Abschied von der religionslosen Moderne

     

Auch wenn Max Webers (1864–1920) wirkungsmächtiges Narrativ der fortschreitenden Säkularisierung aller Verhältnisse im Zentrum des neuen Buchs von Hans Joas (*1948) steht, handelt es sich um keine Spezialstudie zum Oeuvre dieses Meisterdenkers. „Die Macht des Heiligen“ ist vielmehr der Versuch, Webers einflussreiche, aber auch zutiefst problematische Entzauberungsthese, in der nicht wenige die Summe seiner Modernedeutung sehen, kritisch zu entzaubern. Spielen bei Weber und anderen Vertretern der Geschichte von der Entzauberung (anti-) religiöse Motive eine wichtige Rolle? Ja, können Narrative solcher Grössenordnung einfach von den Tatsachen abgelesen und an diesen eindeutig bestätigt oder widerlegt werden?

 

Joas zielt damit auf nichts weniger als eine Infragestellung des gängigen Selbstverständnisses der Moderne: „In unerhört suggestiver Weise hat Weber im Narrativ der Entzauberung Geschehnisse miteinander verknüpft, die von den Propheten des Alten Testaments über die Reformation und die Aufklärung bis zur tiefen Sinnkrise Europas im sogenannten Fin de siècle und am Vorabend des Ersten Weltkriegs reichen. Deckt man die begriffliche Uneindeutigkeit allerdings auf, zerfällt auch dieses Narrativ und verliert es seine Suggestionskraft.“ (207)

Dabei leugnet Joas in keiner Weise die Phänomene von Säkularisierung, vielmehr stellt er der Behauptung eines unvermeidlichen Verschwindens aller Religion ein alternatives Verständnis der Religionsentwicklung entgegen, das durchaus Zukunftsmöglichkeiten des Christentums sowie anderer Religionen enthält. Nichtglaubende können ihren Abstand von aller Religion nicht länger als avantgardistischen Schritt in eine religionslose Zukunft, auf die die Menschheitsgeschichte von sich aus hinstrebe, interpretieren.

 

Ursprünglich als Vorlesung im Rahmen der ersten Gastprofessur der Joseph Ratzinger Papst Benedikt-XVI-Stiftung an der Theologischen Fakultät der Universität Regensburg gehalten, bündelt das konzis argumentierende, gut lesbare Alterswerk zentrale Einsichten verschiedener früherer Publikationen von Hans Joas. Schon „Glaube als Option. Zukunftsmöglichkeiten des Christentums (2012) beschäftigte sich mit einer Kritik der Säkularisierungstheorie und den Konsequenzen für unser Verständnis von Moderne und Modernisierung. Bereits Joas‘ Buch „Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte“ (2011) rückte im Gegenzug die seit dem späten 18. Jahrhundert an Stärke gewinnende Sakralisierung in den Fokus – die der Person, die zur Institutionalisierung des Werts universaler Menschenwürde bis hin zur Religionsfreiheit führte.

 

Als dritten Diskurs macht Joas nun neuere Forschungen zur sog. Achsenzeit fruchtbar. Der Begriff stammt von Karl Jaspers und meint die historische Transformation des Sakralen, die sich zeitgleich in den Upanishaden, im Buddhismus und Jainismus in Indien beobachten lässt wie bei den jüdischen Propheten, in der griechischen Philosophie oder im Konfuzianismus, Daoismus und Mohismus in China. Durch diese Reflexivierung des Heiligen entstand ein Verständnis von Transzendenz im Sinne einer tiefen Kluft gegenüber allem Irdischen, was eine tiefgreifende Desakralisierung der Strukturen politischer Macht und sozialer Ungleichheit bedeutete. In der Sakralisierung der Person sieht Joas den zweiten grossen historischen Schub einer Entsakralisierung von Staat, Herrscher, Nation oder Gemeinschaft. Sie erfordere jedoch keine Säkularisierung im Sinne eines Verzichts auf die Vorstellung von Gott als dem Quell aller Heiligkeit. Darin kann vielmehr gerade ein Gegengewicht gegen die Sakralisierung irdischer politischer Macht liegen.

 

Zu Recht spricht Joas von einer heute veränderten intellektuellen Lage in Sachen Religion und äussert sich ganz praktisch zur Frage nach einer angemessenen Sprache für den Glauben – angemessen im Licht der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Religion. Mit David Hume und Herder, William James und Emile Durkheim, Ernst Troeltsch, Shmuel N. Eisenstadt und Robert N. Bellah u.a. führt Joas in seiner Synthese von Religionsphilosophie und -historie, -psychologie und -soziologie zahlreiche Gewährsleute auf. So zeichnet er ein anderes Bild des Verhältnisses von Religion und Moderne als Max Weber, der Religion im Kern mit Magie kurzschliesst. Dieser fatalen Gleichsetzung verdankt letztlich Webers Entzauberungsnarrativ seine magisch-suggestive Wirkung: entzaubert kann nur werden, was verzaubert ist. Doch nicht ein definitiver Bruch mit der Magie, sondern die immer neue Durchsetzung eines anspruchsvolleren Verständnisses der Heiligkeit Gottes ist das Ziel der biblischen Propheten. Von daher ist auch Webers Bild der Reformation und des Protestantismus zu revidieren.

 

„Die Macht des Heiligen“ ist in der Tat „ein Buch von imponierender Klarheit“ (DIE ZEIT): Relevant für religiös-theologische Bildungsarbeit ist es vor allem durch Joas‘ Bemühen, wie Religion postsäkular, also jenseits des säkularistischen Paradigmas zu denken ist. Joas macht dafür die anthropologische Universalität der Erfahrungen der ‚Selbsttranszendenz‘ und der sich daraus ergebenden Zuschreibungen von ‚Heiligkeit‘ stark. Leitfaden seiner Alternative zur Geschichte von der Entzauberung ist das Wechselspiel von vielfältigen Prozessen der Sakralisierung mit vielfältigen Prozessen der Machtbildung – ein Bild der Religionsgeschichte also, das sowohl dem machtkritischen wie dem machtstützenden Potential der Religionen gerecht wird. Die Macht des Heiligen zeigt sich bei der Rechtfertigung wie bei der Infragestellung politischer und sozialer Macht. Entzauberung kann jederzeit in Wiederverzauberung umschlagen. So können aus allen (nach-) achsenzeitlichen Traditionen Formen des religiösen Fundamentalismus oder des Nationalismus hervorgehen, aber auch Formen des Widerstands gegen diese. Religionen können sowohl Hindernis wie Treibmittel kollektiver Selbstsakralisierung sein.

 

Neben der Verabschiedung des Entzauberungs- und Säkularisierungsnarrativs müssen wir uns auch von der Vorstellung fortschreitender funktionaler Differenzierung als eines master trends der Geschichte befreien. Als ausdrücklich „religiöse Pointe“ seiner Ausführungen stellt Joas denn auch heraus: „Die Vorstellung von der Religion als Wertsphäre einer Gesellschaft, gleichrangig mit allen anderen, oder als ein Funktionssystem, in Analogie zu allen anderen, ist ihrerseits säkularistisch. Religion hat Spezifika, aber diese liegen nicht in einer kulturellen Spezialisierung aufs Religiöse. Ihr Verhältnis zur Kultur insgesamt ist nicht das einer Kultursphäre zur anderen. Gläubige und ihre sozialen Organisationen erheben Ansprüche auf die Gestaltung aller Kultursphären und Funktionssysteme, wenn sie ihren Glauben ernst nehmen. Dies ist kein Plädoyer für religiösen Fundamentalismus oder Integralismus, da es unbestreitbar eine religiöse Lerngeschichte des Respekts vor anderen Wertsystemen und Glaubensformen sowie der Einsicht in die jeweils spezifische Funktionslogik von gesellschaftlichen ‘Teilsystemen‘ oder kulturellen ‚Wertsphären‘ gibt. Aber das Pathos universalistischer Religion und übrigens auch universalistischen säkularen Denkens fügt sich nicht ein in das Weltbild eines fortschreitenden Prozesses funktionaler Differenzierung. Ausmass, Grad und Richtung dieses Prozesses sind selbst an den Idealen der Lebensführung und Weltgestaltung, religiösen und säkularen, zu messen.“ (416f.)

 

Hans Joas: Die Macht des Heiligen. Eine Alternative zur Geschichte der Entzauberung, Suhrkamp: Berlin 2017, ISBN: 978-3-518-58703-4