Das Wagnis der Verwundbarkeit

     

In diesen Tagen habe ich das kleine Buch von Hildegund Keul[1] wieder in die Hand genommen. Gerade in der dritten Auflage erschienen, ist seine Aktualität ungebrochen angesichts der grossen gesellschaftspolitischen Themen wie Migration und Flucht oder auch Alterssicherung und öffentlicher Sicherheit. „Weihnachten – Das Wagnis der Verwundbarkeit“ ist ein besonderes Weihnachtsbuch.

 

Die Personen und Personengruppen sowie ihre Beziehungen untereinander werden mittels der Kategorie der menschlichen Verwundbarkeit und unter dem Gesichtspunkt ihrer jeweiligen gesellschaftlichen Position betrachtet. Keul interpretiert deren Handeln einerseits historisch im Kontext der jüdisch-römischen Herrschaftsstrukturen, anderseits nimmt sie den kulturunabhängigen Bedingungszusammenhang einer Geburtssituation in den Blick. Sie stellt Verbindungen her zwischen der spezifischen Situation des Geschehens rund um Jesu Geburt und den menschheitsgeschichtlichen Grundthemen in den biblischen Weihnachtsgeschichten. Neben dem neugeborenen Kind mit seiner spezifischen Verletzlichkeit und seiner Mutter (Maria) spielen der soziale Vater (Josef), die Herbergseltern, die jüdischen Priester und Schriftgelehrten, die Hirtinnen und Hirten, die Sterndeuter, der Machthaber Herodes und die auf seinen Befehl hin Kinder tötenden Soldaten eine Rolle. Keul untersucht die unterschiedlichen Haltungen der biblischen Figuren und Gesellschaftspositionen zum Neuanfang der Geburt, zur Angewiesenheit und zur Verletzlichkeit des Kindes und seiner Bezugspersonen. Keul stellt dar, wie diese Personen jeweils die eigene Verwundbarkeit schützen und wie sie Verantwortung übernehmen angesichts menschlicher Verwundbarkeit.

Die Geburt des Kindes ist ein unverfügbarer Neuanfang eines angewiesenen und verwundbaren Menschen inmitten der Geschehnisse der vorhandenen Welt. Durch die Geburt des (göttlichen) Kindes werden Machtverhältnisse prinzipiell infrage gestellt. Wie reagieren also ein selbst gefährdeter Machthaber und Gewaltpotentat (Herodes) und wie eine zwar etablierte aber zugleich gefährdete religiöse Behörde, weil sie bloss religiöse Macht hat (die jüdischen Hohepriester) darauf? Wie agieren die Träger des besonderen Wissens (die Sterndeuter), wie verhalten sich die Repräsentanten der gesellschaftlich am Rande Stehenden (die Hirten)? Es geht um die menschlichen Haltungen gegenüber den komplexen Herausforderungen von Geburt, menschlicher Verwundbarkeit und etablierter Weltlichkeit. Die Weihnachtsgeschichten fordern eine menschliche Haltung in der Spannung zwischen Schutz des Eigenen und Hingabe. Hingabe sei zwar ein Wort mit Tücken, aber: „Die Verwundbarkeit des Lebens erfordert Menschen und Gemeinschaften, die sich in der Liebe verletzlich machen. Die Inkarnation macht deutlich, dass Gott eine Schwäche für die Menschen hat. Dasselbe kann man heute von der Kirche erwarten“, schreibt Keul an anderer Stelle[2].

 

Auch die Flucht der biblischen (heiligen) Familie begreift Keul in ihrer universellen Bedeutsamkeit. Dabei geraten für sie heutige Migrationssituationen als Folge weltweiter politischer Verhältnisse von Verwundbarkeit und Angewiesenheit in den Blick. Es gehe nicht darum, den berechtigten Schutz vor eigener Verwundung zu bestreiten. Politische Parteien, Versicherungen sowie Demonstrationen angesichts von Gefährdungen der persönlichen und öffentlichen Sicherheit seien ein Zeichen dafür, dass es notwendig sein kann, sich selbst vor Verwundung zu schützen. Denn es muss Abschied genommen werden von der Utopie der eigenen Unverwundbarkeit. Aber es stellt sich die Frage: Wo ist es um der Humanität willen notwendig, die eigene Verwundbarkeit zu riskieren, um gefährdetes Leben zu schützen? „Der christlichen Theologie ist der Gedanke vertraut, freiwillig eigene Verwundbarkeit zu riskieren. Sie vertritt den Glauben an einen Gott, der als Kind zur Welt kommt und sich der Verwundbarkeit menschlichen Lebens aussetzt. Christliche Berufung bedeutet, sich selbst für den Weg der Inkarnation zu entscheiden. Dabei geht es nicht darum, Leiden zu glorifizieren. (…) Vielmehr gibt es eine Andersmacht, die dem entgegenwirkt und aus Verwundbarkeit Resilienz entstehen lässt. (…) Gerade die Zerbrechlichkeit des Lebens erfordert Menschen, die sich in Liebe, Zuneigung und Barmherzigkeit verletzlich machen. Sie gehen gestärkt aus diesem Wagnis hervor. Aus Schwachheit wird Stärke, aus dem Wagnis der Verwundbarkeit wächst Resilienz.“[3]

 

Inkarnation zeigt sich als gewagte Hingabe, die sich in der Verletzlichkeit menschlichen Lebens vollzieht. „So stellt sich die Frage, ob dieser Weg der Inkarnation auch für Inklusionsprozesse gilt, wo Menschen aus der Utopie der Unverwundbarkeit ins Wagnis der Verletzlichkeit geführt werden. Ist es etwas Schlechtes, wenn Inklusion bedeutet, sich den menschlichen Schwächen auszusetzen, angreifbar und verletzlich zu werden?“[4]. Auch die Migrationsdebatten zeigten, „dass das Wagnis der Verwundbarkeit nicht automatisch zu einer Schwächung führt“[5]. „Der Vulnerabilitätsdiskurs fordert zu einer Inkarnationstheologie heraus, die säkulare Problemlagen der Vulnerabilität aus christli­cher Perspektive erschliesst“ [6], schreibt Keul in einem Beitrag zum Themenheft „Verwundbarkeit“ der Hermeneutischen Blätter. „Die Besonderheit liegt darin, dass das Christentum der Inkarnation, also dem Weg in die Verwundbarkeit hinein, Heilsbedeutung zuspricht. Dies widerspricht einem grossen Teil der Vulnerabilitätsforschung, wo ein binärer Code von »vul­nerabel, unsicher, gefährdet, schwach, angreifbar« versus »resilient, sicher, stark, belastbar, geschützt« herrscht“. So betrieben beispielsweise die Ingenieur- und Naturwissenschaften die Vulnerabilitätsforschung als Schwachstellenanalyse. Widerspruch gegenüber dem binären Code komme hingegen nur vereinzelt aus der Psychologie sowie der Politikwissen­schaft. Theologisch brauche es einen Ansatz, der auch die kreativen, resilienzfördernden Machtwirkungen von Vulnerabilität analysierbar mache. Dies sei im Blick auf die aktuellen Debatten um Migration, Flucht und religionspolitische Gewalt besonders relevant[7].

 

Die christli­che Theologie ist nach Keul herausgefordert, eigene Perspektiven in säkulare Problemlagen der Vulnerabilität einzubringen. Damit mache sie sich auch angreifbar. Denn sie könne keinen Bestätigungsdiskurs mehr verfolgen, sondern müsse auch in dem befragbar sein, „was sie nicht sagen kann“. Wenn sich christliche Theologie dem tatsächlich aussetze, könne sie neue Gesellschaftsrelevanz erlangen. Seit 2010 arbeitet die Theologin und Religionswissenschaftlerin Hildegund Keul daran, den Vulnerabilitätsdiskurs und die Theologie miteinander zu verbinden. Dabei interessieren sie vor allem die Macht der Verwundbarkeit in Migrationsdebatten, angesichts religionspolitischer Gewalt und in der Bekämpfung von Armut. Auf ihrer Website schreibt sie unter der Überschrift „Warum ich die Vulnerabilität erforsche“: „Die menschliche Verwundbarkeit übt im persönlichen und politischen, sozialen und kulturellen, und nicht zuletzt im religiösen Leben eine unerhörte Macht aus. Zugleich gehören Verwundungen, Gewalt und Leid zu den Kernthemen christlicher Theologie“[8]. Vor diesem Hintergrund ist wohl auch das besondere Weihnachtsbuch entstanden.

Dorothee Foitzik

 

 

[1] Hildegund Keul: Weihnachten. Das Wagnis der Verwundbarkeit, Ostfildern (Patmos) 3. Auflage 2017

[2] Hildegund Keul und Pierre-Carl Link: Inklusion, Inkarnation und Anerkennung – mehr Mut zur Verletzlichkeit, in: Pierre-Carl Link/Roland Stein (Hg.): Schulische Inklusion und Übergänge (Frank & Timme Verlag für wissenschaftliche Literatur) Berlin 2017, 133 – 157

[3] Keul, Resilienz aus Verwundbarkeit. Der Vulnerabilitätsdiskurs als Chance für eine gesellschaftsrelevante Theologie, in: Hermeneutische Blätter 1.2017 „Verwundbarkeit“, Institut für Hermeneutik & Religionsphilosophie, Theologische Fakultät Universität Zürich, 119f.

[4] Keul, Inklusion, Inkarnation und Anerkennung: 150

[5] Keul, Inklusion: 151

[6] Hildegund Keul: Resilienz aus Verwundbarkeit: 116

[7] Keul, Resilienz aus Verwundbarkeit: 116

[8] http://xn--vulnerabilittsdiskurs-h2b.de/