Ethische Bildung – ein Einwurf

     

2019 war im Bereich Theologische Grundbildung fast so etwas wie ein «Jahr der Ethik». Neue Materialien wurden erarbeitet: ein neuer Lehrbrief für das dritte Trimester im Kurs «Gott und Welt verstehen» (Was sollen wir tun? Bausteine theologischer Ethik); der letzte Band in der Buchreihe «Studiengang Theologie», welcher der Theologischen Ethik gewidmet ist (Handeln in einer mehrdeutigen Welt. Theologische Ethik) und im Frühjahr 2020 erscheinen wird. Und zurzeit werden die methodisch-didaktischen Unterlagen für die Kursleitung zum neuen Ethik-Lehrbrief in «Gott und Welt verstehen» erarbeitet. Die ethischen Fachleute, mit denen wir aktuell zusammenarbeiten und die als Autoren mitwirkten, waren gefordert wie noch nie: Ulrich Feger, Alberto Bondolfi, Thomas Wallimann. Aber auch die Kursleitenden, die im Frühjahr 2019 den neuen Lehrbrief im 3. Trimester erprobt haben, haben wichtige Beiträge geleistet: Monika Bieri und Beat Senn.

 

Dabei ist in der Ethik vieles im Fluss. In keiner anderen Disziplin sind die Themen so schnelllebig und abhängig vom gesellschaftlichen Diskurs. Klar gibt es auch hier Konstanten und Dauerbrenner: das biblische Menschenbild, Freiheit und Wahrhaftigkeit, Tugenden, Gewissen, Schuld und Sünde zum Beispiel oder generell Werte und Normen respektvollen Umgangs untereinander und gelingenden Zusammenlebens. Im Fluss sind «nur» die Konkretisierungen. Aber diese umso mehr. Sie werden von der aktuellen Agenda diktiert: medizinethische Themen am Anfang (Zeugung im Reagenzglas, Schwangerschaftsabbruch) und gegen Ende des Lebens (Sterbehilfe, Organspende), Herausforderungen der Gentechnologie, des Klonens, der Robotik, der Digitalisierung der Lebenswelt, wirtschaftlicher Gerechtigkeit und ökologischer Nachhaltigkeit; näherhin politische Aktualitäten wie Migration, Konzernverantwortung, Tierethik oder Klimawandel und innerkirchliche Herausforderungen wie der Missbrauchsskandal oder Genderfragen und Geschlechtergerechtigkeit. Der Themen sind Legion.

 

Die Aufgabe ethischer Bildung besteht vorwiegend darin, ethische Kriterien und Argumentationshilfen zu vermitteln und an konkreten Beispielen zu erproben. Die ethische Grundbildung soll dazu befähigen, möglichst kompetent ethisch urteilen zu lernen, um das eigene Leben und Handeln zu überprüfen und wo nötig neu auszurichten und um im öffentlichen Diskurs mit guten Gründen für eine bestimmte Handlungsweise einzustehen. Dabei spielt auch die Reflexion von Haltungsveränderungen und Tugenden eine wichtige Rolle.

 

Gegen die Ethik bzw. die Ethisierung des Glaubens wird von gläubiger Seite bisweilen argwöhnisch eingeworfen: Beim Christentum und der biblischen Botschaft handle es sich nicht um eine Ethik, sondern um Glauben. Einverstanden. Und dem Glauben seien Beten, liturgisches Feiern und Spiritualität angemessener. Einverstanden. Nur, um Himmels willen: Wem dient denn der Glaube oder wozu befähigt er, wenn nicht zu einer ethischen Lebensweise!? Wem dienen denn Beten, Liturgie und Spiritualität, wenn nicht einem ethischen Verhalten und einem sozialverträglichen Zusammenleben!? Das Beste, was die Bibel uns überliefert – die Tora und die zehn Weisungen, die grossen Erzählstränge und die grossartigen Ursprungsmythen, die Propheten und Jesus, die goldene Regel und die Feindesliebe, die Apokalyptik und Jesu Reich-Gottes-Botschaft, selbst die Gebete, die Psalmen, die Spiritualität und das Brotbrechen – alles steht im Dienst einer ethischen Lebensweise, alles ermutigt zu einem ethisch verträglichen Leben und Zusammenleben. Und wozu wäre der Glaube nütze, wenn nicht dazu?

 

Ein Ethik-Bashing im Kontext des Glaubens ist definitiv deplatziert. Und wenn wir auf die Problemzonen unseres Zusammenlebens und unserer Zukunft schauen und feststellen müssen, wie sorglos wir in wirtschaftlichen Prozessen und politischen Abstimmungen oft Eigeninteressen den Vorzug geben gegenüber ethischem, sozialverträglichem und nachhaltigem Verhalten, dann wird offensichtlich, wie bitter nötig ethische Grundbildung ist.

 

«Ethik steht auf dem Spiel.» So lautet ein Kursangebot des TBI im Rahmen von Theologie 60plus. Der Titel ist programmatisch. Aber hintergründiger liesse sich verschärfen: Ohne Ethik steht der christliche Glaube insgesamt auf dem Spiel. Oder um es mit George Clooney zu formulieren: Ethics – what else!? Aber falls dieser so etwas tatsächlich gesagt hätte, wäre er vorsichtiger in der Auswahl seiner Werbesujets. In Zeiten von Greta Thunberg zumal.

 

Besinnliche Adventstage wünscht

Felix Senn