Glaube und Kirche im Wandel

     

Unmöglich hier alle 16 Beiträge zu den vier Themenschwerpunkten: «Religionssoziologische Bestandsaufnahmen» – «Theologische Grundlegungen» – «Pastoraltheologische Impulse» – «Handlungsfelder und Lebenskontexte» zu referieren. Mehrere BeiträgerInnen stellen interessante Reflexionen an, was mit der «Glaubens- und Kirchenkrise» jeweils konkret gemeint ist, von der im Band durchweg die Rede ist, werden damit doch ganz unterschiedliche Phänomene benannt.

Überaus erhellend legt die Wiener Religionssoziologin Regina Polak dar: Der Glaube an Gott bewegt sich in Europa seit den 1980er Jahren auf konstantem Niveau. Zwei Drittel der Bevölkerung geben an, an Gott zu glauben. Von einer Glaubenskrise zu sprechen, erscheint von daher weit hergeholt.

Schaut man auf traditionell-kirchliche Praxisformen – also den regelmässigen Gottesdienstbesuch und das regelmässige persönliche Gebet – gewinnt man den Eindruck: Was zu Ende geht, ist nicht der Glaube an Gott, sondern dessen kirchlich-christliche Formatierung. Doch lässt sich aus den zahllosen Befragungen keinesfalls zwingend ableiten, dass die Befragten nicht mehr an den biblisch und kirchlich bezeugten Gott glauben. Es könnte auch sein, dass viele Menschen mit dem spezifisch christlichen Vokabular Vorstellungen verbinden, die ihren spirituellen Erfahrungen mit Gott und Auferstehung nicht mehr entsprechen – oder dass umgekehrt Befragte, die die theologisch korrekten Antworten geben, mit diesen Begriffen nicht-christliche Vorstellungen verbinden.

Verstärkte Aufmerksamkeit für Religiös-Spirituelles

Die Europäische Wertestudie, an der Regina Polak mitarbeitete, bezieht eine historische Perspektive ein und weist überzeugend nach, dass der Bruch junger Menschen mit einem kirchlich-formatierten Religionsverständnis weitaus früher einsetzte: der signifikante Bruch mit tradierten Religionsformen begann mit der Generation der nach 1948 Geborenen, die sich von allen tradierten Werten der Kriegsgeneration zu distanzieren begann. Die schwindende gesellschaftliche Akzeptanz der Kirche heute hätte dann einen wesentlichen Grund in einer fundamentalen Krise des Gottesglaubens in den Katastrophen des 20. Jahrhunderts und dem Versagen der Kirchen in dieser Zeit. Zugleich könnte die Geschichte der Krisen von Glaube und Kirche auch als Geschichte der Befreiung von bestimmten Formen von Religiosität gelesen werden, deren Ende theologisch gesehen sogar zu begrüssen wäre.

Völlig konträr zur Erosion kirchlich-formatierter Religiosität im ländlichen Raum bezeichneten sich seit 1990 in den urbanen Metropolen statistisch hochsignifikant mehr Europäerinnen als religiös. Im Gefolge des Terroranschlags auf das World Trade Center in New York am 11. September 2001 sowie des weltweit sichtbar werdenden Missbrauchs von Minderjährigen durch katholische Geistliche pendelte sich das religiöse Niveau dann wieder auf das der Untersuchungen von 1990 ein. Geblieben ist eine verstärkte Aufmerksamkeit für Religiös-Spirituelles. Neben der Politisierung von Religion nach 9/11 kann man in den letzten Jahren beobachten, wie eine neue christliche Identität zum Identity-Marker kultureller Zugehörigkeit im Dienst der Ab- und Ausgrenzung «Anderer» Bedeutung gewinnt. Entscheidend für die Zukunft des christlichen Glaubens im bunter werdenden Europa seien daher Erinnerung, Umkehr und Erneuerung der Tradition als inkarnierte Antwort auf die Zeichen der Zeit.

Von den praxisorientierten Beiträgen sehr lesenswert finde ich die Überlegungen von Thomas Frings («Der lange Abschied von der Volkskirche»), Birgit Jeggle-Merz («Krise des Gottesdienstes?»), Michael N. Ebertz («Gestalt und Bedeutung kirchlicher Erwachsenenbildung heute»), Sabine Pemsel-Maier («Religiöse Alphabetisierung, konfessionelle Kooperation, interreligiöses Lernen im RU») sowie Ralph Kunz («Auf dem Weg zu einer Kirche von Morgen. Nahe, vielfältig und profiliert»).

Abbrüche und Aufbrüche

Darüber hinaus hilfreich inspirierend sind drei Stichworte von Christian Hennecke und Elmar Salman. Erstes Stichwort: The same procedur as last year? Mit Verweis auf den bekannten Silvester-Sketch «Dinner for one» führt Christian Hennecke das Fehlen emotional gegründeter Zukunftsbilder an, die nach vorne führen. Insofern sich alles immer wieder um die Frage dreht, wie sich denn alle um die Gemeinde, um den Sonntagsgottesdienst und die damit verknüpften gemeindlichen Aktivitäten sammeln können, verengt sich der Blick. Ein Blick im Denkrahmen partizipativ-engagiert gedachter Gemeindekirche macht blind für neu entstehende Formen von Kirchenwirklichkeit. Zugehörigkeit gestaltet sich heute fluide wie auch die Kirche in Zukunft eher fluide ist, ist Hennecke überzeugt.

Aussichtsreicher sei es daher, das Monopol einer bestimmten und vertrauten Kirchengestalt zu verabschieden «zugunsten eines Netzwerks unterschiedlicher Werdeprozesse und Formen des Kircheseins». So entstehen kleine, provisorische wachsende und sterbende «fresh expressions of church», frische Ausdrucksformen des Kircheseins. «Gleichzeitig wandeln sich aber auch die gewachsenen Kirchenformen: denn auch sie haben einen wichtigen Platz im sich entfaltenden kirchlichen Universum.» Die wahrhaft katholische Weite dieser Entwicklung werde deutlich im Leitbegriff der «Mixed Economy of Church», den Rowan Williams, seinerzeit Erzbischof von Canterbury, prägte. «Es ging nicht und nie um Konkurrenz, sondern darum, wie das Evangelium wirklich allen relevant verkündet werden kann.» Leitend ist dabei für Christian Hennecke der programmatische Satz von Klaus Hemmerle: «Lass mich dich lernen, dein Denken Sprechen, dein Fühlen und Handeln, damit ich daran die Botschaft neu lernen kann, die ich dir auszurichten habe.»

Mit anderen Worten: «Es geht nicht darum, Menschen, die entkirchlicht sind, wieder einzubinden in eine bestehende kirchliche Form», es gehe vielmehr um «eine Kirche, die Gestalt gewinnen kann, weil und insofern Menschen sich einlassen in die Sendung Christi. Was aus dieser Leidenschaft wächst, kann nicht zuvor gewusst werden, es entwickelt sich im Werden und Wachsen der Beziehungen, die dann im Wachsen und Werden des Glaubens auch zu einem Wachsen und Werden sehr origineller Kirchengestalten vor Ort führen können (und nicht müssen).»

Umbrüche, Übergänge, Umgestaltung

Zweites Stichwort: «Mut zur Minorität», wie ihn Elmar Salmann stark macht – nämlich «im Wissen, dass das Christentum in Westeuropa mit bescheidener und markanter, einfühlender und einer doch ganz eigenen, um ihre Merkwürdigkeit wissenden Stimme zu sprechen hätte» –, solcher Mut schliesst nicht die Freude an volkskirchlichen Resten und Formen aus und bedeutet keineswegs den Rückzug auf den Status einer Sekte.

«Es ist im Gegenteil so, dass im Augenblick, wo die Kirche noch überzogene Ansprüche an sich selbst und die Gesellschaft hat, sie immer mehr eine Sprache spricht, die niemand versteht, also sektenhafte, hermetische Züge aufweist, obwohl (oder gerade weil) sie ihre Kontur verliert. Wie wäre es hingegen, wenn eine hochgemute und gelöste Freude an der sicher schweren Doppelrolle, am Übergang von Noch-Volkskirche und keimender Minderheitenkirche herrschte und man alles unternähme, der letzteren den Weg zu bereiten. Dann erlebte man das Jetzt nicht nur als Abbau, sondern als sehr lästige und doch auch gespannte und lockende Umgestaltung.»

Ein drittes Stichwort: gelassen-entschiedene Zeitgenossenschaft als gastfreie Aufmerksamkeit. Die Kirche werde «im Augenblick von schiefem Traditionalismus ebenso zerrieben wie von einer fast frenetischen Anpassungswut an das Gängig-Läufige», beobachtet Elmar Salman kritisch.

Seine weiterführende Perspektive? Im Wissen um die vielschichtigen Zeugnisse der grossen Tradition, ihren mannigfachen Stilformen, im Wissen, wie sehr das Christentum in Kunst, Musik, Architektur, Philosophie, in tausend Formen des Alltags Halt, ja, eine Quelle der Inspiration gewesen ist, «könnten wir uns in gastfreundlicher Gelöstheit dem ebenso vielfältigen Heute zuwenden, distanziert wägend, geneigt-kritisch kommentierend, aufnahmebereit, wenigstens auf Zeit es mit dem einen oder anderen Zug der Zeit zu wagen. Es braucht da eine Art erlittenen Humors, wenn man nur an die Wandlungen der Kirche in den letzten 40 Jahren denkt. Und wer hätte angesichts solcher Verluste und Befreiungen ein Urteil darüber parat, was nun richtig oder gar wahr wäre?»

Ursula Schumacher (Hrsg.), Abbrüche – Umbrüche – Aufbrüche. Gesellschaftlicher Wandel als Herausforderung für Glaube und Kirche, Aschendorff Verlag: Münster 2019.