Geht Religion auch ohne Theologie?

     

 

«Geht Religion auch ohne Theologie?» So lautet der Titel eines neuen Buches des renommierten Religionspädagogen Rudolf Englert. Der Titel provoziert zum Nachdenken. Und das ist gut so.

Denn in der Tat erleidet die Theologie in unseren Breitengraden derzeit einen enormen Relevanzverlust. Immer weniger junge Leute wollen Theologie studieren. Theologische Fakultäten bangen um ihre Zukunft. Buchhandlungen mit einer starken theologischen Abteilung gibt es nur noch wenige. Die Auflagenzahlen theologischer Publikationen schrumpfen massiv. Und war noch vor 10-15 Jahren der Anteil frei Interessierter in unseren theologischen Bildungsangeboten mindestens so gross wie der Anteil jener, die unsere Angebote beruflich nutzen wollten, so ist dieser Anteil freier Interessierter seither kontinuierlich und empfindlich zurückgegangen. –

 

Ein anderes Verständnis von Religion

Hat Theologie also ausgedient? Ist sie am Ende? Sicher ist: Gut geht es ihr nicht zurzeit, der Theologie. Aber steht sie damit allein? Was ist mit dem anderen Begriff in der Frage: der Religion? Geht es ihr besser? Mir will scheinen: nicht wirklich. Haben wir ein nicht allzu verwässertes Verständnis von Religion, in dem alle und jede Deutung der Welt als religiös gilt, sondern beziehen wir Religion und religiöse Lebenshaltung (oder auch das andere Wort: «Glauben») nur auf die Bindung an eine – wie auch immer verstandene – göttliche Kraft oder Gottheit, die das Leben letztlich prägt und begleitet, dann ist auch solche Haltung heute hierzulande gleichermassen in Mitleidenschaft gezogen und vom Rückgang betroffen. Nicht nur die Kirchen und Religionsgemeinschaften sind davon betroffen, sondern ebenso die religiöse Praxis selbst. Davon zeugen alle Studien, die zu Religion und Glauben in den letzten Jahrzehnten gemacht wurden.[1]

 

Gute Theologie ist Reflexion gelebter Religiosität

Vor diesem Hintergrund lässt sich der Rückgang des Interesses an Theologie erklären durch den Rückgang religiöser, gläubiger Lebenshaltung und Praxis. In letzterem liegt die Wurzel des Problems, nicht in der Theologie selbst. Denn was ist gute Theologie anderes als Reflexion gelebter Religiosität bzw. gelebten Glaubens? Wenn deshalb Religion bröckelt, bricht auch Theologie weg. Denn letztere ist nicht Selbstzweck. Es braucht sie «nur» zum Verstehen, Erklären und Reflektieren der religiösen, gläubigen Lebenshaltung. Ohne diese Lebenshaltung verliert sie ihren Bezugspunkt. Und umgekehrt: Wo Religion und Glaube gelebt werden, braucht es Theologie als Reflexion dieser Praxis; da wird sie nicht verschwinden. Die Titelfrage indes insinuiert, es liesse sich auseinanderdividieren, was zusammengehört. Elementare Beispiele können diese Zusammengehörigkeit veranschaulichen:

Ein religiöser, gottgläubiger Mensch erhält in der Lebensmitte unerwartet die Diagnose: Krebs, voraussichtlich unheilbar. Und schon sitzt er in einem Boot mit Hiob. Habe ich das verdient? Ist das gerecht? Warum gerade ich? Mein Gott, mein Gott, hast Du mich verlassen? Die Theodizeefragen drängen sich auf. Es sind Kernfragen der Theologie und zugleich existenzielle Fragen für einen religiösen Menschen.

Eine religiöse Frau wird Mutter. Sie erfährt das neue Leben ihres Kindes als Wunder. Eine tiefe Gotteserfahrung. Wie soll sie das nur ihren Verwandten erklären? Wie kann sie sich verständlich machen? Vernünftige, nachvollziehbare Worte sucht sie für ihre existenzielle Erfahrung. Was ist ein Wunder? Theologie ist gefragt.

Ein Kind ist erstmals mit dem Tod konfrontiert und fragt: Wo ist meine Oma jetzt? Die Religionslehrerin wird ohne Theologie – genauer: ohne eschatologischen Hintergrund – nicht antworten können. Hoffentlich tut sie dies theologisch sorgfältig und kompetent.

Ein Umweltaktivist engagiert sich mit aller Kraft für eine ökologische Lebensweise und für effiziente Massnahmen zum Klimaschutz. Seine Motivation holt er sich aus dem biblischen Schöpfungsglauben. Da er sich exponiert, wird er nicht nur von seinen politischen Gegnern angefeindet, sondern muss sich auch innerhalb seiner eigenen Glaubensgemeinschaft rechtfertigen. Da braucht er theologische Argumente.

 

Welche Theologie braucht Religion also?

Religion scheint ohne Theologie schlicht nicht zu gehen. Die drängenden Fragen lauten demnach viel eher:

  • Welche Theologie braucht die Religion? Rudolf Englert scheint in seinem Buch auch zu diesem Ergebnis zu kommen und bringt hierzu einige gute Impulse. (Doch das wäre ein eigenes Thema.)
  • Weshalb ist Religion dermassen auf dem Rückzug und offenbar unattraktiv geworden, so dass die Theologie mit ihr zusammen bachab geht?
  • Und geht sie das wirklich (bachab)? Oder befindet sie sich nicht eher in einem Emanzipationsprozess von institutioneller Bevormundung und in einer Phase der Transformation hin zu eigenverantwortlicher Gestaltung und Praxis?

 

Ist letzteres der Fall – und es gibt deutliche Anzeichen dafür, die auch Englert namhaft macht –, dann haben die Theologie und mit ihr die theologische Bildung weiterhin eine Chance und eine Zukunft. Allerdings nur, wenn sie sich als flexibel und hilfreich, lebensdienlich und befreiend erweisen – in Bezug auf die ganz unterschiedlichen Erfahrungen, Sorgen, Fragen und Biografien der Menschen von heute. Daran gilt es auch in Zukunft mit aller Kraft zu arbeiten.

Felix Senn

 

 

[1] Vgl. für die Schweiz bes. die drei Sonderfall-Studien (1989, 1999 und 2007-2011) und deren Auswertung: Alfred Dubach, Roland Campiche, Jede/r ein Sonderfall? Religion in der Schweiz, Zürich/Basel 1993; Roland Campiche, Die zwei Gesichter der Religion. Faszination und Entzauberung, Zürich 2004; Alfred Dubach, Brigitte Fuchs, Ein neues Modell von Religion. Zweite Sonderfallstudie – Herausforderungen für die Kirchen, Zürich 2005; Jörg Stolz, Judith Könemann u. a., Religion und Spiritualität in der Ich-Gesellschaft. Vier Gestalten des (Un-)Glaubens, Zürich 2012.