Gebildeter Glaube: ein Kerngeschäft der Kirchen und Religionen

     

 

Das Christentum als Bildungsreligion zu sehen: Diese These ist durchaus strittig. Christoph Gellner wirft einen Blick in das neue Buch von Thomas Söding, das ein Verständnis von Theologie stark macht, das den Bildungshunger nicht einfach sättigt, sondern allererst weckt und fortwährend vertieft.

„Das Christentum ist eines gewiss nicht: eine Religion nur für die Gebildeten. Aber es ist eine Religion, die auf Bildung setzt. Es setzt darauf, dass Menschen vom Glauben überzeugt werden […] Als Religion des Glaubens setzt das Christentum notwendig auf Bildung.“ Mit seinem jüngsten Buch „Das Christentum als Bildungsreligion“ (Herder: Freiburg i. Br. 2016) zielt Thomas Söding nicht nur in die Mitte des christlichen Selbstverständnisses und kirchlicher Bildungsarbeit. Zugleich mischt er sich ein in die politische Debatte um den Stellenwert von Religion im öffentlichen Bildungswesen. Schon Friedrich Schleiermacher strich gegen eine eindimensionale Aufklärung heraus, dass zur Bildung konstitutiv auch Religion gehöre und dass sie nur durch freiheitliche Selbstbildung gepflegt werden könne. Traditionell verstanden sich denn auch die Protestanten als Bildungskonfession. Söding macht dieses Grundanliegen überzeugend für das Urchristentum geltend, das nicht ohne das Judentum zu verstehen ist, das auf seine Weise eine Bildungsreligion ist. Heute sehen Religionssoziologen beide grosse Konfessionskirchen einem sog. Bildungsdilemma ausgesetzt: In einer durch Bildung geprägten Wissensgesellschaft wird eine lediglich traditionsbestimmte Religions- bzw. Kirchenmitgliedschaft fraglich. Zugleich scheint Bildung einer der Faktoren zu sein, die Kirchendistanz erzeugen. Je höher das Bildungsniveau, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit von Distanz und Kritik gegenüber den Kirchen. Wohlgemerkt: Kirchendistanz ist ein Effekt nicht allein von Bildung, aber Bildung gehört zu den distanzierenden Faktoren. So sind die Kirchen ebenso auf religiöse Bildung angewiesen wie sie sich durch Bildung herausgefordert sehen. In der Diskussion um die Gemeindekirche hat Monika Jakobs zu Recht heraus gestellt, dass die erhoffte Verlebendigung nur zum Teil eingelöst wurde, weil das Gemeinschaftsideal aktiver Partizipation und dauerhafter Beheimatung in der Pfarreifamilie gegenläufig zur gesellschaftlichen Loslösung von vorgegebenen Einbindungen die Menschen schlicht überforderte. Ein Teil der Distanzierung von Kirche sei aber „auch auf die nur spärlich angebotenen Entwicklungsmöglichkeiten über den Kinderglauben hinaus zu wachsen“ [1] zurückzuführen. Umso wichtiger ist eine lebensbegleitende Erwachsenenkatechese/-bildung für die persönliche, selbstbestimmte Aneignung der christlichen Glaubens- und Erfahrungstradition.

Bildung für alle – Bildung in allem

Als Neutestamentler weiss Söding, dass die alte These, das Urchristentum sei im Wesentlichen eine Unterschichtenreligion gewesen, nicht zutrifft. Nicht von ungefähr gilt Paulus als einer der führenden Intellektuellen seiner Zeit. Lukas schrieb als gebildeter Schriftsteller für bildungsaffine Adressaten, die wir heute in der Volkshochschule ansiedeln würden. Gewiss, „Bildungsfeindschaft gab und gibt es auch im Christentum; doch auf das Neue Testament kann sie sich nicht berufen.“ Macht doch das NT die Parole „Bildung für alle“ stark, der die Maxime „Bildung in allem“ entspricht. Von daher weist Söding auf blinde Flecken einer Bildungstheorie hin, die von Religion nichts wissen will und transzendente Bezüge aus dem Bildungsdiskurs ausblendet – sei es mit Berufung auf die Neutralität des demokratischen Staates oder der akademischen Wissenschaft, sei es mit der Anklage, die Kirche setzte auf die Unfreiheit der Menschen, ihre Bindung an ein Dogma, ihre Einpassung in ein rigides Moralsystem oder mit einem Desinteresse an Religion.

Der Glaube hängt nicht von der Intelligenz ab. Aber er gibt zu denken, sucht nach Einsicht und Verstehen. Glaube kann man nicht anerziehen, doch gerade weil er auf freie Zustimmung setzt, passt er zu einer Bildungsidee, die Selbstbildung in den Mittelpunkt stellt. Den deutschen Begriff Bildung, für den es kein englisches, französisches, spanisches oder italienisches Äquivalent gibt, hat übrigens Meister Eckhart geprägt. Als gebildet gilt dem mittelalterlichen Lese- und Lebensmeister, wer das richtige Vorbild gefunden hat und sich von ihm prägen lässt. Das beste Vorbild aber, so der christliche Mystiker, ist Jesus Christus, ist er doch das Ebenbild Gottes (2 Kor 4,4; Gen 1,26f.). Auch wenn dieser mittelalterliche Bildungsgedanke heute nicht einfach kopiert werden kann, ist Bildung, so Söding, „das Geschehen einer Freiheit, die sich beeindrucken lässt: Man wird nicht gebildet, wie Ton von einem Töpfer geformt wird, sondern bildet sich, wie ein Sportler seine Form findet.“ Geist und Leib, Herz und Verstand im Glauben aufzuschliessen, dafür ist kirchliche Bildungsarbeit notwendig, wobei Gläubige sich nicht nur für den Himmel, sondern auch für die Erde interessieren sollten, nicht nur für die Liturgie der Kirche, sondern auch für die Kulturen der Völker, ja, nicht nur für die Wahrheit des Evangeliums, sondern auch für das Wissen, das Ethos, die Religionen der Welt!

Kirchliche Bildungsarbeit

Wenn es Bildung um Kompetenz und Kenntnis geht, um den Mut, sich des eigenen Verstandes ohne Anleitung anderer zu bedienen, wie Söding mit dem aufklärerischen Pathos Immanuel Kants betont (wobei es freilich ebenso der Demut bedarf, sich von anderen belehren zu lassen), muss kirchliche Bildungsarbeit vor allem einen eigenen Zugang zur Ur-Kunde christlichen Glaubens eröffnen. Um aus der Bibel und mit ihr ein Leben im Glauben zu führen, sind Menschen zu befähigen, „kritisch die Bibel lesen zu können, nicht einer formalen Autorität hörig zu sein, sondern selbständig zu beurteilen, was Offenbarung sein soll, aber sich auch informieren, anleiten und motivieren zu lassen, nicht allein, sondern in der grossen Lesegemeinde der Bibel“. Bibelwissenschaft schade dem Glauben nicht, sie ermögliche vielmehr im Glauben zu reifen und sich neuen, tieferen Fragen zu öffnen. Instruktiv zeigt Söding auf, wie die neuere kanonische Exegese die Bibel als Medium religiöser Bildung erschliesst. Über mehr als die Hälfte des Buches buchstabiert der Neutestamentler den bildungsbezogenen „Impuls des Neuen Testaments“ (so der Untertitel) an der Didaktik Jesu, an den Gleichnissen und der Bergpredigt, am Johannesevangelium und an Paulus und seiner Schule konkret durch.

Dialog- und Pluralitätsfähigkeit

Was Söding zu Katechese, Neuevangelisierung und Mission heute ausführt, bedarf m.E. eines vertieften Austauschs mit den zuständigen Fachdisziplinen. Reichlich abstrakt bleibt die abschliessend skizzierte Theologie der Bildung, wobei Söding interessante Gesprächsansätze mit Vertretern der Philosophie und der Erziehungswissenschaft notiert. Zu Recht streicht das Mitglied der Internationalen Theologenkommission des Papstes heraus, dass das Zweite Vatikanische Konzil die Anknüpfungspunkte für den Dialog zwischen der Kirche und der Welt von heute akzentuierte. Deswegen könne es keine Neuevangelisierung geben, ohne dass die Fragen, die Menschen heute haben, gehört werden, auch die kirchen- und glaubenskritischen. Evangeliumsverkündigung vollzieht sich als Gespräch und verlangt Dialogfähigkeit, sonst bleibt das Evangelium für die heutigen Zeitgenossen eine Fremdsprache! Daher muss sie sich illusionslos auf die Bedingungen einer offenen Gesellschaft der reflexiven Moderne einlassen, in der Ansprüche nicht mehr durch Tradition, sondern nur durch Argumentation eingelöst werden können, durch Vorbildlichkeit und glaubwürdige Praxis. Zugleich sind im Pluralismus der Gegenwart alle Religionen herausgefordert, ihr Verhältnis zur Bildung zu klären, zur Freiheit der Kritik und zur Selbstverwirklichung des Menschen. Das Verhältnis von Religion und Vernunft bzw. zur Moderne ist dabei ein entscheidender Faktor für die Pluralitätsfähigkeit. Jede Religion steht gewissermassen auf dem Prüfstand, ob und wie sie bildungsfähig, bildungsfreundlich, bildungsförderlich ist. „In Zeiten der Globalisierung, des religiös motivierten Terrorismus und der grassierenden Säkularisierung müssen die Religionen auf Bildung setzen, wenn sie ihre zivilisatorischen Kräfte bündeln wollen.“ Religion ohne Bildung ist gefährlich.

[1]Monika Jakobs: Der Traum von Gemeinde in der Gemeindekatechese. Hoffnungen, Aufbrüche, Enttäuschungen und Perspektiven eines aus der Mode gekommenen Begriffs, in: Damit sie das Leben haben. FS für Walter Kirchschläger zum 60. Geburtstag, hrsg. v. Ruth Scoralick, Zürich 2007, 111–129, Zitat 126. Leitsatz 6 des „Leitbilds Katechese im Kulturwandel“ (2009) fordert daher: „In Zukunft sind besonders für Erwachsene entsprechende Angebote aufzubauen.“