Bildung braucht Religion

     

„Bildung braucht Religion“ –  So überschrieb jüngst der Erziehungswissenschaftler und Sozialethiker Axel Bernd Kunze einen Artikel in „Christ in der Gegenwart“ (CiG Nr. 41/2017, 453f). Über diese Behauptung bin ich nicht zuletzt deshalb gestolpert, weil sie unerwartet ist. Viel geläufiger ist uns theologischen Bildungsfachleuten doch die umgekehrte These: Religion braucht Bildung. Schliesslich sollen wir unseren Glauben verstehen, damit wir argumentativ Rechenschaft über ihn geben und ihn kommunikativ weitervermitteln können.

 

Aber „Bildung braucht Religion“?

Diese These ist gewöhnungsbedürftiger und macht gerade dadurch neugierig. Sie behauptet nämlich, dass zu einer guten und seriösen Bildung auf jeden Fall auch Religion und religiöse Bildung gehören. Wie begründet Kunze das? Die Religion bringe u. a. den Transzendenzbezug ins Spiel, und damit eine Ausrichtung, die vor totalitären Tendenzen bewahre: „wider eine Selbstüberschätzung des Menschen, wider einen Staat, der sich absolut setzt, wider jene Form des Materialismus, der den Menschen nur mehr als Funktionär der sozialen Verhältnisse betrachtet…“ Dieser Letztbezug, der in Deutschland (und in der Schweiz) in der Verfassung steht, habe „eine ungeheuer wichtige pädagogische Bedeutung für die Bildung der sittlichen Person“. Und der Autor ist überzeugt: „Schwinden Erlösungsglaube und Glaubenspraxis in unserem Land, wird auf Dauer auch das Wertefundament unserer Verfassungs- und Gesellschaftsordnung brüchig werden.“ Deshalb plädiert er „für einen starken Religionsunterricht in den Schulen und für religiöse Wertebildung in den Kindertageseinrichtungen“.

Soweit, so gut. Ich kann diesem engagierten Plädoyer im Grunde nur zustimmen. Dennoch treibt mich eine Frage weiterhin um: Was genau ist es denn, das die Religion, die christliche zumal, zu einer umfassenden und gelingenden Bildung beitragen kann. Im öffentlichen Raum von Staat und Gesellschaft kann es sich ja kaum um das christliche Glaubensbekenntnis und die Vermittlung christlicher Glaubensinhalte handeln. Eine derartige Verchristlichung ist nicht nur nicht mehr möglich, sondern auch keinesfalls erstrebenswert, denn sie wäre in einer offenen, multikulturellen und multireligiösen Gesellschaft ganz offenkundig ein Rückschritt. Was also ist mit Stichworten wie Erlösungsglaube, Glaubenspraxis oder religiöser Wertebildung näherhin gemeint? – Mir kommt einige Wochen später erneut ein Artikel aus „Christ in der Gegenwart“ (CiG Nr. 44/2017, 483-487) zu Hilfe. Im Anschluss an Luthers Thesen vor 500 Jahren macht sich die CiG-Redaktion Gedanken über die Frage, wie sich der christliche Glaube derart erneuern kann, dass er die Menschen von heute wieder besser erreicht. Sie formuliert dazu neun Thesen. Die mittlere lautet schlicht: „Christsein ist politisch.“ Und in welchem Sinne das Politische gemeint ist, wird inhaltlich präzisiert: Es geht um die Option für die Armen, darum, die Stimme zu erheben für die Schwachen und einzutreten für eine solidarische Gesellschaft. In der Tat befinden wir uns mit dieser sozialpolitischen Ausrichtung im Zentrum der Reich-Gottes-Botschaft und -Praxis Jesu. Und zurecht macht die CiG-Redaktion auf den spezifisch religiösen Mehrwert dieser Ausrichtung aufmerksam: „In einer Welt des Massenelends und unerträglicher Gewalt bleibt die soziale Frage eine zutiefst religiöse Frage. Im Antlitz Christi scheint das Antlitz der Verdammten dieser Erde auf… Was die Menschen – ob gläubig, andersgläubig oder nichtgläubig – den Geringsten getan haben, das haben sie Christus getan.“

 

In diesem grundlegenden Sinne gehört Religion in der Tat notwendig zu einer umfassenden menschlichen Bildung. Denn angesichts der heutigen Sparmassnahmen im Bildungssektor und angesichts der Erfordernisse der späteren Berufswelt konzentriert sich die schulische und berufliche Ausbildung immer mehr auf jene Leistungsfächer und jene Kompetenzen, die später in der Wirtschaft und im Beruf besonders gefragt sind. Das Bestehen-Können in einer wirtschaftlichen Leistungs- und Konkurrenzgesellschaft ist ein wesentliches Ziel jeder Schul- und Berufsbildung. Und wer hätte dafür kein Verständnis? Schliesslich sollen die jungen Leute vorbereitet sein auf das, was sie erwartet, und sie sollen nicht überrollt werden vom harten Druck der Arbeitswelt. Und später – in der beruflichen Weiterbildung – geht es entsprechend oft um Effizienzsteigerung, um Erweiterung der Kernkompetenzen oder z. B. um Updates in Bezug auf die neuen Kommunikationstechnologien, denn schliesslich müssen die Betriebe konkurrenzfähig bleiben; und das geht nur, wenn die eigenen Mitarbeitenden stets auf dem neuesten Stand sind oder den andern – wenn immer möglich – sogar einen Schritt voraus.

 

In einer Gesellschaft, in der die Konkurrenz und die Effizienz immer mehr ins Zentrum der Bildung rücken, braucht es dringend eine Instanz, die andere Werte hochhält und verteidigt. Und wer, wenn nicht die Religion, setzt sich ein für soziale Werte, für Solidarität und den inneren Zusammenhalt der Gesellschaft? Wer, wenn nicht die Religion, sagt noch, dass Leben ein Geschenk ist, dass wir alle erlösungsbedürftig sind, dass wir unvollkommen sind und schuldig und dennoch als Menschen angenommen bleiben und dass wir deshalb gegenüber uns selber gnädig sein dürfen? Wer, wenn nicht die Religion, sensibilisiert uns noch für die Armen und Randständigen, für die Sorgen und Nöte derjenigen, die durch das Netz unserer Leistungsgesellschaft gefallen sind?

 

Vor diesem Hintergrund kann ich der These voll und ganz zustimmen: Bildung braucht Religion. Unbedingt. Ohne Religion in diesem grundlegenden Sinne fehlt der menschlichen Bildung etwas ganz Wesentliches. Um mit Axel Bernd Kunze zu schliessen: „Wer Religion nicht mehr versteht … wird weltanschaulich leichter orientierungslos und manipulierbar.“

Felix Senn