an Paul Ricoeur, der von der „Umkehr der Einbildungskraft“ spricht, setzt er hinzu: „Der Prediger und Reich-Gottes-Initiator Jesus hat daran gearbeitet, dass der Fatalismus der Unheils-Apokalyptik wie das hilflos-revolutionäre Aufbegehren dagegen nicht alles sind, was man sich glaubend vorstellen kann.“

Risiken als Chancen

Julia Enxings engagiertes Plädoyer „Trau‘ Dich, Theologie!“ knüpft an Papst Franziskus an, der in Veritatis Gaudium eine zeit- und lebensnahe Kirche und Theologie fordert. Erfrischend kritisch unterstreicht sie in Bezug auf ihre eigene Fachdisziplin: „Das Problem aktueller systematischer Theologie besteht nicht darin, dass sie die Zeichen der Zeit nicht erkannt hat, sondern dass sie sie erkannt hat. Und vor ihnen flieht. Sie werden zu sehr als ihr Risiko und nicht als ihre Chance deklariert. Die Risiken der Gegenwart“ – Exing führt selber „soziale Beschleunigung, Kirchenferne, neuer Atheismus, Rechtspopulismus, atomare Aufrüstung, ökologische Katastrophen, Krieg, Fremdenfeindlichkeit, Islamophobie“ auf – „gelten für viele als Bedrohung von Theologie, Religion und Kirche – als Risiko. Ich plädiere dafür, sich dessen bewusst zu werden, was es hier aktuell zu riskieren gäbe, um es dann mit ganzem Herzen und ganzem Verstand und allem Mut zu riskieren.“

Einheit in der Vielfalt zeichenhaft leben

Das Zweite Vatikanische Konzil bezeichnet die Kirche als ein „Zeichen der Einheit in der Vielfalt“. Die Luzerner Pastoraltheologin Stephanie Klein stellt die Frage: „Wie soll die Kirche strukturiert sein, um Zeichen der Einheit mit Gott und den Menschen zu sein? Wie kann sie die gleiche Würde der Menschen vor Gott und die Vielfalt ihrer gottgeschenkten Charismen, Berufungen und Sendungen in ihrer Struktur zum Ausdruck bringen? Wie kann sie den Weg des gewaltfreien, am Wohl des Anderen orientierten Handelns als Botschaft des Heils Gottes für die Welt sichtbar machen? Es ist fraglich, ob die gegenwärtige klerikale, von Männern zentralistisch geleitete Kirche das richtige Zeichen sein kann für eine Welt, in der Menschen die gleiche Würde verweigert und die Solidarität mit den Benachteiligten kein Massstab ist, in einer Welt, die partizipative Entscheidungs- und Gemeinschaftsformen benötigt anstatt der Orientierung an der eigenen Überzeugung und Macht. Eine zentrale Herausforderung auf dem Weg der Christinnen und Christen und der Kirche in die Zukunft wird deshalb darin bestehen, die friedliche und am Wohl der Anderen orientierte Einheit der Menschheit in der Vielfalt der Menschen sichtbar zu machen und in der Kirche zeichenhaft zu leben.“

Gegenerzählungen

Für Michael Schüssler „lautet die kürzeste Definition von christlicher Theologie heute ‚Treue zum Realen‘ (Jon Sobrino) in seiner ganzen komplizierten Uneindeutigkeit“. In seinen „Gegenerzählungen zur identitären Versuchung“ streicht der Tübinger Pastoraltheologe heraus: „Der Knackpunkt religiöser Glaubenstraditionen ist heute eine Leben ermöglichende Praxisrelevanz, die über die Interessen der eigenen Glaubensgemeinschaft hinausgeht und das Wohl auch des fremden, anderen, auch des andersgläubigen Menschen will. Religionen sind deshalb gefordert, die exklusiv-identitären Versuchungen der Gegenwart nicht auch noch religiös zu verschärfen.“

Gegenüber der „marktkonformen Suche nach dem unterscheidend Christlichen und dem Profil der Religionen“ erinnert Schüssler an die Pastoralkonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils: „Der erste Satz von Gaudium es Spes ist deshalb so befreiend, weil er über nichts urteilt, sondern anbietet, das Leben miteinander zu teilen. Und weil von Gott her niemand ausgeschlossen ist, kommen ‚besonders die Armen und Bedrängten aller Art‘ in den Blick. Mit dem Verzicht auf Urteile und rigorose Kategorisierungen beginnt die Solidarität mit den Lebens- und Existenzproblemen der Menschen von heute. Situative Urteilsenthaltung wird zu einer christlichen Orientierungsfigur, mit der identitäre Verhärtungen unterlaufen werden.“ Mit der Erzählung von Jesus und der Ehebrecherin (Joh 8) vor Augen betont Schüssler: „Urteilsenthaltung steht biblisch im Dienst einer je grösseren Solidarität und Menschlichkeit mit jenen, deren Leben verwundbar ist. Es bedeutet eine Haltung der Offenheit, die nicht immer schon zu wissen glaubt, wo man auf Gott trifft, den man sucht!“

Entgrenzungen

„Muss es denn überhaupt sein, dass die Menschen den christlichen Glauben ‚haben‘?“ fragt Ottmar Fuchs und votiert für eine „Freigabe vom ‚Muss‘ des Glaubens“. Aus eigener Erfahrung berichtet der emeritierte Pastoraltheologe: „Wenn ich in den ersten Jahren meiner Kaplanszeit zu Versehgängen gerufen wurde, habe ich dies unter einem beträchtlichen psychischen Druck getan. Dahinter steckt (im Kopf schon abgelehnt, aber im Bauch festsitzend) die fast unausrottbare Angst, dass ohne den Versehgang der betreffende Mensch weniger Chancen zur ewigen Seligkeit hat. Ich habe einige Zeit gebraucht zu lernen, dass auch über diesbezügliches pastorales Handeln hinaus der Satz gilt: Gottes Liebe ist immer grösser! Und dass es ein wahnwitziger Gotteskomplex der Pastoral selber wäre, in solcher Form Gottes Handeln von menschlichem Handeln abhängig zu machen.“

Nein, „Gottes Heilsradius ist unendlich zu denken.“ Von daher plädiert Fuchs für „die auszubauende Möglichkeit zwischen den Konfessionen und Religionen, sich gegenseitig zum Schweigen, zur Anbetung, zum Gebet einzuladen und entsprechende Gottesdienste zu entwerfen, auch als Erfahrungsräume für die gemeinsame Freude an der Gratuität des Lebens. Dieser gemeinsame Vollzug der Doxologie, der Spiritualität, Gott grösser sein zu lassen auch als die eigenen Offenbarungen, auch als die eigene Sprachlosigkeit in der Erfahrung von Katastrophen, und deswegen sich gemeinsam auf diesen je grösseren Gott ausrichten zu können und zu dürfen, wäre die faszinierende Basis interkonfessioneller und interreligiöser Beziehung, die nicht sich, sondern Gott die Ehre gibt […] Die Doxologie ist keine Selbst- und Anderenunterwerfung, sondern der den Menschen stärkende Akt, Gott grösser sein zu lassen als die eigenen Grenzen, und des Vertrauens, dass sich dieses Grössersein für alle immer in der Dynamik unerschöpflicher Liebe ereignet.“

Die entscheidenden Fragen der Zukunft. Theologinnen und Theologen nehmen Stellung, Essays anlässlich 100 Jahren Matthias Grünewald Verlag, hrsg. v. Volker Sühs, Ostfildern 2018, 141 S.